Ungeahnte Folgen eines Sorgerechtsverfahrens (AG Bad Hersfeld v. 27.10.2017 – 63 F 290/17 SO)

Streben Eltern ein Kindschaftsverfahren an, weil sie eine gerichtliche Regelung zu Fragen der elterlichen Sorge oder des Umgangsrechts wünschen, so bedenken sie in der Regel nicht, dass die Gerichte an die gestellten Anträge nicht gebunden sind, sondern für sie der Amtsermittlungsgrundsatz in diesen Verfahren gilt. Dies bedeutet, dass die jeweiligen „Anträge“ der Verfahrensbeteiligten für die Gerichte lediglich eine Anregung darstellen. Die Gerichte müssen letztlich auf der Grundlage der schriftsätzlich erteilten Informationen von Amts wegen nicht nur prüfen, welche Entscheidung im konkreten Einzelfall die am Kindeswohl orientierte beste Regelung darstellt, sondern gegebenenfalls auch erlangte Informationen aufgreifen, um weitergehend zu prüfen, ob der sich hieraus ergebende Lebenssachverhalt auf eine Kindeswohlgefährdung deutet, die die Eltern entweder in dieser Form bislang nicht erkannt haben oder aber zu deren Beseitigung sie entweder nicht in der Lage oder nicht willens sind.

Das AG Bad Hersfeld hat sich in einer aktuellen Entscheidung mit einer solchen Problematik befasst: Im konkreten Fall hatten die Eltern in einem zunächst streitigen Sorgerechtsverfahren letztlich Einvernehmen darüber erzielt, dass bezüglich des gemeinsamen 10-jährigen Sohnes der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen werden und es im Übrigen bei der gemeinsamen elterlichen Sorge bleiben sollte. Anlässlich seiner Anhörung schilderte das Kind, dass ihm unter anderem zwei Videospiele zur Verfügung stünden („Grand Theft Auto 5“ sowie „Call of Duty“), für die eine Altersfreigabe erst ab 18 Jahren besteht. Das AG hat, entsprechend dem Antrag der Eltern, eine Regelung zum Aufenthaltsbestimmungsrecht getroffen. Darüber hinausgehend hat es die Eltern aber auch verpflichtet, fortwährend sicherzustellen, dass dem Kind keine Spiele zugänglich sind, die das Kindeswohl gefährden, selbst wenn seitens des Kindes geltend gemacht wird, dass es durch diese Maßnahmen zum Außenseiter seiner Gruppe werde. Seine Entscheidung leitet das Gericht aus der Überlegung ab, dass in den seitens des Kindes genannten Spielen die Charaktere kriminelle Handlungen begingen und die Spiele selbst von Gewaltszenen bestimmt würden, etwa einer nicht umgehbaren Folterszene. Werde ein Film oder Spiel mit einer sog. Einstufung „USK ab 18“ versehen, so beruhe dies auf einer sachverständigen Einschätzung, dass diese Medien Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren nicht zugänglich zu machen seien. Die seelische Entwicklung eines 10-jährigen Kindes werde bereits bei bloßer Ansicht und erst recht beim Durchleben der Spielszenen massiv gefährdet. Eltern hätten daher sicherzustellen, dass einem Kind derartige Spiele nicht (mehr) zur Verfügung gestellt würden. Der Einwand eines Elternteils, dass solche Spiele auch von vielen anderen Kindern im Alter des eigenen Kindes gespielt würden, sei rechtlich nicht beachtlich.

Grundsätzlich ist die Pflege und Erziehung eines Kindes nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG originäre Aufgabe der Eltern, wobei zudem aus Art. 8 EMRK die staatliche Achtung des Familienlebens folgt. In dieses verfassungsrechtlich garantierte Elternrecht darf der Staat jedoch eingreifen, wenn Gründe des Kindeswohls dies dringend erfordern. Dieses staatliche Wächteramt wird einfachgesetzlich durch § 1666 BGB konkretisiert. Danach hat das Familiengericht Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung einer Gefahr für das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes erforderlich sind, soweit die Eltern zur Abwendung dieser Gefahr nicht willens oder in der Lage sind. § 1666 Abs. 3 BGB sieht in einer enumerativen Auflistung mögliche Maßnahmen in der Form von Ver- und Geboten vor, die seitens des Gerichts angeordnet werden können, um einer Kindeswohlgefährdung zu begegnen. Dieser Katalog möglicher Auflagen ist nicht abschließend. Der BGH hat in seiner Rechtsprechung (BGH v. 23.11.2016 – XII ZB 149/16, FamRB 2017, 48) vielmehr darauf hingewiesen, dass auch andere zur Gefahrenabwehr geeignete Weisungen in Betracht kommen, die, wenn sie wesentlich in Grundrechte eines Betroffenen eingreifen und nicht durch den Katalog des § 1666 Abs. 3 BGB umfasst sind, aber einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage bedürfen.

