Wer ist eigentlich für Gerechtigkeit zuständig? (zu BGH v. 27.6.2018 – XII ZB 499/17)

Was Gerechtigkeit ist, ist eine philosophisch schwierige Frage. Ebenso die Frage, wer für sie zuständig ist. Ein Blog-Beitrag wird nicht klären, was die gesellschaftliche Diskussion bislang nicht geschafft hat. Eine Entscheidung des BGH zum Versorgungsausgleich indessen hilft weiter.

Der Fall ist schnell berichtet: M(62) und F(52) lassen sich scheiden. Zum Ehezeitende (2013) ist M Rentner. Der betriebliche Versorgungsträger teilt die ehezeitliche Rente von M mit 1.975 € mit und schlägt als Ausgleichswert eine Rente für F i.H.v. 1.570 € vor. Dieser Wert ergibt sich aus der Umrechnung der Mannesrente in einen Kapitalwert, dessen Halbteilung und der Umrechnung des hälftigen Kapitalwerts in eine Frauenrente. Deren die Halbteilung deutlich übersteigender Wert resultiert aus dem deutlich geringeren Alter der F.

Das Familiengericht hält sich nicht an den Vorschlag des Versorgungsträgers und begründet zugunsten der F eine Versorgung aus einem Ausgleichswert von 170.000 €. Dieser Systemwechsel (von Rente zum Kapital) empört die F, sie legt Beschwerde ein. Das OLG gibt dieser statt und begründet für F, wie vom Versorgungsträger vorgeschlagen, eine Versorgung in Höhe von 1.570 € anstelle des Kapitalwerts. Das empört nun den Mann, der die zugelassene Rechtsbeschwerde einlegt. Der BGH beschließt – dogmatisch korrekt – die Versorgung sei auf der Basis ihrer Bezugsgröße zu teilen, diese habe der Versorgungsträger als Rente angegeben, also müsse die Halbteilung auf Rentenbasis erfolgen. Er weist den Fall an das OLG zurück, das nun zu ermitteln hat, wie hoch die Rente des inzwischen Rente beziehenden M aktuell ist, damit deren aktualisierter Ehezeitanteil hälftig geteilt wird.

Na prima, wird der eilige Leser sagen, die Rententeilung ist doch das Gerechteste, was überhaupt passieren kann. Der Gesetzgeber hat einen allgemeinen Rahmen geschaffen, den die Gerichte – wenn auch über drei Instanzen mit unterschiedlichen Ergebnissen – schließlich zu einem individuell gerechten Ergebnis konkretisiert haben. Beide erhalten – bezogen auf die Ehezeit – die gleiche Rente, keine Transferverluste, der vollständige Sieg nomineller Gerechtigkeit.

Der Schein trügt. Für M und F ist nicht maßgeblich, ob im Ehezeitende 2013 gleich hohe Rentenanteile begründet werden, sondern dass sich die Renten auch gleich entwickeln. Das ist aber bei der vom BGH dogmatisch begründeten Lösung nicht der Fall, weil M seine Rente altersbedingt 10 Jahre vor F erhält. Aus seinem ehezeitlichen Rententeil von 1.975 / 2 = 987,50 € sind bei anzunehmender Leistungsdynamik von 1,75 % bei Renteneintritt von F bereits 1.175 € geworden. F wird aber bei Renteneintritt nur 987,50 € Rente erhalten. Dass sie ein Rentenminus von rd. 200 € monatlich als gerecht empfinden wird, ist zu bezweifeln.

An dieser Stelle kommen nun Beteiligte und Anwaltschaft bei der Suche nach Gerechtigkeit ins Spiel. Auch das Verfahrensrecht dient in seiner formalen Strenge der Gerechtigkeit. Eines ist nämlich gewiss: M verliert die Hälfte seines ehezeitlichen Versorgungserwerbs, also 987,50 €, ab Rechtskraft der Entscheidung, gleichgültig ob auf Kapital- oder Rentenbasis geteilt wird. F könnte aber 1.570 € Rente statt 987,50 € bekommen, wenn es bei der Entscheidung des OLG oder des Familiengerichts verbliebe. Die Umrechnung des Kapitalwerts von 170.000 € in eine Rente erbrächte ebendieses Ergebnis. Nähme also F ihre Beschwerde zurück, erwüchse die Entscheidung des Familiengerichts in Rechtskraft. F hätte eine schöne Rente, M keinen Nachteil und der Versorgungsträger keinen Vorteil. Die BGH-Lösung führt beim Versorgungsträger nämlich zu einer Einsparung von rd. 70.000 €. Im Interesse des ungekürzten weiteren Versorgungsbezugs durch M, der für F nicht nachteilig ist, sollten die beiden das Verfahren noch ein wenig verzögern. F sollte dann ihre Beschwerde zurücknehmen, bevor sie selbst in Rente geht. Das wäre dann eine gute anwaltliche Taktik, um M das „Rentnerprivileg“ zu verschaffen (vgl. dazu den Blogbeitrag des Verfassers „Das Märchen vom teuren Rentnerprivileg“).

