Kein Entzug der elterlichen Sorge auf Vorrat (Schleswig-Holsteinisches OLG v. 16.4.2019 – 10 UF 13/19)

Kindeswohlgefährdungen nehmen in der öffentlichen Diskussion immer stärkere Bedeutung ein. Dies steht nicht nur vor dem Hintergrund einer steigenden Anzahl solcher Gefährdungen, sondern auch einer deutlich verstärkten Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Gefahren, denen Kinder ausgesetzt sind. Gerade die Jugendämter stehen unter einem erheblichen Druck. Den steigenden Fallzahlen können sie in der Regel nicht mit einem gleichermaßen gestiegenen Personalbestand begegnen. Auch wird die Bewertung von Gefährdungssituationen immer stärker durch verfassungsrechtliche Grundfragen überlagert, d.h. Jugendamtsmitarbeiter, die in der Regel über eine sozialpädagogische Ausbildung verfügen, sollen immer häufiger spezifische juristische Fragen – typischerweise auch unter besonderem Zeitdruck – adäquat bewerten können. Die eingeleiteten familiengerichtlichen Verfahren werden in der Ausgangsinstanz in erheblichem Maß durch den persönlichen Eindruck der Eltern bestimmt, den diese nicht nur in der mündlichen Verhandlung, sondern auch in ihren bisherigen Kontakten mit dem Jugendamt hinterlassen haben. Die gerichtliche Entscheidung bezüglich der zum Schutz der Kinder erforderlichen Maßnahmen und den gleichzeitig zu wahrenden Elternrechten ist nicht selten eine Gratwanderung.

Mit den sich daraus ergebenden Problemen zum Umfang kindesschutzrechtlicher Maßnahmen hat sich das OLG Schleswig in einer aktuellen Entscheidung befasst. In dem zugrunde liegenden Sachverhalt hatte das Jugendamt wegen einer unzureichenden Versorgungssituation die im Haushalt der alleinsorgeberechtigten Mutter lebenden Kinder in Obhut genommen. In dem eingeleiteten familiengerichtlichen Verfahren hatte das Jugendamt auf die mangelnde Förderung der Kinder durch die Mutter verwiesen und ebenso darauf, dass mit ihr, folgend aus ihrer Unzuverlässigkeit, eine konstruktive Zusammenarbeit nicht möglich sei. Das Ausgangsgericht hat der Mutter – nach eingeholtem Sachverständigengutachten zur Frage der Erziehungsfähigkeit beider Elternteile und der Prüfung, ob einer Kindeswohlgefährdung auch mit ambulanten Hilfen begegnet werden kann – die elterliche Sorge vollumfänglich entzogen. Gegen diese Entscheidung legt die Mutter Beschwerde ein.

Der Senat ändert die Ausgangsentscheidung insoweit ab, als der Mutter nur Teilbereiche der elterlichen Sorge entzogen werden. Zur Begründung verweist der Senat auf den zu wahrenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wonach ein vollständiger Sorgerechtsentzug nicht zulässig ist, wenn zur Gefährdungsabwendung die Entziehung einzelner Sorgerechtsbereiche genügt. Zu den einzelnen Teilbereichen der elterlichen Sorge führt der Senat sodann jeweils aus, inwieweit es im konkreten Fall tatsächlich eines Eingriffs in die elterliche Sorge bedarf, etwa hinsichtlich der Sicherung der Gesundheitsfürsorge oder der Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen. Gleichzeitig verweist er darauf, dass es auch Teilbereiche der elterlichen Sorge im konkreten Fall gibt, bezüglich derer weder Unstimmigkeiten bestehen noch es einen Klärungsbedarf gibt. In diesem Fall würde der Entzug der elterlichen Sorge in diesen Bereichen einen unverhältnismäßigen und unzulässigen Vorratsbeschluss darstellen. Zudem verweist der Senat auf das Recht der Umgangsbestimmung, bei dem eine gerichtliche Umgangsentscheidung als milderes Mittel vorrangig ist und der Entzug des Bestimmungsrechts daher erst dann in Betracht kommt, wenn es trotz der familiengerichtlichen Regelung zu einer kindeswohlgefährdenden Situation käme. Ebenso stellt der Senat klar, dass die Pflegeperson, in deren Obhut sich künftig die Kinder aufhalten werden, gesetzlich berechtigt ist, Angelegenheit des täglichen Lebens eigenständig wahrzunehmen, so dass es auch hierzu keiner gerichtlichen Regelung bedarf.

Das Schleswig-Holsteinische OLG hat in seiner Entscheidung uneingeschränkt eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung umgesetzt. Das aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG folgende Elternrecht auf Pflege und Erziehung der Kinder ist ein natürliches Recht der Eltern, das sie grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen gestalten können. Leitende Richtschnur ist allerdings das Kindeswohl. Insoweit obliegt dem Staat ein Wächteramt, das einfachrechtlich in § 1666 BGB ausgestaltet wird. Zum Schutz eines Kindes sind danach familiengerichtliche Maßnahmen einzuleiten, wenn eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, d.h. eine gegenwärtige Gefahr, so dass bei weiterer Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes entweder bereits eingetreten oder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Zur Annahme dieser hinreichenden Wahrscheinlichkeit bedarf es konkreter Verdachtsmomente bzw. muss der für das Kind drohende Schaden erheblich sein. Im Rahmen der sodann durchzuführenden Verhältnismäßigkeitsprüfung bedarf es der Feststellung, dass die familiengerichtlich einzuleitenden Maßnahmen zur Gefahrenabwehr geeignet und erforderlich sind, d.h. es dürfen insbesondere keine niederschwelligeren Maßnahmen im konkreten Fall ausreichend sein. Zudem muss der gerichtliche Eingriff unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände zumutbar sein, so dass neben der Schwere des Eingriffs auch dessen Folgen abzuwägen sind.

