Justitia ist – glaubt man an eine Götterwelt – die Göttin der Gerechtigkeit. Seit vielen Jahrhunderten wird sie meist mit einer Augenbinde dargestellt. Die Augenbinde ist heutzutage kein Spott mehr, sondern neben der Waage das Symbol für die Unparteilichkeit, also das richten ohne Ansehen der Person.
Schaut man auf die eine oder andere Entscheidung, könnte man – wie zum Beginn der Darstellungen der Justitia mit einer Augenbinde – meinen, die Augenbinde stehe im Einzelfall auch für die Fähigkeit, nicht alles zu sehen. Ein Beispiel. BGH, Beschluss vom 11. Mai 2017 – V ZB 52/15 – Rz. 15 unterrichtet unter Bezugnahme im Wesentlichen auf Palandt davon, durch einen Beschluss der Wohnungseigentümer könne ein Vertrag zwischen der Gemeinschaft und einem Ersatzzustellungsvertreter zustande kommen. Beim Beschluss des Gerichts nach § 45 Abs. 3 WEG sei es nicht anders.
In § 45 Abs. 2 Satz 1 WEG heißt es indes ebenso wie in § 45 Abs. 3 WEG „Bestellung“. Dies deutet womöglich darauf hin, die Wohnungseigentümer – und ebenso das Gericht – bestellten durch einen Beschluss eine Person. Denn von einem Vertrag steht da nichts. Und das zu Recht. Denn natürlich kann der Ersatzzustellungsvertreter einen Vertrag schließen. Das ist sogar sinnvoll. Der Vertrag (die Anstellung) ist aber von der Bestellung zu unterscheiden. Wie beim Verwalter. Und wie beim Verwaltungsbeirat. Auch nach dem von Bundesgerichtshof zitierten Palandt ist daher zu unterscheiden. In der aktuellen Auflage heißt es in dem eigentümlichen „Palandt-Deutsch“ bei § 45 WEG Rz. 6 wie folgt:
„Davon [Anm. des Verfassers: von der Bestellung] zu unterscheiden ist der Vertretervertrag (BGB 662 [zB bei WEigtümer] od 675 [zB bei RA]) zw der GdWE u dem Bestellten. Über Angebot an Bestellten einschl VertrInhalt (zB Vergütg, Form der Unterrichtg, AufwendgsErsHöhe) bzw Annahme dessen Angebots wird ebenfalls mit Mehrh beschlossen (entspr § 26 Rn 12 ff); idR wird er dch den Austausch von Bestellgs- u AnnahmeErkl stillschw geschlossen. Vergütg (BGB 611, 612) u AufwendgsErs (zu dessen Höhe vgl LG Mü ZMR 10, 803) einschl Vorschuss (BGB 669, 670) werden von der GdWE geschuldet u getragen“.
So – in der Regel allerdings lesbarer – steht es in jedem aktuellen Kommentar bei § 45 WEG (auf Nachweise verzichte ich an dieser Stelle mit Freuden). Ferner findet sich auch in jedem aktuellen Kommentar, aber auch in Habilitationsschriften und Aufsätzen, etwas zur Frage, ob Wohnungseigentümer durch Beschluss namens der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer einem Dritten ein Angebot machen können oder ob der Beschluss nur ein Weg ist, einen Willen zu bilden, der dann aber noch durch Abgabe eines Angebots auszuführen ist (siehe dazu nur § 27 Abs. 1 WEG).
Zwar mag man selbst der Auffassung sein, (auch) durch Beschluss könne ein Angebot ausgesprochen werden. Vielleicht hat man dabei sogar gute, gar die besseren Argumente auf seiner Seite. Diese sollte man dann aber auch nennen. Tut man es nicht, bleibt leichter Argwohn, man wolle das andere einfach nicht sehen. Die Bedenken sind im konkreten Fall wahrscheinlich nicht begründet – man war sich wohl seiner Ansicht am Ende einer Entscheidung einfach sehr sicher und sah bei den abrundenden Hinweisen keinen genügenden Anlass, den Blick schweifen zu lassen. Das hätte man aber tun können – und wohl auch tun sollen. Denn so könnte der Ungerechte meinen, Justitia trüge auch zur Unzeit eine Augenbinde.
Im Übrigen: In vielen Gerichten findet man die Augenbinde – aber nicht immer. Warum auch nicht? Denn hat Justitia ihr Urteil gefällt, kann sie doch den Menschen ins Gesicht sehen und sollte es tun. Verlässt man das Gericht, etwa das Oberlandesgericht in Berlin, kann es daher schon sein, dass Justitia einen streng beäugt. Im Übrigen soll in Preußen seiner Majestät Minister der öffentlichen Arbeiten mit Schreiben vom 18. Januar 1907 sogar bestimmt haben, bei „künftigen Gerichtsbauten die Justitia ohne Augenbinde auszuführen“ (http://www.lto.de/recht/feuilleton/f/symbol-im-modernen-rechtstaat-justitia-reif-fuer-die-besenkammer/). Na dann.