Die eingangs gestellte Frage nach der Zuständigkeit wäre damit beantwortet: Alle Beteiligten sind zuständig, gerechte Ergebnisse zu produzieren: Der Gesetzgeber, indem er allgemeine Regelungen aufstellt und bei erkannten Fehlern zügig auch repariert, die Gerichte, indem sie diese Regeln auf den Einzelfall anwenden und im Rahmen ihrer judikativen Kompetenz ergänzen, und die Anwaltschaft, indem sie ihre Mandanten robust dazu anhält, sinnvolle Lösungen zu finden. Das vorliegende Beispiel zeigt, dass bei Verständnis für die Systematik von Versorgungen und ihres Ausgleichs ohne Schwierigkeiten Win-Win-Situationen zu vereinbaren sind.

 

Das Märchen vom „teuren Rentnerprivileg“ – Zur Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zu den Auswirkungen der Abschaffung des Rentnerprivilegs

Die 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags neigte sich schon dem Ende zu, als mehrere Abgeordnete und die Bundestagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN von der Bundesregierung wissen wollten, ob sich die Abschaffung des Rentnerprivilegs im neuen Versorgungsausgleich bewährt habe (BT-Drucks. 18/13470). Die Frage ist berechtigt, denn immerhin führt die Abschaffung des Rentnerprivilegs in laufenden Rentenbezugsfällen oftmals zur Halbierung der Renteneinkünfte der Betroffenen. Das löst für diese ernste soziale Probleme aus.

In ihrer Antwort (BT-Drucks. 18/13594) verteidigt die Bundesregierung die Abschaffung des Rentnerprivilegs mit einer Demagogie. Sie führt aus, dieses Privileg führe „zu Belastungen des Versorgungsträgers des Ausgleichspflichtigen, da trotz Durchführung des Versorgungsausgleichs zunächst in voller Höhe weiterhin an die privilegierten Ausgleichspflichtigen zu leisten war, später an den Ausgleichsberechtigten“.

Das Argument unberechtigter Kostenbelastung ist aber falsch. Das Rentnerprivileg steht nämlich zu Unrecht im Verdacht, die Versorgungsträger zu ruinieren. Dies macht folgende Kontrollüberlegung deutlich: Ein Versorgungsträger, der ein Rentenversprechen an einen verheirateten Versicherten gegeben hat, hat schlimmstenfalls (bei hohen Altersabstand der Eheleute) an den Versicherten die volle Altersrente und an seine Witwe über deren Restlebenserwartung die Hinterbliebenenversorgung zu zahlen. Diese beträgt im Regelfall 60 % der Altersrente des Versicherten. Schlimmstenfalls kommt also eine Leistungspflicht i.H.v. 160 % der Versorgungszusage auf den Versicherungsträger zu. Da der Altersabstand in der Regel aber nur 3–4 Jahre beträgt, liegt die tatsächliche Belastung deutlich darunter. Lässt sich nun unser Versicherter bei Erreichen der Regelaltersgrenze scheiden, würde der Versorgungsträger bei Fortgeltung des Rentnerprivilegs an den Versicherten 100 % des Ehezeitanteils der Versorgung zu zahlen haben und an seinen Ehegatten 50 %. Insgesamt also schlimmstenfalls 150 % des Versorgungsvolumens. Ohne Rentnerprivileg sieht die Sache für den Versorgungsträger noch schöner aus: Die Leistung an den Versicherten reduziert sich auf 50 % des Ehezeitanteils und an seinen Gatten schlimmstenfalls ebenfalls auf 50 %. Insgesamt zahlt der Versorgungsträger in diesen Fällen daher nur 100 %.

