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BVerfG zum Willkürverbot bei Nichtzulassung der Berufung

Dr. Frank O. Fischer  Dr. Frank O. Fischer
Richter am Amtsgericht

Für den Anwalt und erst Recht für die Partei ist folgende Situation immer eine sehr ärgerlich: Es gibt eine feststehende Rechtsprechung des Berufungsgerichts zu einer im Prozess entscheidungserheblichen Rechtsfrage, die der entscheidende Richter am Amtsgericht jedoch für falsch hält. Dabei geht es beispielsweise um die Höhe der erstattungsfähigen Inkassokosten oder um Fragen zu Details der Schadensabrechnung (z.B. zu der Problematik, ob bei fiktiver Schadensabrechnung im Rahmen eines Verkehrsunfalls die Verbringungskosten erstattungsfähig sind oder eben nicht).

Offenbar gehen einige Richter an den Amtsgerichten davon aus, dass die Durchsetzung von nach Auffassung des Richters falschen Rechtsansichten, mögen sie auch der Sichtweise des zuständigen Berufungsgerichts entsprechen, kein Grund dafür ist, die Berufung zuzulassen. Diese Ansicht ist allerdings so nicht richtig. Gemäß § 511 Abs. 4 ZPO lässt das Gericht des ersten Rechtszuges die Berufung u.a. zu (d. h.: Es muss sie zulassen!), wenn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung durch das Berufungsgericht erfordert. Nach ständiger Rechtsprechung, die auch durch die Gesetzesmaterialien gedeckt wird, sollte mit dieser Formulierung auch erreicht werden, dass unterschiedliche Rechtsprechung in einem Gerichtsbezirk vermieden wird.

In einem Fall, mit dem sich das BVerfG (Beschl. v. 27.5.2016 – 1 BvR 345/16) beschäftigt hat, hatte das  Amtsgericht die Berufung mit der Begründung nicht zugelassen, eine einheitliche Rechtsprechung des Berufungsgerichts bestehe bereits. Das tatsächliche Erreichen einer einheitlichen Rechtsprechung sei von § 511 Abs. 4 hingegen nicht geschützt. Diese Sicht der Dinge hat das BVerfG in einer Kammerentscheidung als willkürlich bezeichnet (Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG). Das BVerfG gebraucht deutliche Worte: „Die Nichtzulassung der Berufung mit der vom Amtsgericht gegebenen Begründung erweist sich hier nicht nur als Rechtsanwendungsfehler im Einzelfall, sondern als grobe Verkennung, die zugleich auf eine generelle Vernachlässigung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz hindeutet und auf einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht.“ (Rn. 15.)

Fazit: Der Rechtsanwalt sollte daher in geeigneten Fällen vorsorglich darauf hinweisen, dass bei einer bewussten Abweichung von einer Rechtsprechung des zuständigen Berufungsgerichts die Berufung zwingend zuzulassen ist. Nicht anderes gilt bei einer bewussten Abweichung von einer Rechtsprechung des Revisionsgerichts, mithin des BGH. Wird eine Berufung willkürlich nicht zugelassen, kommt ausnahmsweise auch eine sonst nicht mögliche nachträgliche Zulassung der Berufung aufgrund einer Gegenvorstellung in Betracht (BGH, Beschl. v. 9.6.2016 – IX ZB 92/15).

Mehr zum Autor: Dr. Frank O. Fischer ist Richter am AG in Offenbach/Main. Er gehört zum festen Autorenteam der MDR und ist Mitautor des Prozessformularbuchs (Hrsg. Vorwerk).

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