Kindeswille gleich Kindeswohl ? (OLG Köln v. 28.3.2019 – 10 UF 18/19)

Dem Praktiker sind diese typischen Besprechungstermine hinlänglich bekannt. Es erscheint ein Elternteil zur Rücksprache und trägt mit Vehemenz vor, dass es einer zwingenden Neuregelung der elterlichen Sorge bedarf. Die für diese Einschätzung benannten Argumente sind wenig überzeugend, so dass letztlich zum alles entscheidenden Argument ausgeholt wird – dem ausdrücklich vom Kind geäußerten Willen. Es heißt, dass das Kind sich nichts anderes wünscht, als dass genau dieser Elternteil künftig die Alleinsorge ausüben soll, und das ja auch nachvollziehbar erscheint, da es ohnehin vor und nach jedem Kontakt mit dem anderen Elternteil weint bzw. massive Verhaltensauffälligkeiten zeigt. Nicht immer gelingt es, Eltern davon zu überzeugen, dass möglicherweise dieser geäußerte Wille nichts mit der tatsächlichen Willenslage des Kindes zu tun hat und allein der Kindeswille nicht zwingend zu der gewünschten gerichtlichen Entscheidung führen wird.

In diesem Sinn hat auch das OLG Köln in einer aktuellen Entscheidung einen Sorgerechtsantrag zurückgewiesen. Die Eltern stritten über die Alleinsorge für ihre 13-jährige Tochter, die nach dem Sachvortrag der Mutter sich ausdrücklich dafür ausgesprochen hatte, dass künftig die Sorge allein von ihr wahrgenommen werden sollte. Ebenso wie das Ausgangsgericht hat auch die Beschwerdeinstanz den Antrag zurückgewiesen und seine Entscheidung damit begründet, dass mit Blick auf die Frage der Kooperationsbereitschaft der Eltern weder konkret und maßgebende Streitigkeiten zu Angelegenheiten der elterlichen Sorge vorgetragen worden oder auch nur ersichtlich seien. Der elterliche Streit konzentriere sich vielmehr darauf, was für die Haltung der Tochter mit Blick auf ihre derzeitige Weigerung zur Wahrnehmung von Umgangskontakten mit ihrem Vater ursächlich sei. Schwierigkeiten bei der Abstimmung von Sorgerechtfragen würden lediglich befürchtet. Die Mutter verkenne in ihrer Argumentation, dass aus der Beachtlichkeit des Kindeswillens nicht per se folge, dass die elterliche Entscheidungskompetenz und -verantwortung auf das Kind „abgewälzt“ werden dürfe. Der Kindeswille könne nur dann als Argument zur Aufhebung der gemeinsamen Sorge herangezogen werden, wenn dies auch durch objektive Kindeswohlgründe unterstützt werde. Bei der Bewertung des erklärten Kindeswillens müsse stets berücksichtigt werden, inwieweit dieser Wille stabil sei oder die kindlichen Äußerungen sich schwankend und unentschlossen darstellten, da dies häufig der Ausdruck eines Loyalitätskonflikts sei.

Der unbestimmte Rechtsbegriff des „Kindeswohls“, wie er in der sog. doppelten Kindeswohlprüfung des § 1671 BGB auszulegen ist, wird durch verschiedene Kriterien näher präzisiert, etwa dem Förderungsprinzip, dem Kontinuitätsgrundsatz aber auch dem Kindeswillen. Diese Kriterien sind jeweils auf den Einzelfall bezogen zu prüfen und stehen in ihrer Wertigkeit kumulativ nebeneinander, wobei durchaus eines dieser Kriterien letztlich entscheidungsrelevant werden kann, wenn die Eltern zu keinem der sonstigen Aspekte wesentlich differenzieren.

Dem Kindeswillen wird in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung erhebliche Bedeutung beigemessen, da er Ausdruck einer eigenen Entscheidung des Kindes als Grundrechtsträger ist und seine Willensäußerung als Ausübung seines Rechts auf Selbstbestimmung gesehen wird. In Umsetzung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben sieht daher § 159 FamFG ausdrücklich die Anhörung des Kindes im familiengerichtlichen Verfahren vor. Allerdings ist der geäußerte Wille des Kindes auch darauf zu prüfen, ob er Ausdruck einer eigengebildeten Meinung oder Ergebnis einer elterlichen Manipulation ist. Der geäußerte Kindeswille, der ersichtlich von unrealistischen Vorstellungen bestimmt wird, wird ebenso wenig Grundlage einer gerichtlichen Entscheidung sein können, wie der subjektiv geäußerte Wille, der mit dem objektiven Kindeswohl nicht in Einklang zu bringen ist.

Diese Fragen sind – auch wenn es nicht unbedingt auf die Gegenliebe des Mandanten stößt – offen zu klären, bevor ein Sorgerechtsverfahren eingeleitet wird, in dessen Verlauf ein Kind möglicherweise noch tiefer in einen ohnehin schon bestehenden Loyalitätskonflikt geführt wird.