In der Praxisberatung sollte umfassend auch über die verfahrensrechtlichen Grundsätze eines Kindschaftsverfahrens informiert werden und zwar nach Möglichkeit nicht erst dann, wenn bereits das Mandat zur gerichtlichen Regelung erteilt wurde. Den Verfahrensbeteiligten sollten die Prinzipien des Amtsermittlungsgrundsatzes vor Augen geführt werden, d.h., es sollte ihn verdeutlicht werden, dass das Gericht auch auf der Grundlage im Lauf des Verfahrens erlangter Informationen letztlich von Amts wegen Ge- und Verbote anordnen kann, die möglicherweise so von ihnen nicht bedacht und wohl auch nicht gewünscht sind. Soweit in dem konkret entschiedenen Sachverhalt des AG Bad Hersfeld sich die Mutter sogar dahin eingelassen hat, dass sie ihrem 10-jährigen Sohn ohne gerichtliche Entscheidung ein erst ab 18 Jahren zugelassenes Videospiel nicht untersagen könne, wäre auch bereits außergerichtlich ein deutlicher Hinweis auf grundlegende Fragen der Erziehungseignung nicht fehl am Platz gewesen.

Religion versus Erziehungseignung? (OLG Hamm v. 12.5.2017 – 4 UF 94/16)

In einer Zeit, in der Mord und sonstige menschenverachtende Gewalttaten mit einer angeblichen religiösen Motivation und Legitimation begangen werden, ist es zugegebenermaßen nicht immer einfach, sich mit der gebotenen Vehemenz von den üblichen Stammtischrednern und den von ihnen geschürten Ängsten zu distanzieren, wonach alles Fremde für die in ihrem Weltbild negativen Veränderungen verantwortlich sein soll. Menschen, die selbst nicht im Ansatz irgendeinen Bezug zu jener Religion besitzen, die sie mit leeren Worthülsen einer längst vergangen Zeit angeblich vor Gefahren schützen wollen, die von anderen Religionen drohen sollen, nähren den Boden, auf dem Misstrauen und Intoleranz wächst, die geeignet sein können, eine Gesellschaft zu spalten und Grundwerte zu zerstören, die Generationen hart erarbeitet haben.

Religion als Wertequelle einer Gesellschaft kann unterschiedliche Darstellungsformen haben. Ebenso wie sie ggf. dem absolut privaten Bereich vorbehalten bleiben kann, kann es dem Einzelnen ein Bedürfnis sein, die Zugehörigkeit zu einer Religion auch äußerlich zu dokumentieren, etwa durch Einhaltung einer strengen Kleidungsordnung. In einer Gesellschaft, für die die Glaubensfreiheit nach Art. 4 GG gilt, darf dieses äußerliche „Anderssein“ nicht dazu führen, dass auch in rechtlichen Wertungen mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen wird.

