Buchtipp: Spangenberg, RICHTERGESTALTEN – VON SALOMO BIS SANCHO PANSA

Ernst Spangenberg hat nach einer kurzen schöpferischen Pause ein weiteres Werk aus seinem reichen Erfahrungsschatz als früherer Richter sowie bis heute Schriftsteller und Künstler geschaffen. Dabei handelt es sich keineswegs nur um eine rechtsgeschichtliche Biographie über bedeutende Richtergestalten, sondern auch um eine erwünschte Fortsetzung von „Ein kleines Rechtsproblem bleibt ungelöst“, das der Rezensent hier vor wenigen Jahren besprochen hat:

Buchtipp: Spangenberg, Ein kleines Rechtsproblem bleibt ungelöst

So beginnt das neue Buch, dessen Titelbild „Das Hohe Gericht selbdritt“ auch vom Autor stammt, denn auch mit der Frage an sich selbst „Was habe ich nicht alles während meiner 40 Dienstjahre entschieden: ob eine Frau die Scheidung ihrer Ehe verlangen kann, wenn ihr Mann sie „du alte Mooskuh“ genannt hat, ob ein frei laufender Hund oder ein betrunkener Radfahrer eine größere Gefahr für den Straßenverkehr bilden, …“  Aber was folgt nach mehreren Tausend Entscheidungen nun, fragt der Autor in diesem ersten Kapitel weiter, um uns einen Traum zu präsentieren, der uns tatsächlich an das oben zitierte frühere Werk erinnert. Drei Häftlingen ist es darin gelungen, den Richter auszutricksen, der nicht mehr weiß, wie er den Prozess zu Ende bringen soll. Aus diesem Gefühl der Ohnmacht heraus wendet sich das Buch in einem „Wegweiser“ aus elf Teilen der Frage zu, was einen „guten Richter“ ausmacht. Einfallsreiche Falllösungen werden unterhaltsam präsentiert, ehe es dann in einem zweiten Kapitel tatsächlich weit zurückgeht in die Rechtsgeschichte, wie es der Untertitel des Buchs ja schon verrät. Es werden die verschiedensten Richtergestalten der Literaturgeschichte von der Bibel bis in die neueste Zeit beschrieben und die Originalfundstellen zum vertiefenden Weiterlesen auch jeweils mitgeteilt. Im Anschluss an eine Forderung von Kafka geht es dann im dritten Kapitel „Richter aus alter Zeit“ anhand berühmter Prozesse u. a. gegen Sokrates und Jesus sowie der Hexensachen beim Reichskammergericht nicht mehr nur um die vielfach in ihrer Entscheidungsfreiheit stark eingeschränkten und überforderten Entscheidungsträger, sondern auch um die kritische Würdigung anzuwendenden Rechts von minderer Qualität seit jeher, ohne dass man auf das systematische Unrecht speziell der NS-Zeit extra hinweisen muss, dessen Aufarbeitung nicht Gegenstand dieses Buchs sein konnte.  Ein großer Zeitsprung führt deshalb im 4. Kapitel direkt vom Mittelalter in die Jahre kurz vor Aufnahme der eigenen Richtertätigkeit des Autors mit selbst beobachteten Prozessen in Madrid und bereits als Referendar in Gießen. Soweit sich in der Beschreibung des in Spanien beobachteten Prozesses die verstörende Verwendung des verpönten Begriffs „Zigeuner“ findet, ist das historisch zu sehen und entspringt einem damaligen Zitat des vorurteilsbehaftet tätigen Staatsanwalts gegen die auch in der späten Francozeit weiterhin ausgegrenzten Menschen. Der Gießener Fall ist eine menschliche Tragödie, mit der sich auch die „Richter der Gegenwart“ schwertun.

So münden die Betrachtungen im 5. Kapitel in die immer fortwährende Frage nach der Gerechtigkeit und zurückkommend auf das geschehene Unrecht an Jesus die Feststellung: „Gerechtigkeit auf der Erde dürfen wir von Gott nicht erhoffen. Aber vielleicht im Jenseits?“ Damit wendet sich der Autor abschließend noch den großen Weltreligionen zu. Sie ahnen es, eine Antwort wird es nicht geben, aber doch eine „Schlussfolgerung“, die aber hier nicht verraten wird.

Interesse geweckt? Dann finden Sie das 99 Seiten umfassende kurzweilig zu lesende, im Justus von Liebig Verlag, Gagernstraße 9, 64283 Darmstadt, erschienene Buch mit der ISBN 978-3-87390-509-2, unter www.liebig-verlag.de.

Vorzeitige Rentenangleichung zum 1.7.2023 zu erwarten

Bis vor kurzem war eine Rentenerhöhung von 3,5% im Westen zum 1.7.2023 erwartet worden, nun sollen es nach der Ankündigung des Bundesarbeitsministers 4,39% werden. Aber für das Familienrecht noch interessanter ist die angekündigte Erhöhung um 5,86% im Osten mit der überraschenden Folge, dass der neue aktuelle Rentenwert danach sowohl im Westen als auch im Osten ab 1.7.2023 jeweils 37,60 € betragen wird.
Die ursprünglich bald nach der Wiedervereinigung erwartete Rentenangleichung zwischen Ost und West hat sich mehr als dreißig Jahre hingezogen, nun scheint sie – überraschend – bereits am 1.7.2023 und damit sogar ein Jahr früher Wirklichkeit zu werden als nach dem bereits beschlossenen Gesetz zum Abschluss der Rentenüberleitung vom 17.7.2017 (BGBl 2017 I, 2575) , mit dem auch §§ 16 Abs. 3 und 43 Abs. 2 VersAusglG geändert worden sind, jedoch erst mit Wirkung vom 1.7.2024. 
Deshalb wird man wohl bis zum 30.6.2024 den § 16 Abs. 3 VersAusglG noch in seiner derzeit geltenden Fassung anwenden und ggf. nach dessen im kommenden Jahr wegfallenden Satz 2 tenorieren müssen.
Inwieweit der ebenfalls noch bis 30.6.2024 geltende § 120f Abs. 2 Nr. 1 SGB VI, wonach die bis zum 30.6.2024 im Beitrittsgebiet und im übrigen Bundesgebiet erworbenen Anrechte nicht als Anrechte gleicher Art im Sinne des § 10 Abs. 2 VersAusglG gelten, ab 1.7.2023 noch Bedeutung behält, erscheint allerdings fraglich.