Noch deutlicher wird die Ungerechtigkeit des Wegfalls des Rentnerprivilegs in Invaliditätsfällen. Wer aus einer betrieblichen Altersversorgung wegen Invalidität eine Versorgung erhält, verliert in der Regel im Scheidungsfall die Hälfte dieser Versorgung. Nur in Ausnahmefällen kann dieser Versorgungsverlust über § 35 VersAusglG kompensiert werden. Der betriebliche Versorgungsträger indessen kann sich freuen: Er spart vom Zeitpunkt der Rechtskraft der Entscheidung 50 % der Versorgung, ohne dass er für die ausgleichsberechtigte Person äquivalente Vorsorge treffen müsste. Der Versorgungsausgleich wird so zum guten Geschäft.

Das oberflächlich so einleuchtend klingende Argument, dass Rentnerprivileg werde von der Versichertengemeinschaft finanziert, ist richtig. Jede Rente wird nämlich von der Versichertengemeinschaft finanziert. Die Beiträge der planwidrig Frühversterbenden finanzieren die Renten der planwidrig Spätversterbenden. Die entscheidende Frage ist, ob die Finanzierung einer Rente unzulässigerweise zum Nachteil der Versichertengemeinschaft geschieht. Dies ist indessen nicht der Fall, wenn der Versorgungsträger lediglich das von ihm bei Erteilung der Versorgungszusage übernommene Versorgungsrisiko trägt. Der Wegfall von Rentner- und Pensionistenprivileg ist nicht mit einer angeblich ungerechtfertigten Belastung der Versichertengemeinschaft zu rechtfertigen. Der Wegfall der Versorgungsprivilegien privilegiert die Versorgungsträger und schädigt die Rentenberechtigten.

In der Antwort der Bundesregierung verblüffen einige Tabellen, aus denen sich ergibt, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung über den Versorgungsausgleich mehr Renten mit höheren Ausgleichswerten begründet als ausgeglichen werden. Dies resultiert indessen aus dem Umstand, dass im Versorgungsausgleichsfall Versorgungen der Landes- und Kommunalbeamten in die gesetzliche Rentenversicherung ausgeglichen werden und in verstärktem Maße auch von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, Betriebsrenten im Fall des externen Ausgleichs in die gesetzliche Rentenversicherung auszugleichen. Insoweit hat die Diskussion der letzten Jahre (s. z.B. zur „Qual der Wahl einer Zielversorgung“ Götsche, FamRB 2013, 151 und Hauß, FamRB 2013, 223) offenbar gefruchtet. Die gesetzliche Rentenversicherung wird als der derzeit wohl profitabelste, jedenfalls aber als der sicherste Versicherungszweig erkannt.

Übrigens: Für Soldaten wurde das Pensionistenprivileg auch schon wieder eingeführt (§ 55c SVG; s. dazu Hauß, FamRB 2015, 239) und einige Länder haben es für ihre Landesbeamten immer noch (Norpoth, FamRB 2014, 109).

Die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die GRÜNEN kam zu spät, um zum Ende der vergangenen Legislaturperiode noch legislative Aktivität auszulösen. Manchmal werden aber Märchen wahr und es wäre wahrhaft märchenhaft, würde der Gesetzgeber der Logik folgen und für alle Versorgungssysteme das Rentner-und Pensionistenprivileg wieder einführen. Weil es die Versorgungsträger nicht mehr kostet als die Fortsetzung der Ehe ihrer Versicherten, sollte man es nicht nur für die öffentlich-rechtlichen, sondern auch für alle privaten Versorgungsträger wieder einführen.

Es mag sein, dass die Versorgungsausgleichsrechtler noch lange argumentieren müssen, bis der Gesetzgeber die Ungerechtigkeit des Wegfalls von Rentner- und Pensionistenprivileg begreift. Diese beiden als „Privilegien“ denunzierten Korrektive zu reaktivieren, würde ein wirklich sinnvolles familienrechtliches Vorhaben in einer neuen Koalition sein. Bis zu seiner flächendeckenden Wiedereinführung bleibt uns Anwälten nur eins übrig: Laufende Versorgungen sollten aus dem Ausgleich ausgenommen und solche Verfahren verzögert werden. Ein paar Jahre sind da immer drin.