Das OLG Hamm hat sich in einer aktuellen Entscheidung mit einer Frage dieses Kontextes auseinandergesetzt. In dem zugrunde liegenden Sachverhalt stritten die Eltern um die Sorge für ihre 2006 geborene Tochter, bezüglich derer sie ursprünglich die gemeinsame Sorge vereinbart hatten. Die Mutter war 2011 zum Islam konvertiert und ist auch nach islamischem Recht mit ihrem jetzigen Partner verheiratet. Sie vertritt eine strenge Linie des Islam und trägt eine Vollverschleierung. Der Vater war in Nigeria aufgewachsen und 2004 nach Deutschland gekommen. Während nach dem Sachvortrag der Mutter die frühere Beziehung von Gewalttätigkeiten bestimmt wurde, trat der Vater dieser Darstellung entgegen. Zuletzt gerichtlich vereinbarte Umgänge des Vaters mit dem Kind fanden nicht statt, da die Mutter sie mit unterschiedlichen Gründen absagte. Dem Antrag der Mutter auf Übertragung der alleinigen Sorge trat der Vater mit einem eigenen Antrag entgegen. Die erstinstanzliche Entscheidung, wonach der Mutter die Alleinsorge übertragen wurde, hat die Beschwerdeinstanz bestätigt unter Verweis darauf, dass religiös bedingt zwischen den Eltern keine zu vereinbarenden Wert- und Erziehungsvorstellungen bestünden und damit die für die gemeinsame Sorge notwendige Kommunikationsbasis nicht existiere. Bestätigt hat der Senat auch die Sorgerechtsübertragung gerade auf die Mutter des Kindes, da zu ihren Gunsten wesentliche Kriterien der vorzunehmenden Kindeswohlprüfung sprachen. Zwar sah der Senat die streng islamische Erziehung des Kindes als eher ungünstig, wobei insbesondere aus dem Vorleben der Vollverschleierung Nachteile abgeleitet wurden. Allerdings hat der Senat ebenso festgestellt, dass das im Übrigen normal entwickelte Kind einen positiven Bezug zur Schule besaß und selbst eine hohe berufliche Ausbildung anstrebte. Neben einer den kindlichen Bedürfnissen entsprechenden Freizeitgestaltung wurde auch eine ausreichende soziale Integration festgestellt, wobei das Kind darauf verwies, dass das Tragen eines Kopftuchs in der Schule kein Problem sei, da dies auch von einigen anderen Mitschülerinnen so gehandhabt werde. Der Mutter wurde zudem ein liebevolles und zugewandtes Erziehungsverhalten bestätigt.

Die rechtliche Situation stellt sich so dar, dass einem Elternteil – bei bereits bestehender gemeinsamer Sorge – nach § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB die Alleinsorge für ein Kind zu übertragen ist, wenn im Rahmen der sog. großen Kindeswohlprüfung auf erster Stufe festgestellt wird, dass die Aufhebung der bestehenden gemeinsamen Sorge dem Kindeswohl am besten entspricht und sodann auf der zweiten Stufe festgestellt wird, dass gerade die Übertragung der Alleinsorge auf den antragstellenden Elternteil die dem Kindeswohl am besten entsprechende Regelung darstellt.

Die Aufhebung der gemeinsamen Sorge ist dann geboten, wenn zwischen den Eltern die erforderliche Kooperationsfähigkeit und Kooperationswilligkeit als Grundlage der gemeinsamen Ausübung der elterlichen Sorge nicht besteht, d.h. sie im Interesse des Kindes nicht in der Lage sind Differenzen zurückzustellen und den jeweils anderen Elternteil als gleichwertigen Bindungspartner des Kindes zu akzeptieren. Eine dem Kindeswohl dienende Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge setzt dabei zwingend voraus, dass die Eltern dem Wohl des Kindes dienende Entscheidungen gemeinsam treffen können.

Soweit darüber hinaus aber auch die Übertragung der Alleinsorge gerade auf den antragstellenden Elternteil die dem Kindeswohl am besten entsprechende Regelung darstellen muss, ist der unbestimmte Rechtsbegriff des Kindeswohls durch bestimmte Kriterien näher zu präzisieren. Hierzu gehört etwa die Erziehungseignung eines Elternteils, wobei dessen Religionszugehörigkeit ggf. dieser Eignung entgegenstehen kann, wenn eine repressive Religionslehre in der Umsetzung eines beeinträchtigenden Erziehungsstils negativen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes nimmt. Neben der Erziehungseignung sind aber auch die Bindung des Kindes zu seinen Eltern oder Geschwistern zu bewerten sowie der ggf. seitens des Kindes ausdrücklich geäußerte und autonom gebildete Wille. Neben dem Kontinuitätsgrundsatz, d.h. der Bewertung, welcher Elternteil auch weiterhin eine gleichmäßige Erziehung und Betreuung des Kindes gewährleisten wird, ist letztlich das Förderungsprinzip zu bewerten, d.h. die pädagogische Kompetenz eines Elternteils, dem Kind auf seinem weiteren Lebensweg die notwendige Sicherheit und Orientierung zu geben. Dies sah das Gericht vorliegend bei der Mutter als gegeben an.

In der Praxisberatung muss bei jeder zu treffenden Sorgerechtsregelung das Kindeswohl im Mittelpunkt der durchzuführenden Prüfung stehen. Selbst soweit ein Elternteil sich für eine strenge religiöse Ausrichtung des eigenen Lebens entschieden hat, führt dies ebenso wenig dazu, dass das Kind diese zwingend auch für sein Leben übernehmen muss, noch dass daraus per se eine mangelnde Erziehungseignung eines Elternteils abzuleiten wäre. Die Sicherung der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und seiner sozialen Integration sind allein die Prüfungsmaßstäbe.