Düsseldorfer Tabelle 2023 (Erwiderung zu Schürmann FamRB 2023, 34)

„Alle Jahre wieder“ eine neue Düsseldorfer Tabelle; Heinrich Schürmann beschreibt es im Blog und in FamRB 2023, 34 zutreffend, weshalb das inzwischen erforderlich ist, und auch seiner Einschätzung, dass angesichts der fälligen Erhöhung der Selbstbehalte und der gleichzeitigen deutlichen Erhöhung der Bedarfsbeträge in der nochmals geänderten MindestunterhaltsVO 2023 eine Ausrichtung der Tabelle auf nur noch einen Berechtigten dieses Mal angezeigt gewesen wäre (anders als bei der Entnahme einer Einkommensgruppe vor 5 Jahren, vgl. damals kritisch Schwamb FamRB 2018, 67), kann ich folgen, denn der Abstand zwischen den Selbstbehalten und der zweiten Altersstufe ist nun so gering, dass eine Aufstufung bei nur einer unterhaltsberechtigten Person praktisch nicht mehr in Frage kommt.
Kritikwürdig sind und bleiben dagegen Schürmanns Ausführungen zur Bedarfssituation beim Kindesunterhalt in allen vier Altersstufen, insbesondere der von ihm weiterhin abgelehnten vierten, über deren Erhalt in vermindertem Abstand zur dritten Altersstufe jedoch ein in der Kommission mehrheitlich getragener Kompromiss vor drei Jahren zustande gekommen ist. Die Differenz liegt darin, dass Schürmann – insoweit abweichend von der gesetzlichen Regelung und auch der Rechtsprechung des BGH – eine vollständige Übereinstimmung mit der sozialhilferechtlichen Lage herstellen will. Gemeinsam ist beiden Rechtsgebieten aber nur der Ausgangspunkt des steuerbefreiten Existenzminimums, nach dem sich auch der Mindestunterhalt der zweiten Altersstufe richtet. Davon 87% für die erste Altersstufe und 117% für die dritte Altersstufe sind die gesetzliche Regelung, die man kritisieren kann, aber bei der alljährlichen Anpassung der Düsseldorfer Tabelle zugrunde zu legen ist. Schürmanns Kritik, dass 87% für die erste Altersstufe zu wenig, 117% für die dritte und 125% für die vierte Altersstufe dagegen zu viel seien, beruht inhaltlich im Wesentlichen auf seiner Annahme, dass der Wohnbedarf eines Kindes in allen Altersstufen unverändert bei derzeit 120 € liege.  Entgegen seiner Ansicht entspricht das aber nicht der Rechtslage im Unterhaltsrecht, insbesondere auch nicht den von ihm dafür in FamRB 2023, 35 unter Fußnoten 9, 10 zitierten beiden Entscheidungen des BGH vom 29.9.2021 (XII ZB 474/20 = FamRZ 2021, 1965 = FamRB 2022, 9 [M. Schneider]) und vom 18.5.2022 (XII ZB 325/20 = FamRZ 2022, 1366 = FamRB 2022, 342 [Schwamb]). Im Gegenteil liegt diesen beiden Entscheidungen sogar ausdrücklich zugrunde, dass 20% des jeweiligen Unterhaltsbedarfs eines Kindes nach dem zusammengerechneten Einkommen beider Elternteile den Wohnbedarf ausmachen und sich dieser somit ausdrücklich auch nach dem steigenden Lebensalter richtet (gerade anders als nach der abgelehnten, früher teilweise vertretenen Pro-Kopfberechnung). Auch wenn die Verwirklichung dieses Wohnbedarfs sicher nicht immer zeitgleich mit Erreichen der nächsten Altersstufe umgesetzt wird, dürfte es nicht zweifelhaft sein, dass ein Jugendlicher einen höheren Wohnbedarf hat als ein Kleinkind. Jedenfalls entspricht das der unterhaltsrechtlichen Rechtslage (s. o.). Soweit Schürmann die 4. Altersstufe ganz ablehnt, ja sogar für die 18-jährigen einen niedrigeren Bedarf errechnet als für die 12-17-jährigen Jugendlichen, ist seiner Argumentation schon wiederholt entgegen getreten worden (vgl. Schwamb FamRB 2018, 67 ff., 69 und im Experten-Blog vom 21.7.2021 Der Familien-Rechtsberater – Blog (otto-schmidt.de) . Dass in der Tabelle für die 18-jährigen (FamRB 2023, 35) nicht einmal die 15 € für gesellschaftliche Teilhabe auftauchen, die mit Volljährigkeit auf jeden Fall deutlich ansteigt, und auch 3 € für Ausflüge und 14,50 € für den Schulbedarf im letzten Jahr vor dem Abitur untersetzt sind, nimmt dieser Zusammenstellung bereits jede Überzeugungskraft. Auch hier gilt wieder, dass die unterhaltsrechtliche Sicht nicht mit der sozialhilferechtlichen verglichen werden darf, zumal der Sozialhilfesatz für die nicht in Berufsausbildung stehenden arbeitslosen jungen Erwachsenen nicht deren Bedarf entspricht und einen gewissen „Strafcharakter“ hat.  Zum wiederholten Mal muss schließlich der aufrechterhaltenen Auffassung widersprochen werden, ein „zu hoch angesetzter Bedarf im Mangelfall“ benachteilige die jüngeren Geschwister. Diese Sichtweise übersieht weiterhin, dass der Einsatzbetrag im Mangelfall der jeweilige Zahlbetrag nach Abzug des Kindergeldes ist (ausführlich Schwamb FamRB 2018, 67 ff., 70). Damit liegt der Einsatzbetrag der privilegierten Volljährigen sogar mit der 4. Altersstufe noch deutlich unter dem der Jugendlichen in der 3. Altersstufe und gerade noch einen Euro über dem der 2. Altersstufe. Auf das Rechenbeispiel im Anhang III. der Frankfurter Unterhaltsgrundsätze 2023  http://www.hefam.de/DT/ffmAPfr.html wird insoweit verwiesen. Von einer Benachteiligung der minderjährigen Geschwister im Mangelfall kann deshalb keine Rede sein.

Last not least überzeugt auch nicht die allerdings von allen Oberlandesgerichten inzwischen übernommene Streichung des „großen“ Selbstbehalts für den Eltern- und Großelternunterhalt (befürwortend Schürmann FamRB 2023, 34 ff, 37 f.). Immerhin enthalten die Frankfurter Unterhaltsgrundsätze noch die Beträge für den Enkelunterhalt (Nr. 21.3.4 und siehe dort auch Nr. 22.3). Das Angehörigenentlastungsgesetz hat eine völlig andere Bedeutung als die Selbstbehalte im Unterhaltsrecht (siehe bereits früher zu § 43 SGB XII: BGH v. 8.7.2015 – XII ZB 56/14, FamRZ 2015, 1467 Rz. 47, 48 = FamRB 2015, 330 [Hauß]). Sofern ein zum Unterhalt für seine Eltern grundsätzlich Verpflichteter mit einem Bruttoeinkommen von knapp über 100.000 Euro herangezogen werden soll, wären die früher von der Rechtsprechung anhand des dafür gebildeten großen Selbstbehalts, über dessen weitere Anpassung ggf. zu diskutieren wäre, entwickelten Grundsätze und vor allem der damit verbundene Familienselbstbehalt (siehe dazu weiterhin Nr. 22.3 der Frankfurter Unterhaltsgrundsätze) immer noch sinnvolle Instrumente für die Praxis, denn auch mit einem solchen Bruttoeinkommen kann es bei berechtigten Abzügen durchaus zu einem Nettoeinkommen führen, bei dem jedenfalls die bisherigen Grundsätze des Familienselbstbehalts, ggf. mit erhöhten Grenzen, weiterhin gebraucht werden könnten.

