Corona-Eindämmungsverordnungen: Ist die 800 m²-Grenze verfassungswidrig?

Innerhalb von nur knapp einer Woche nach Inkrafttreten der jüngsten „Corona-Eindämmungsverordnungen“ der Bundesländer liegen bereits verschiedene Gerichtsentscheidungen zur (Nicht-)Verfassungsgemäßheit der 800 m²-Grenze für Einzelhandelsgeschäfte vor, die Einzelhändler zum Betrieb/Nichtbetrieb ihrer Ladenflächen berechtigen. Die bereits befürchtete „Rechtszersplitterung“ in den Bundesländern ist nunmehr auch „Alltag“ bei den Verwaltungsgerichten. Denn diese sind sich uneins bei der Beantwortung der Frage, ob die 800 m²-Grenze verfassungswidrig ist oder nicht.

1. Verwaltungsgericht Hamburg, Bayerischer Verwaltungsgerichtshof und Oberverwaltungsgericht Saarlouis einerseits

Das Verwaltungsgericht Hamburg und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof halten die 800 m²-Grenze für verfassungswidrig. So hat das Verwaltungsgericht Hamburg mit Beschluss vom 21.04.2020 (Az.: 3 E 1675/20) konstatiert, dass Mieter von Mietflächen, die größer als 800 m² sind, entgegen den Vorgaben in der Hamburger Rechtsverordnung (wieder) öffnen dürfen. Das Verwaltungsgericht Hamburg bejaht insoweit einen Eingriff in die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG und einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG). Ebenso wie das Verwaltungsgericht Hamburg hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 27.04.2020 (Az.: 20 NE 20.793) einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffend die bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung stattgegeben und klargestellt, dass die Verkaufsflächenregelung von 800 m² nicht dem Gleichheitssatz entspricht. Mit gleicher Argumentation hat der 2. Senat des Oberverwaltungsgerichts Saarlouis in seinem Beschluss vom 27.04.2020 (Az.: 2 B 143/20) im Eilverfahren entschieden, dass Einrichtungs- und Möbelhäuser unter Gleichheitsgesichtspunkten nach der Corona-Verordnung nicht als auf eine Verkaufsfläche von 800 m² begrenzte Geschäfte des Einzelhandels zu behandeln seien.

2. Oberverwaltungsgericht Hamburg und Oberverwaltungsgericht Saarlouis sowie Oberverwaltungsgericht Lüneburg andererseits

Demgegenüber entschied das Oberverwaltungsgericht Saarlouis in einem Eilverfahren mit Beschluss vom 24.04.2020 (Az.: 2 B 122/20), dass die Kaufhäuser der Galeria Karstadt Kaufhof im Saarland weiterhin geschlossen bleiben müssen. Die Begrenzung der zulässigen Verkaufsfläche auf 800 m² sei nach Auffassung des Oberverwaltungsgericht Saarlouis nicht zu beanstanden, da der Verordnungsgeber die Größe der Verkaufsfläche als Maßstab für den Käuferzustrom zugrunde gelegt habe und großflächige Einzelhandelsbetriebe, die aufgrund ihrer Größe regelmäßig ein breites Warensortiment oft zu günstigen Preisen anbieten und präsentieren könnten, als Einkaufsort besonders attraktiv seien. Im Einklang damit hat das Oberverwaltungsgericht Hamburg in einer Zwischenverfügung vom 22.04.2020 (Az.: 5 Bs 64/20) der Beschwerde der Stadt Hamburg stattgegeben und hat – entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts Hamburg (siehe zuvor unter 1.) – entschieden, dass die Betreiberin eines Sportwarengeschäfts in der Hamburger Innenstadt dieses vorläufig – zunächst befristet bis zum 30.04.2020 – nur mit einer maximalen Verkaufsfläche von 800 m² betreiben darf. Auch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg ist in seinem Beschluss vom 27.04.2020 (Az.: 13 MN 98/20) der Auffassung, dass die Flächenbeschränkung von 800 m² eine notwendige infektionsschutzrechtliche Maßnahme darstellt und hat ein Verkaufsverbot für Geschäfte über 800 m² Verkaufsfläche bestätigt. Ein anderes solle indes nach der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Saarlouis in seinem Beschluss vom 24.04.2020 (Az.: 2 B 122/20) für Möbel- und Einrichtungshäuser gelten.

