Die Flüchtlingskrise war 2015 ein besonders wichtiges Thema. Inwiefern sind völker- und europarechtliche Fragen dabei von besonderer Relevanz?
Das Asyl- und Flüchtlingsrecht ist ohne das Unionsrecht überhaupt nicht mehr zu verstehen. In den Bereichen Asyl, Migration und Grenzschutz hat die Union mittlerweile weitreichende Gesetzgebungskompetenzen. Diese hat sie im Wege von Verordnungen und Richtlinien sehr umfassend wahrgenommen. Sie regeln z. B., welcher Mitgliedstaat für die Prüfung von Asyl-anträgen zuständig ist und nach welchen Kriterien und nach welchen Verfahrensregeln der Status eines Flüchtlings zu beurteilen ist. Alle diese Regeln müssen das Völkerrecht beachten und für dessen praktische Wirksamkeit sorgen.
Völkerrecht galt lange als „Orchideenfach“. Inwiefern hat sich hier aus Ihrer Sicht die Wahrnehmung verändert?
Fast alle Lebensbereiche werden heute auch vom Völkerrecht erfasst. Selbst auf rein innerstaatliche Sachverhalte greift das moderne Völkerrecht zu. Das wird im Fall des internationalen Menschenrechtsschutzes besonders deutlich. Es gilt aber beispielsweise ebenso für das internationale Umweltrecht. Der Staat ist nicht mehr Herr im eigenen Haus. Wie er mit seinen Bürgern verfährt, wie er mit der Umwelt umgeht, ist zur internationalen Angelegenheit geworden.
Alle diese Entwicklungen wecken auch unter Studierenden das Interesse am Völkerrecht. Es ist, um in Ihrem Bild zu bleiben, zum „Rosengarten“ geworden, mit allem, was dazugehört: Farbe, Leuchtkraft, Duft und Dornen.
Prof. Dr. Hans-Georg Dederer ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Passau und neuer Mitautor des Lehrbuchs „Staatsrecht III“ bei C.F. Müller.