 

Erwiderung auf „Die Düsseldorfer Tabelle 2022 – es besteht Handlungsbedarf“ (DFGT, FamRZ 2021, 923 = FamRB 2021, 348)

Da kommt etwas auf die unterhaltsrechtliche Praxis zu, auch wenn es zunächst nur ein Diskussionsbeitrag des Vorstands der Unterhaltskommission des DFGT ist.

Der in FamRZ 2021, 923 = FamRB 2021, 348 veröffentlichten Stellungnahme der Unterhaltskommission des DFGT mit dem Titel: „Die Düsseldorfer Tabelle 2022 – es besteht Handlungsbedarf“ kann zwar in ihrem Programmsatz zugestimmt werden, dem weiteren Inhalt jedoch allenfalls teilweise.

Soweit die neuen um 40 € bzw. 70 € erhöhten Selbstbehaltssätze ab 2022 vorgestellt werden (unter IV.), besteht kein großes Problem (mit einer Ausnahme beim Ehegattenselbstbehalt, dazu später), denn sie folgen den gestiegenen Lebenshaltungskosten seit der letzten Erhöhung.

Eine diskutable Änderung ist die erneute Umstellung der Düsseldorfer Tabelle hinsichtlich der Zahl der Berechtigten, dieses Mal von zwei auf einen. Dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass damit – wie bereits erstmals 2010 bei der Umstellung von drei auf zwei Berechtigte (diese Änderung war bei dem Wegfall der Einkommensgruppe 1.501–1.900 € ab 1.1.2018 in der Begründung nicht erwähnt worden; krit. Schwamb, FamRB 2018, 67, 69) und eben auch wie beim Wegfall der vormals zweiten Einkommensgruppe – eine Ermäßigung der Unterhaltsverpflichtung in den höheren Einkommensgruppen verbunden ist, die wieder genau den Unterschiedsbetrag einer Einkommensgruppe ausmacht.

Wenn dem heute dennoch zugestimmt werden kann, dann deshalb, weil (insoweit eine Parallele zu 2010) tatsächlich eine deutlich überproportionale Anhebung des Mindestunterhalts 2020 und vor allem 2021 eingetreten ist, die die Verschiebung bei der Einordnung in die Einkommensgruppen eher rechtfertigt als 2018, wobei die Zahlbeträge trotz des gestiegenen Kindergelds nicht noch einmal hinter 2017 zurückfallen. Ärgerlich bleibt daran allerdings, dass anders als bei – schon 2016 vom Verfasser noch in der Kommission erstmals vorgeschlagenen – kleineren schrittweisen Anpassungen der Einkommensgruppen nun erneut wie 2018 ein einmaliger „harter Schnitt“ vollzogen wird, der zudem bei dynamischen Titeln nicht eintritt (ob deswegen eine Abänderung zulässig ist, ist zumindest nicht unstreitig) und auch die noch 2021 festgelegten starren Unterhaltstitel höher ausfallen als im kommenden Jahr erstellte.

Damit ist aber die Konsensfähigkeit des Kommissionspapiers auch schon weitgehend aufgebraucht.

Das gilt insbesondere für den erneuten Angriff auf die Altersstufe 4 mit etwa derselben Argumentation wie schon 2007 (!) und 2018 (Schürmann, FamRZ 2007, 545, 547 und FamRB 2018, 32; dagegen ausführlich Schwamb, FamRB 2018, 67, 69 und Staudinger/Klinkhammer, BGB, 2018, § 1610 Rz. 321). Wirklich Neues, was es rechtfertigt, dieses Fass erneut zu öffnen, nachdem erst vor 1 1/2 Jahren mühsam ein Kompromiss gefunden worden ist (mit seither 125 % gegenüber der Altersstufe 2 als Ausgangspunkt nach § 1612a Abs. 1 Nr. 2 BGB – bis 2017 waren es 134 %), enthält der neue Vorschlag nicht; vielmehr werden die in der letzten Diskussion eigentlich ausgeräumten, weil hier nicht passenden Vergleiche mit dem SGB II und dem ermäßigten, gelegentlich als „Strafunterhalt“ bezeichneten Betrag für die jungen arbeitslosen Erwachsenen nur aufgewärmt. Alle weiteren Argumente für den Erhalt der 4. Altersstufe aus den beiden obigen Fundstellen müssen hier nicht wiederholt werden. Angesichts der mit Volljährigkeit bei Vollanrechnung des Kindergeldes drastisch sinkenden Zahlbeträge sei aber doch auf folgende Zahlen seit 2017 aufgrund des zwischenzeitlichen Einfrierens der 4. Altersstufe bis auf jetzt 125 % gegenüber § 1612a Abs. 1 Nr. 2 BGB im Wege des Kompromisses hingewiesen.

Unterhaltspflichtiger M mit 1.800 € bereinigt netto und nur einem Kind K, geb. am 1.7.1999 (F ohne ausreichendes Einkommen):

  • Zahlbetrag 2017: 410 € bis Juni (damalige Einkommensgruppe 2 um eine hochgestuft nach 3 in der 3. Altersstufe), 388 € ab Juli (damalige Einkommensgruppe 2 um eine hochgestuft nach 3 in der 4. Altersstufe und Vollanrechnung Kindergeld)
  • Zahlbetrag 2018: 360 € (neue und eingefrorene Einkommensgruppe 1 um eine hochgestuft nach 2)
  • Zahlbetrag 2019: 360 € bis Juni, 350 € ab Juli (wegen Kindergelderhöhung um 10 €)
  • Zahlbetrag 2020: 353 € (erste geringfügige Erhöhung infolge des o.g. Kompromisses in der erweiterten Kommission)
  • Zahlbetrag 2021: 374 € (Erhöhung trotz Erhöhung des Kindergeldes, aber immer noch weniger zu zahlen als 2017)
  • Zahlbetrag 2022: 345 e (ohne mir noch nicht bekannte Erhöhung bei Einkommensgruppe 1, nun aber ohne Hochstufung nach 2)

Die Absenkung für einen 18 Jahre alten Schüler ggü. 2017 wird also noch nicht einmal durch das von 194 auf 219 € gestiegene Kindergeld kompensiert. Ohne den nun wieder in Frage gestellten Kompromiss von 2020 wären es noch einmal 24 € weniger, also Zahlbetrag 321 €. Dagegen erhält der 17 Jahre alte Schüler 418,50 € ausgezahlt.