3. Oberverwaltungsgericht Münster

Das Oberverwaltungsgericht Münster will in dieser Woche über die 800 m² Regel in der nordrheinwestfälischen Verordnung entscheiden.

4. Streitgegenständliche Sachverhalte und gerichtliche Entscheidungen

Die Sachverhalte in den verschiedenen Fällen waren jeweils nahezu gleich gelagert. Die Antragsteller sind jeweils im Einzelhandel tätig und betreiben Einzelhandelsgeschäfte, die die Grenze von 800 m² überschreiten. Sie wandten sich – im Eilrechtsschutz – gegen die behördlichen Betriebsuntersagungen und machten geltend, dass die andauernde Betriebsschließung existenzgefährdend sei.

Das Verwaltungsgericht Hamburg und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sehen insoweit u.a. einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Denn die Freistellung von Buchhandlungen und Fahrradhändlern etc. ohne Begrenzung der Verkaufsfläche sei aus infektionsschutzrechtlicher Sicht sachlich nicht gerechtfertigt. Mit Blick auf den Gleichheitsgrundsatz sei zudem zu beanstanden, dass nach dem Wortlaut der Verordnung (in Bayern) im Fall der Ladenöffnung nur sonstige Einzelhandelsbetriebe eine Begrenzung der Kundenzahl auf einen Kunden je 20 m² sicherstellen müssen, nicht aber die übrigen Einzelhändler (so der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, a.a.O.). Das Verwaltungsgericht Hamburg bejaht darüber hinaus einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG. Denn die Differenzierung zwischen Verkaufsstellen des Einzelhandels mit einer Verkaufsfläche bis 800 m², die öffnen dürfen, und größeren Verkaufsstellen, die lediglich in einem bis zu dieser Größe reduzierten Umfang öffnen dürfen, sei nicht geeignet, die hiermit verfolgten Zwecke umzusetzen.

Während das Oberverwaltungsgericht Hamburg die Erfolgsaussichten der Beschwerde gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hamburg (siehe zuvor unter 1.) für offen hält, ist nach Auffassung des Oberverwaltungsgericht Saarlouis (Az.: 2 B 122/20) eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung nicht darin zu erblicken, dass in der Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 5 Nr. 1 bis 17 der Saarländischen Verordnung spezialisierte Einzelhandelsgeschäfte ohne Beschränkung der Verkaufsfläche öffnen dürften, branchenübergreifende Warenhäuser jedoch nicht. Denn diese Branchen seien mit Warenhäusern nicht zu vergleichen. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten sei eine Reduzierung des Warenangebots durch eine Verkleinerung der Verkaufsfläche auf 800 m² auch nicht zu beanstanden.

5. „Großflächigkeit“ als geeignetes Abgrenzungskriterium?

Die Grenzmarke von 800 m² ist also in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung stark umstritten. Das zu Recht. Die 800 m² Grenze ist der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 24.11.2005, Az.: 4 C 8/05) entnommen, wonach Einzelhandelsbetriebe großflächig im Sinne von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO sind, wenn sie eine Verkaufsfläche von 800 m² überschreiten. Das Merkmal der Großflächigkeit hat den Zweck, die Einzelhandelsbetriebe, auf die sich § 11 Abs. 3 BauNVO bezieht, von Vornherein abzugrenzen von kleineren Einzelhandelsbetrieben und Läden, die vor allem den Wohngebieten zugeordnet sind und für die die Zulässigkeit beschränkenden Regeln des § 11 Abs. 3 BauNVO nicht in Betracht kommen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.05.1987 – 4 C 19.85 und 4 C 30.86). Die Grundvoraussetzung der Großflächigkeit für die Anwendung des § 11 Abs. 3 BauNVO hat daher auch die Funktion, die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit nicht großflächiger Einzelhandelsbetriebe nicht auch von der Frage abhängig zu machen, ob und inwieweit sie jeweils städtebaulich nachteilige Auswirkungen haben können. Mit dem Begriff der Großflächigkeit soll damit vornehmlich städtebaulichen Auswirkungen einer Bauleitplanung begegnet werden.

