Nach Google ist eine Kehrtwende ein extremer [unerwarteter] Richtungs-, Kurswechsel. Man erwartet ihn von Politkern oder gegebenenfalls vom Ehepartner – aber von einem Gericht?
Und doch. Es gibt auch bei den Gerichten außergewöhnliche und unerwartete (indes erhoffte) Richtungswechsel. Einen solchen besonders bedeutsamen und in seiner praktischen und dogmatischen Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzenden Kurswechsel bietet etwa das Urteil des V. Zivilsenats des BGH v. 8.6.2018 – V ZR 125/17. In der Entscheidung geht es um die Frage, ob die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer einem Wohnungseigentümer Schadenersatz schuldet, wenn der Verwalter einen Beschluss nicht, nicht ordnungsmäßig oder nur teilweise durchführt.
Die erste Antwort auf diese hoch praktische Frage fand sich bei BGH v. 13.7.2012 – V ZR 94/11 – Rz. 19. Es heißt dort (leicht übersetzt in eine Begrifflichkeit):
Die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer ist dem einzelnen Wohnungseigentümer gegenüber aus dem mitgliedschaftlichen Treueverhältnis verpflichtet, den Verwalter zur unverzüglichen Umsetzung der Beschlüsse der Wohnungseigentümer anzuhalten. Dieses Treueverhältnis hat der Senat im Verhältnis der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zu dem einzelnen Wohnungseigentümer anerkannt und daraus dessen Verpflichtung abgeleitet, der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer Schadensersatz zu leisten, wenn er seiner Verpflichtung zur Mitwirkung an der ordnungsmäßigen Verwaltung nicht nachkommt. Kehrseite dieser Verpflichtung des einzelnen Wohnungseigentümers ist die Verpflichtung der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer, die gefassten Beschlüsse umzusetzen. Die Umsetzung obliegt nach § 27 I WEG dem Verwalter, der der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer auf Erfüllung und ggf. auf Schadensersatz haftet. Die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer ist jedenfalls dann dem einzelnen Wohnungseigentümer gegenüber verpflichtet, diesen Anspruch gegenüber dem Verwalter durchzusetzen, wenn die gefassten Beschlüsse – wie hier – den Zweck haben, einen Schaden am Gemeinschaftseigentum zu beseitigen, der das Sondereigentum des Wohnungseigentümers unbenutzbar macht.
Diese Sätze ängstigten so, dass jedenfalls ich mich zu einem Aufsatz mit dem zugegeben provokanten, aber plakativen Titel „Zauberlehrling reloaded oder: Globalplayer am WEG-Horizont?, NZM 2012, 718“ entschied. Dieser Aufsatz fand Zustimmung und naturgemäß fand er auch Ablehnung.
Der BGH schrieb indes im Urteil vom 25.9.2015 – V ZR 246/14 – Rz. 15 und Rz. 25 wie folgt (leicht übersetzt in eine einzige Begrifflichkeit):
Für Defizite bei der Umsetzung der gefassten Beschlüsse haftet allein die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer.
Eine Haftung der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer hat der Senat allerdings in seinem Urteil vom 13.7.2012 für solche Schäden bejaht, die durch die unterbliebene Umsetzung eines bereits gefassten „Sanierungsbeschlusses“ entstehen. Ob angesichts der dagegen erhobenen Kritik an der hierfür gegebenen Begründung festgehalten werden kann oder ob der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer vielmehr das Handeln des Verwalters als dem für die Umsetzung von Beschlüssen zuständigen Organ in analoger Anwendung von § 31 BGB zuzurechnen wäre bedarf keiner Entscheidung.
Und bei BGH v. 10.2.2017 – V ZR 166/16 – Rz. 14 hieß es dann wie folgt (wieder leicht übersetzt in eine Begrifflichkeit):
Erleidet ein Wohnungseigentümer aufgrund einer Versorgungssperre einen Schaden und beruht dies auf der schuldhaft unterbliebenen oder verspäteten Durchsetzung der beschlossenen Wohngeldansprüche, kann ihm allerdings ein Schadensersatzanspruch gegen die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zustehen.
Danach stand eigentlich doch wohl fest: Neben dem Verwalter, der natürlich seine Pflichten verletzt, wenn er Beschlüsse nicht durchführt, haftet einem Wohnungseigentümer die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer.
Und jetzt vom BGH v. 8.6.2018 – V ZR 125/17:
Die Pflicht zur Durchführung von Beschlüssen der Wohnungseigentümer trifft den Verwalter und nicht die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer; daher begründen Pflichtverletzungen des Verwalters, die sich auf die Durchführung von Beschlüssen beziehen, keine Schadenersatzansprüche einzelner Wohnungseigentümer gegen die Wohnungseigentümergemeinschaft.
Es ist also doch so, wie es immer sein sollte und nach meiner Ansicht stets war. Was sagt man da demütig: Man sagt Bravo!, Chapeau!, man gratuliert dem großen Mut, einen einmal beschrittenen Weg verlassen zu haben (das fällt jedem schwer, nicht zuletzt Kommentatoren), und schweigt, was gegebenenfalls auch bei BGH v. 8.6.2018 – V ZR 125/17 – nicht ganz „sauber“ argumentiert ist. Und genau das soll auch hier im Folgenden geschehen (= Schweigen).
P.S. Goldrichtig ist auch der zweite Leitsatz BGH v. 8.6.2018 – V ZR 125/17, der wie folgt lautet: Ein Wohnungseigentümer kann von dem Verwalter verlangen, dass er seine gesetzliche Pflicht zur Durchführung von Beschlüssen erfüllt; dieser Anspruch kann gegebenenfalls im Klageweg durchgesetzt werden. Auch hier heißt es respektvoll: Bravo!, alles richtig gemacht!, und: weiter so!