Der Verfasser ist in der Vergangenheit nicht dafür bekannt geworden, unkritisch dem BGH zu folgen; aber in diesen Vorschlägen der Kommission zur Neufassung der Düsseldorfer Tabelle 2022, die ja eigentlich die obergerichtliche Rechtsprechung vereinfacht für die praktische Anwendung abbilden soll, wird dann doch recht sportlich mit der Rechtsprechung des BGH umgegangen.

Das betrifft zum Beispiel die (Wieder-)Aufgabe eines zutreffend geteilten Ehegattenselbstbehalts für Erwerbstätige und Nichterwerbstätige (gerade erst 2020 in der Düsseldorfer Tabelle eingeführt auf Grund BGH v. 16.10.2019 – XII ZB 341/17, FamRZ 2020, 97 Rz. 28 = FamRB 2020, 4 mit zust. Anm. Schwamb, bereits zuvor u.a. in den Leitlinien des OLG Hamm und Frankfurter Unterhaltsgrundsätzen jeweils Nr. 21.4).

Es geht weiter mit der Diskussion über die Höhe des Erwerbstätigenbonus beim Ehegattenunterhalt. Deutlich hatte sich hier der BGH (BGH v. 13.11.2019 – XII ZB 3/19, NZFam 2020, 109 Rz. 23 m. krit. Anm. Schürmann = NJW 2020, 238 m. Anm. Graba = FamRZ 2020, 171 = FamRB 2020, 53), und zwar ausdrücklich a.a.O. in Rz. 23 unter Hinweis auf seine Berechnungsweise in BGH v. 16.4.1997 – XII ZR 233/95, FamRZ 1997, 806, 807, für eine einheitliche 1/10-Lösung ausgesprochen (zustimmend Schwamb, NZFam 2020, 847, 849). Diese Diskussion ist zwar sowieso noch in vollem Gang (mit bekannt unterschiedlichen Ergebnissen auch in den Frankfurter Unterhaltsgrundsätzen), aber was die Kommission damit vorhat, ist schon bemerkenswert. Es soll das einheitliche 1/10 kommen, aber mit einer der bisherigen (wie gesagt gerade erneut zitierten) BGH-Rechtsprechung seit FamRZ 1997, 806, 807 ausdrücklich widersprechenden Berechnungsweise (nämlich Bonusbildung vor Abzug des Kindesunterhalts und privater Schulden, ohne die o.g. 1997-er Entscheidung und ihre damalige Begründung zu erwähnen). Das führt dann zu folgendem Berechnungsbeispiel:

M: 3.800 € netto – 300 € Schuldendienst – 700 € Kindesunterhalt = 2.800 € bereinigt. F: 700 € netto bereinigt.

  • Herkömmlicher 1/7-Bonus: 2.800 € – 700 € = 2.100 €. 3/7 = 900 € UE.
  • Der „neue“ 1/10-Bonus (gegen BGH FamRZ 1997, 807): M: 3.800 € – 380 € – 300 € – 700 € = 2.420 €. F: 700 € – 70 € = 630 €. 2.420 € – 630 € = 1.790 €, hiervon 1/2 = 895 € UE (mit „nur“ 1/10 Bonus).

Besser lässt es sich kaum veranschaulichen. Das neue 1/10 ist hier größer als das alte 1/7.

Wenn dazu u.a. ausgeführt wird „Halbteilung und Erwerbstätigenbonus beruhen nicht auf gesetzlichen Vorgaben“ (unter Bezugnahme auf Schwonberg, FF 2021, 47, 50) mag das für den Bonus gelten, nicht jedoch für den mit ihm eingeschränkten Halbteilungsgrundsatz, der das gesamte Familienvermögensrecht durchzieht und Verfassungsrang hat.

Soweit die Kommission zunächst die vom BGH (BGH v. 16.9.2020 – XII ZB 499/19, FamRZ 2021, 28 = FamRB 2021, 6) angeregte Fortschreibung der Düsseldorfer Tabelle über die bisherigen zehn Einkommensgruppen hinaus als nicht notwendig kritisiert, ihr dann aber doch folgen will, wird allerdings dem gut begründeten (jedoch von der Kommission mit 272 % und 24 Einkommensgruppen nicht zutreffend zitierten) Vorschlag von Borth, FamRZ 2020, 339 (mit 240 % und 20 Einkommensgruppen bei 11.000 € endend) als überhöht widersprochen und stattdessen mit einer keine klare Struktur aufweisenden Gruppenbildung gerade einmal die Erhöhung von 160 % auf 200 % (bei doppelter Einkommenshöhe) befürwortet. Für diese eher kosmetische Erhöhung bräuchte es tatsächlich keine Fortschreibung der Tabelle. Da die Kommission zudem die 10. Einkommensgruppe nun bei 5.600 € (statt derzeit 5.500 €) enden lassen will, ihre 15. (eigentlich verdoppelte) aber bei 11.000 Euro enden lässt, „verrutscht“ dabei – wohl unabsichtlich – auch noch die „doppelte“ Einkommenshöhe i.S.d. neuen BGH-Rechtsprechung (dazu beim Ehegattenunterhalt Schwamb, NZFam 2020, 847).

Zum Elternunterhalt sei nur angemerkt, dass für das angesprochene Problem, ein Kind verdient über 100.000 €, das andere unter 100.000 €, die dafür in Fn. 32 des Papiers (im FamRB: Fn. 31) zitierten Autoren noch um eine BGH-Entscheidung zu ergänzen wären, die zu § 43 SGB XII ergangen ist, bei dem es das Problem in abgewandelter Form schon zuvor gab (vgl. BGH v. 8.7.2015 – XII ZB 56/14, FamRZ 2015, 1467 Rz. 47, 48 = FamRB 2015, 330 [Hauß]; dazu Niepmann/Seiler, 14. Aufl. 2019 bzw. zuvor Niepmann/Schwamb, 13. Aufl. 2016, jew. Rz. 222 unter „Rückgriffseinschränkung“). Zumindest bedürfte es einer Auseinandersetzung mit der dort für § 43 SGB XII gefundenen differenzierenden Lösung.