Ob sich diese Grenzmarke bei der Eindämmung und Bewältigung des SARS-CoV-2-Virus heranziehen lässt, ist daher mehr als fraglich. Vor dem Hintergrund, dass das Kriterium der 800 m²-Grenze einer geordneten Stadtentwicklungsplanung dient, kommt diesem Abgrenzungskriterium nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Hamburg ein infektionsschutzrechtlicher Aspekt unmittelbar nicht zu. Das Verwaltungsgericht Hamburg stellt insoweit auch auf „mildere“ Mittel ab, beispielsweise die Umsetzung des in den jeweiligen Eindämmungsverordnungen einzuhaltenden Mindestabstands von 1,5 m. Soweit das Verwaltungsgericht Hamburg richtigerweise insoweit auf eine Überwachung dieses Mindestabstands und darauf abstellt, dass Verstöße als Ordnungswidrigkeiten geahndet werden können, stehen hier vornehmlich praktische Probleme der Umsetzung im Raume. Konkret geht es um Überwachungsmaßnahmen. Das gilt inzwischen auch für die seit Anfang dieser Woche geltende Maskenpflicht. Auch hier steht nicht selten in Frage, wer für die Überwachung der jeweiligen Pflicht Sorge zu tragen hat. Zum Teil finden sich in den jeweiligen Pressemitteilungen der Landesregierungen hierzu Vorgaben, dass „die Beachtung der Regelungen von den Geschäftsinhabern innerhalb ihrer Geschäfte genauso wie die bisherigen Vorgaben zu Mindestabständen, Personenbegrenzung etc. sicherzustellen sind“ (vgl. https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/landesregierung-fuehrt-maskenpflicht-ein).

In der Tat erscheint es naheliegender, als mildere Mittel auf eine exaktere Umsetzung der jeweiligen (weiteren) Eindämmungsmaßnahmen, wie die Einhaltung des Mindestabstands, der Maskenpflicht etc. abzustellen, als „pauschal“ auf die 800 m²-Grenze der Großflächigkeit. Die praktischen Umsetzungsprobleme stehen dem nicht entgegen, da hier – wie zuvor erwähnt – auch die jeweiligen Geschäftsinhaber in der Pflicht stehen. Hinzu kommt folgende Überlegung: Es erscheint nicht nachvollziehbar, warum beispielsweise ein „Single-Tenant-Mieter“, der ein Einzelhandelsgeschäft in einem Gebäude betreibt, welches die Grenze von 800 m² überschreitet, sein Ladenlokal nicht öffnen kann, während kleinere Mietflächen im Innenstadtbereich, bei denen die Mindestabstandsregelungen etc. zum Teil viel schwieriger einzuhalten sind, ihrerseits in die Ausnahmetatbestände der jeweiligen Landesverordnungen fallen. Sofern in der Politik zur Stütze ausdrücklich darauf abgestellt wird, dass hier wirtschaftliche Interessen (namentlich bei den Möbelhäusern) auf dem Spiel stehen (so NRW Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann), so liegen exakt die gleichen wirtschaftlichen Interessen bei denjenigen Unternehmen vor, die ihre Einzelhandelsflächen nicht betreiben dürfen. Dieses Kriterium ist also ungeeignet, um die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.

6. Ausblick

Interessant ist, dass sowohl der Bayerische Verwaltungsgerichtshof als auch das Oberverwaltungsgericht Hamburg  jeweils auf die „Kurzfristigkeit“ der Geltungsdauer der Einschränkungen in den einschlägigen Landesverordnungen (3. Mai 2020) Bezug genommen und – so der Bayerische Verwaltungsgerichtshof – deshalb davon abgesehen haben, die Bestimmungen der Corona-Eindämmungsverordnungen außer Vollzug zu setzen. Das dürfte dahin zu werten sein, dass der jeweilige (Landes-)Gesetzgeber/Verordnungsgeber „nachzubessern“ hat. Von daher bleibt die weitere Entwicklung – wie in den vergangenen Wochen – spannend und es dürfte zu weiteren Fortschreibungen kommen. Hierbei bleibt zu hoffen, dass – wie bei den damaligen Schließungen („Lockdown“) – die Bundesländer (wieder) an einem Strang ziehen und nicht – wie momentan – jedes Bundesland seinen eigenen Weg geht. Letzteres führt in der (Rechts-)Praxis nämlich zu großen Verunsicherungen und leider auch zu Ungleichbehandlungen, wie es die Gerichte bislang auch deutlich aufgezeigt haben.

Anm. der Red.: Einen Überblick von Lützenkirchen zum Thema „Corona und Mietrecht“ erhalten MietRB-Abonnenten unter diesem Link.