Man darf gespannt sein, was aus dem „es besteht Handlungsbedarf“ weiter erwächst. Die Tendenz der Vorschläge geht jedenfalls (erneut) in Richtung Einschränkung von Unterhaltsansprüchen. Das Echo der 2018er-Reform der Tabelle und der damalige Ruf nach dem Gesetzgeber hallen noch nach.

Keine familiengerichtliche Überprüfung infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen an Schulen II

Gut einen Monat nach Bekanntwerden des die 3. Gewalt erschütternden Beschlusses des Amtsgerichts – Familiengericht – Weimar v. 8.4.2021 – 9 F 148/21, mit dem es die öffentlich-rechtliche Maskenpflicht und das Abstandsgebot für Schüler in den Schulen über § 1666 Abs. 4 BGB kippen wollte (ablehnende Besprechung Schwamb im Experten-Blog des FamRB; ferner Lies-Benachib, NZFam 2021, 448), hat das Thüringer OLG in Jena am 14.5.2021 – 1 UF 136/21 den Beschluss des AG Weimar aufgehoben, und zwar auf die sofortige Beschwerde des Freistaates Thüringen, die das Amtsgericht nicht für möglich hielt (Rechtsbehelfsbelehrung: „Der Beschluss ist mit Rechtsmitteln nicht anfechtbar.“), weil es wohl nur § 57 FamFG im Blick hatte (wie wohl auch Gietl, NZFam 2021, 421 in seiner im Übrigen ebenfalls den Weimarer Beschluss ablehnenden Anmerkung).

Das OLG stützt die Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde aber auf § 17a Abs. 4 S. 3 GVG und die Zulassung der Rechtsbeschwerde zum BGH auf § 17a Abs. 4 S. 4, 5 GVG (ansonsten ist die Rechtsbeschwerde gegen Entscheidungen in familienrechtlichen EA-Verfahren gemäß § 70 Abs. 4 FamFG nicht statthaft).

Gemäß § 17a Abs. 4 S. 3 GVG ist nämlich die Zuständigkeitsbeschwerde nach erfolgloser Rüge der Zulässigkeit des Rechtswegs (§ 17a Abs. 3 S. 2 GVG) statthaft. Das gilt auch, wenn auf die Rüge des Rechtswegs die nach § 17a Abs. 3 S. 2 GVG erforderliche Vorabentscheidung unterbleibt, stattdessen über die Zuständigkeit und sogleich in der Sache mitentschieden wird. Den noch nicht abschließend veröffentlichten Gründen des OLG müsste dann allerdings auch eine Auseinandersetzung damit zu entnehmen sein, dass das AG Weimar ausgeführt hat, innerhalb einer gesetzten Frist habe das Land nicht Stellung genommen, denn wenn es unter diesen Umständen an einer Rüge der Zuständigkeit fehlte, stünde § 17a Abs. 5 GVG einer späteren Berücksichtigung der mangelnden Zuständigkeit entgegen (BGH v. 18.9.2008 – V ZB 40/08, NJW 2008, 3572 = MDR 2008, 1412; Lückemann in Zöller, ZPO, 33. Aufl., zu § 17a GVG Rz. 18 m.w.N.). Dem widerspricht das OLG Düsseldorf (OLG Düsseldorf v. 25.10.2018 – 1 WF 124/18, FamRZ 2019, 379) zwar für den Fall, dass sich der angefochtene Beschluss zur Zuständigkeit überhaupt nicht verhält, was jedoch auf das AG Weimar – bei aller Kritik an seinen diesbezüglichen Gründen – nicht zutrifft.

Das Thüringer OLG sieht im Weiteren den Rechtsweg zu den Familiengerichten als nicht gegeben an und stellt das Verfahren ein ebenso wie das OLG Nürnberg (OLG Nürnberg v. 27.4.2021 – 9 WF 342/21 und v. 28.4.2021 – 9 WF 343/21) in den umgekehrten Fällen von Beschwerden gegen die Nichteinleitung von Verfahren. Eine Verweisung an das Verwaltungsgericht kommt dagegen nicht in Betracht, denn § 17a Abs. 2 GVG gilt jedenfalls für nur von Amts wegen einzuleitende Verfahren nicht (BT-Drucks. 16/6308, 318; Bumiller/Harders/Schwamb, FamFG, 12. Aufl., § 122 Rz. 10; Lückemann in Zöller, ZPO, 33. Aufl., zu § 17a GVG Rn. 21; Pfälz. OLG Zweibrücken FamRZ 2000, 764, 765; OLG Karlsruhe v. 28.4.2021 – 20 WF 70/21; Schwamb im Experten-Blog des FamRB; Lies-Benachib, NZFam 2021, 448, 449).

Konsequenzen für die Praxis: Damit ist aber auch klar, dass die nun immer häufiger auftretenden Entscheidungen, in denen auf die offensichtlich haltlosen formularmäßigen Anregungen entgegen § 24 FamFG ein Verfahren eingeleitet wird, um es sofort wieder mit einem Beschluss nebst Kostenentscheidung und Wertfestsetzung zu beenden, weil kein Anlass für familiengerichtliche Maßnahmen besteht, ebenfalls verfehlt sind.

Das gilt insbesondere für die Beschlüsse des Amtsgerichts Garmisch-Partenkirchen v. 3.5.2021 – 1 F 125/21 und 1 F 128/21), in denen dem darin auch noch namentlich genannten ehemaligen Familienrichter und „Erfinder“ des Formulars zur Anregung solcher Verfahren die Kosten unter Überdehnung von § 81 Abs. 4 FamFG als unbeteiligtem Dritten auferlegt worden sind. Abgesehen davon, dass der Begriff des Dritten im Sinne dieser Vorschrift offensichtlich nicht Personen erfasst, die nur Anderen zur Anregung eines Verfahrens geraten oder Hilfsmaterial dafür zur Verfügung gestellt haben, führt bereits die richtige Anwendung von § 20 Abs. 1 S. 1 FamGKG dazu, dass für anlasslos eingeleitete Verfahren überhaupt keine Kosten zu erheben sind.

Damit erübrigt sich eigentlich schon, zu den teils astronomisch hohen Wertfestsetzungen in verschiedenen Entscheidungen (vgl. AG Essen v. 7.5.2021 – 106 F 83/21 und 106 F 84/21) Stellung zu nehmen, die auch bereits deshalb verfehlt sind, weil die Zahl der (allenfalls in den Blick genommenen, nicht wirklich betroffenen) Kinder nach § 45 Abs. 2 FamGKG dafür nicht ausschlaggebend ist, wenn man von einem Sorgerechtsverfahren ausgeht. Aber auch bei Anwendung der Auffangvorschrift für nichtvermögensrechtliche Angelegenheiten käme allenfalls der geringfügig höhere Wert von 5.000 Euro nach § 42 Abs. 3 FamGKG (bzw. gemäß § 41 FamGKG die Hälfte in EA-Verfahren) in Frage, weil bei diesen Verfahren weder Umfang noch Bedeutung der Sache Anhaltspunkte für einen höheren Wert nach § 42 Abs. 2 FamGKG liefern. Wie bereits in meiner Erwiderung auf einen Kommentar zu meinem ersten Blogbeitrag zum Thema ausgeführt, darf gar nicht erst der Eindruck von „Retourkutsche“ entstehen, was die aufgeheizte Diskussion nur noch weiter verschärfen würde.

Aktualisierung vom 8.6.2021: Inzwischen ist der Beschluss des Thüringer OLG v. 14.5.2021 – 1 UF 136/21 auch vollständig veröffentlicht, und seine Gründe haben es fürwahr in sich. Das im Blog vom 25.5.2021 angesprochene Problem der Anfechtbarkeit des Weimarer Beschlusses gemäß § 17a Abs. 4 S. 3 GVG (nämlich nur, wenn die Zuständigkeit zuvor beim Amtsgericht gerügt wurde) hat sich nämlich auf geheimnisvolle Weise weiterentwickelt.

Das AG Weimar war, wie hier im Blog am 25.5.2021 ausgeführt, von der Unanfechtbarkeit seines Beschlusses ausgegangen, der ursprünglich auf den 8.4.2021 datiert war. Am Abend des 8.4.2021 war aber, wie jetzt aus den Gründen des Thüringer OLG ersichtlich wird, die vom Amtsgericht ausweislich seiner Gründe noch vermisste Stellungnahme mit einer Zuständigkeitsrüge des Freistaats Thüringen, der am 31.3.2021 um eine Fristverlängerung gebeten hatte, eingegangen. Danach ist der Beschluss des AG Weimar durch eine „Korrektur“ des Erlassvermerks auf den 9.4.2021 umdatiert worden, so dass die Zuständigkeitsrüge des Freistaates Thüringen noch zu beachten gewesen wäre und ein Vorabbescheid darüber nach § 17a Abs. 3 S. 2 GVG ergehen musste, was dann die Anfechtbarkeit gemäß § 17a Abs. 4 S. 3 GVG erst wieder eröffnet hat. Unter welchen genauen Umständen die Änderung des Erlassdatums des Weimarer Beschlusses zustande gekommen ist, ist noch nicht ganz aufgeklärt. Ausweislich der Gründe des Thüringer OLG ist dagegen sogar noch die Erinnerung eingelegt worden, deren weiteres Schicksal das OLG jedoch nicht mehr abgewartet hat.

Keine familiengerichtliche Überprüfung infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen an Schulen

Es lässt einen fassungslos zurück, was diese Pandemie mit zunehmender Dauer alles hervorbringt und nun auch in der 3. Gewalt für Spuren hinterlässt. Aber beginnen wir der Reihe nach. Am 8.4.2021 erlässt das AG – FamG – Weimar (9 F 148/21) ohne mündliche Erörterung eine einstweilige Anordnung gem. §§ 49 ff. FamFG, mit dem es Schulleitungen, deren Vorgesetzten und Lehrern zweier Schulen untersagt vorzuschreiben, dass alle Schüler dieser Schulen Gesichtsmasken tragen, Abstand halten und an Coronaschnelltests teilnehmen; ferner gebietet es, den Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten. Vorausgegangen ist die Anregung der Mutter zweier Kinder, ein „Kinderschutzverfahren gem. § 1666 Abs. 1 und 4 BGB“ einzuleiten. Es folgen seitenlange Aufzählungen von Rechtsvorschriften aller Art und Aufzählungen von Studien pro und contra Maskenpflicht sowie zur Zuverlässigkeit von Coronatests. Danach folgen schmale Ausführungen, dass die Familiengerichte gem. § 1666 Abs. 4 BGB vorrangig befugt seien, auch Maßnahmen gegen die Lehrer und Schulleitungen sowie deren Vorgesetzte entgegen bestehender Allgemeinverfügungen zu treffen; der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten nach § 40 Abs. 1 VwGO trete dahinter zurück. Die Begründetheit seiner Maßnahmen stützt das AG Weimar auf angebliche Kindeswohlgefährdungen gem. § 1666 Abs. 1 BGB durch Abstand halten, Masken tragen und Testungen. Wie abstrus diese Begründung ist, wird besonders in den Passagen deutlich, in denen sogar die Abstandsregeln als überflüssig angesehen werden und die inzwischen – bis auf wenige Außenseitermeinungen, auf die sich das Gericht stützt – schon zum Allgemeinwissen gehörende Infektionsgefahr durch Aerosole geleugnet wird. Mit teilweise übereinstimmender Begründung hat das AG Weilheim am 13.4.2021 (2 F 192/21) eine ähnliche einstweilige Anordnung erlassen, allerdings – insoweit ausdrücklich in Unterscheidung zum AG Weimar – nur mit Wirkung für das Kind der die Maßnahmen anregenden Eltern und im Wesentlichen beschränkt auf das Verbot, das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen dieses Kindes anzuordnen und es gegenüber den anderen Kindern zu isolieren. Der Fall liegt auch insofern anders, als das Kind persönlich angehört worden ist, Kopfschmerzen und Übelkeit durch das Maskentragen angegeben hat und bis vor kurzem aufgrund eines ärztlichen Attests vom Tragen einer Maske befreit war. Ein auf Verlangen der Schulleitung vorgelegtes neues Attest wurde dann nicht mehr anerkannt. Das AG Weilheim hat sich dann jedoch nicht auf die Beurteilung der Nichtanwendung der Ausnahmevorschrift durch den Schulleiter in diesem Einzelfall beschränkt, sondern § 18 Abs. 2 der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (trotz der bestehenden Ausnahmeregelung) insgesamt für nicht anwendbar erklärt.

Demgegenüber kommen das AG Wittenberg am 8.4.2021 (5 F 140/21 EASO) nach ausführlicher mündlicher Erörterung und das AG München am 18.3.2021 (542 F 2559/21) ohne mündliche Verhandlung jeweils mit ausführlichen, den „Erkenntnissen“ der Formularanregungen auch inhaltlich widersprechenden Gründen zum gegenteiligen Ergebnis. Beide verweisen u.a. darauf, dass die Anregungen auf einheitlichen im Internet abrufbaren Mustern beruhen und jeweils keine individuellen Kindeswohlgefährdungen vorgetragen werden. Die persönlich beim AG Wittenberg angehörte Kindesmutter distanziert sich dann auch von den in dem Formular sogar angestellten Vergleichen der Infektionsschutzmaßnahmen mit Folter. Beide Gerichte kommen zu dem Ergebnis, dass keine „kinderschutzrechtlichen Maßnahmen“ veranlasst sind. Soweit das AG München dies ohne mündliche Erörterung nach Kenntnisnahme des Inhalts der Anregung entscheidet, stellt sich allerdings die Frage, warum es dann unter Geltung von § 24 FamFG ein kostenauslösendes Verfahren eingeleitet und es nicht bei einer Mitteilung nach § 24 Abs. 2 FamFG belassen hat.

Einen völlig anderen Weg schlägt das AG Waldshut-Tiengen mit Beschluss vom 13.4.2021 (306 AR 6/21) ein, erklärt den Rechtsweg zum FamG für unzulässig und verweist das Verfahren an das Verwaltungsgericht. Treffend wird dort zwar ausgeführt wird, dass § 1666 Abs. 4 BGB kein Gesetz ist, wonach gem. § 40 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 VwGO ausnahmsweise öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. § 1666 Abs. 4 BGB hat nach den Materialien lediglich den Zweck, im Einzelfall nicht den Zivilrechtsweg gegen (private) Dritte einschlagen zu müssen.

Dazu sei ergänzend darauf hingewiesen, dass de lege lata nach h.M. die Familiengerichte nicht einmal in der besonderen „Verantwortungsgemeinschaft“ mit dem Jugendamt befugt sind, in klaren Fällen von § 1666 Abs. 1 BGB i.V.m. § 1666a BGB dem öffentlichen Recht zugewiesene jugendhilferechtliche Maßnahmen für die Jugendhilfeträger verbindlich anzuordnen und bei einem darüber bestehenden Konflikt mit Trägern der Jugendhilfe den Beteiligten nur der Verwaltungsrechtsweg bleibt (so ausdrücklich BVerfG v. 24.3.2014 – 1 BvR 160/14 Rz. 50 = ZKJ 2014, 242 m. Anm. Gottschalk; ferner BVerfG v. 22.5.2014 – 1 BvR 2882/13, FamRZ 2014, 1266 Rz. 55; BVerfG v. 17.3.2014 – 1 BvR 2695/13, FamRZ 2014, 1177 Rz. 33 ff.; BVerwG v. 21.6.2001 – 5 C 6.00, FamRZ 2002, 668; OLG Nürnberg v. 17.11.2014 – 11 UF 1097/14, FamRZ 2015, 1211; Lugani in MünchKomm/BGB, 8. Aufl., § 1666 Rz. 180, 181; Meysen, NZFam 2016, 580 m.w.N.; a.A. OLG Koblenz v. 11.6.2012 – 11 UF 266/12, NJW 2012, 3108; Fahl, NZFam 2015, 248; Heilmann/Köhler, Praxiskommentar, § 36a SGB VIII Rz. 4–8; krit. auch Heilmann, NJW 2014, 2904, 2908 f. und – vermittelnd – Coester in Staudinger, BGB, § 1666a Rz. 13–22 m.w.N.). Insoweit wird auch gesetzgeberischer Bedarf gesehen (Coester in Staudinger, BGB, § 1666a Rz. 23; Meysen, NZFam 2016, 580, 585). Über den dafür nicht geschaffenen § 1666 Abs. 4 BGB öffentlich-rechtliche Vorschriften auszuhebeln, ist aber jedenfalls nicht einmal in diesen Fällen eine Option.

Die Konsequenz der Verweisung an das Verwaltungsgericht, die das AG Waldshut-Tiengen aus seiner richtigen Erkenntnis zieht, ist allerdings nicht zutreffend, denn § 17a GVG gilt jedenfalls für nur von Amts wegen einzuleitende Verfahren nicht (BT-Drucks. 16/6308, 318; Bumiller/Harders/Schwamb, FamFG, 12. Aufl., § 122 Rn. 10; Lückemann in Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 17a GVG Rz. 21; Pfälz. OLG v. 26.7.1999 – 3 W 161/99, FamRZ 2000, 764, 765). Es fehlt nämlich insoweit schon am „beschrittenen Rechtsweg“ i.S.v. § 17a GVG als Voraussetzung einer Verweisung oder Abgabe.

Konsequenzen für die Praxis: Statt einer Verweisung ist deshalb nach dem bereits erwähnten § 24 FamFG zu prüfen, ob überhaupt ein Verfahren einzuleiten ist. Folgt das Gericht der Anregung nach § 24 Abs. 1 FamFG nicht, wofür in den besprochenen Fällen, die der Sache nach gar keine „Kinderschutzverfahren“ sind (s.o.), sehr viel spricht, hat es nach § 24 Abs. 2 FamFG denjenigen, der die Einleitung angeregt hat, darüber – formlos – zu unterrichten, soweit ein berechtigtes Interesse an der Unterrichtung ersichtlich ist. Dies dürfte bei einer Anregung von Eltern allerdings regelmäßig der Fall sein.

Soweit dagegen insbesondere das AG Weimar – einem dahinter offenbar steckenden Netzwerk folgend – seine Zuständigkeit für eine Anordnung gegenüber sämtlichen Kindern zweier Schulen mit abwegiger Begründung bejaht hat, besteht Veranlassung darauf hinzuweisen, dass in der Vergangenheit schon aus geringeren Anlässen Verfahren gegen Richter geführt worden sind, die sich einer offensichtlich nicht gegebenen Zuständigkeit berühmt haben (vgl. „Fall Görgülü“ OLG Naumburg v. 6.10.2008 – 1 Ws 504/07, NJW 2008, 3585). Nach Presseberichten prüft die Erfurter Staatsanwaltschaft auf Strafanzeigen gegen den Weimarer Richter, ob sie ein Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung einleitet, während bundesweit weitere Anregungen derselben Machart die deutschen Familiengerichte überfluten. Das AG Hannover hat deshalb auf seiner Homepage Amtsgericht Hannover (niedersachsen.de) eine Pressemitteilung hinterlegt, dass es in den mehr als 100 Fällen mit nahezu gleichlautenden Anregungen keine Verfahren einleitet, weil nach Auffassung der Richterinnen und Richter des Familiengerichts des AG Hannover eine konkrete Kindeswohlgefährdung i.S.v. § 1666 BGB nicht ersichtlich ist.

Aktualisierung vom 22.4.2021: Inzwischen hat das VG Weimar mit Beschluss vom 20.4.2021 (8 E 416/21 We) in einem Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO dem Beschluss des Weimarer Familiengerichts zur Frage der Zuständigkeit mit etwa derselben Begründung wie hier und folgendem Satz deutlich widersprochen: „Der Beschluss ist als ausbrechender Rechtsakt (VGH München v. 16.4.2021 – 10 CS 21.1113) offensichtlich rechtswidrig.“

In der Sache weist das VG die Eilanträge der Antragsteller kostenpflichtig zurück, setzt sich dabei ausführlich mit deren Angriffen auf die den Schulbetrieb betreffende Allgemeinverfügung des Freistaates Thüringen auseinander und hält diese auf der Basis des Infektionsschutzgesetzes i.V.m. § 2 Abs. 2, § 38 Abs. 5 ThürSARS-CoV-2-KiJuSSp-VO (vgl. dazu Thüringer Oberverwaltungsgericht v. 17.3.2021 – 3 EN 93/21, juris) zur Eindämmung des Coronavirus für rechtmäßig. Bei der Interessenabwägung wiege das öffentliche Interesse am Schutz von Leben und Gesundheit einerseits der Personen im Nähebereich der Antragsteller (z. B. sonstige Familienmitglieder oder Freunde) und andererseits der Mitschülerinnen und Mitschüler und der gesamten Bevölkerung höher als das Interesse der Antragsteller, von den ihnen auferlegten Maßnahmen vorläufig verschont zu bleiben. Durchgreifende gesundheitliche Bedenken, die gerade auch bei jüngeren Kindern im Grundschulalter generell gegen eine Tragepflicht von Mund-Nasenschutz sprechen könnten, seien nicht zu erkennen (so auch OVG Münster v. 9.3.2021 – 13 B 266/21.NE, juris Rz. 53 ff.).

Aktualisierung vom 7.5.2021: Inzwischen befassen sich die Oberlandesgerichte mit den Beschwerden von Eltern gegen die ihren Anregungen nicht folgenden Entscheidungen der Familiengerichte. Aus Pressemitteilungen der Oberlandesgerichte Karlsruhe und Nürnberg ist zu entnehmen, dass diese es genauso sehen wie vom Verfasser hier vertreten. Beide heben daher die erstinstanzlichen Beschlüsse insoweit auf, als Verweisungen an die Verwaltungsgerichte erfolgten, weil diese Verfahrensweise bei Amtsverfahren nicht in Frage komme. Am Ende der Karlsruher Pressemitteilung wird auf § 24 FamFG hingewiesen. Das OLG Nürnberg hat das „Verfahren“ eingestellt und die Rechtsbeschwerde zum BGH zugelassen.

Buchtipp: Spangenberg, Ein kleines Rechtsproblem bleibt ungelöst

Ernst Spangenberg lässt uns mal wieder in seine Gedankenwelt blicken. „Ein kleines Rechtsproblem bleibt ungelöst.“ Die Frage hat sich sicher jedem Juristen in seinem Leben schon mal gestellt, wenn er zu sich ehrlich ist. Ernst Spangenberg wäre nicht Ernst Spangenberg, wenn er das nicht erstens zugäbe, zweitens darüber nachdächte, drittens darüber schriebe und male (wie auf dem Titelbild des Buches zu sehen) sowie viertens doch eine ihm eigene Lösung gefunden hätte.

Daraus hat er ein wunderbares neues Büchlein gezaubert, das sich jedoch nicht auf die Titelfrage beschränkt, sondern unterhaltsam und doch ernsthaft noch weitere schöne Begebenheiten aus der Wunderwelt des Rechts serviert, ja, auch des Familienrechts. Dabei werden uns bekannte Begriffe wie „Unterhaltsbemessung“ oder „Eheliche Lebensverhältnisse“ fein säuberlich und mit einem Schuss Humor in ihre Einzelteile zerlegt, wenn auch der Rezensent, der selbst in den juristischen Gazetten immer gegen die „Wandelbaren ehelichen Lebensverhältnisse“ nach Scheitern einer Ehe angeschrieben hat (u.a. in FamRB 2011, 120), mit der Hoffnung des Autors auf Wiederkehr eben dieses Begriffs hadert. Wer es weniger aktuell und doch spannend liebt, findet auch Besprechungen zu Fällen, die bis ins Jahr 1876 zurückreichen und, wie es auch auf dem Buchrücken steht, uns zweimal auf den Friedhof führen, uns an Kirchen- und Kuhglocken ergötzen lassen oder auch beim Kauf von Weihnachtsbäumen Empfehlungen geben. Als Höhepunkt verspricht uns der Autor – und hält das natürlich auch – eine Einführung in die Brötchenrechtsprechung sowie die „überfällige Darstellung des Schnarchbackenrechts.“ Schon jetzt verstehen wir Spangenbergs Schlusswort im Vorwort: „Dass wir Juristen uns durch einige Besonderheiten/Absonderlichkeiten auszeichnen, dürfte schon jetzt deutlich geworden sein.“

Passend dazu ist auch das Einführungszitat von Ernst Spangenberg, das zugleich einer Tagebuchnotiz von seinem letzten Arbeitstag als Familienrichter am 30. August 2002 entspringt: „Juristerei ist die Kunst, Hintertürchen zu entdecken, und sich …“, nein, mehr wird davon an dieser Stelle nicht verraten.

Wessen Interesse jetzt noch nicht geweckt ist, diese Kurzprosa auf 147 Seiten zu lesen, die im Justus von Liebig Verlag, Gagernstraße 9, 64283 Darmstadt, ISBN 978-3-87390-443-9, www.liebig-verlag.de erschienen ist, dem ist leider nicht zu helfen.

Auf die Glatze, fertig, los! – Happy birthday, Ernst Spangenberg!

Ernst Spangenberg, unser bekannter Familienrichterkollege a.D., feiert heute seinen 80. Geburtstag. Verlag, FamRB-Redaktion und ich gratulieren ihm von Herzen.

Sein schönstes Geschenk, das ihn uns zugleich nahe bringt, hat ihm seine Ehefrau Brigitte gemacht. Nicht nur, dass er mit ihr zusammen lesenswerte Fachliteratur verfasst (zuletzt im FamRB „Aufs Maul geschaut, in den Verstand geschaut – Grundlagen der Kommunikation“, FamRB 2017, 116 und FamRB 2017, 156), Ernst Spangenberg dichtet auch gerne. Aus seinen neueren Gedichten und der Prosa der letzten Jahre hat Brigitte Spangenberg ihre Lieblingsstücke ausgewählt und eine 104 Seiten starke Sammlung zusammengestellt, die im Wiesenburg Verlag, Postfach 4410, 97412 Schweinfurt (Auf die Glatze, fertig, los!) erschienen ist. „… Palmström und Korf nicken beifällig.“, so die treffenden Worte von Widulind Clerc auf dem Cover.

Das ist für die Sommerferien mal ein etwas anderer Lesehinweis  –  obwohl, im IV. Kapitel wird auch die Justiz auf die Schippe genommen.

Ernst Spangenberg wünsche ich noch viele schaffensreiche Jahre bei bester Gesundheit und Ihnen eine amüsante Lektüre.