Erwiderung auf „Die Düsseldorfer Tabelle 2022 – es besteht Handlungsbedarf“ (DFGT, FamRZ 2021, 923 = FamRB 2021, 348)

Da kommt etwas auf die unterhaltsrechtliche Praxis zu, auch wenn es zunächst nur ein Diskussionsbeitrag des Vorstands der Unterhaltskommission des DFGT ist.

Der in FamRZ 2021, 923 = FamRB 2021, 348 veröffentlichten Stellungnahme der Unterhaltskommission des DFGT mit dem Titel: „Die Düsseldorfer Tabelle 2022 – es besteht Handlungsbedarf“ kann zwar in ihrem Programmsatz zugestimmt werden, dem weiteren Inhalt jedoch allenfalls teilweise.

Soweit die neuen um 40 € bzw. 70 € erhöhten Selbstbehaltssätze ab 2022 vorgestellt werden (unter IV.), besteht kein großes Problem (mit einer Ausnahme beim Ehegattenselbstbehalt, dazu später), denn sie folgen den gestiegenen Lebenshaltungskosten seit der letzten Erhöhung.

Eine diskutable Änderung ist die erneute Umstellung der Düsseldorfer Tabelle hinsichtlich der Zahl der Berechtigten, dieses Mal von zwei auf einen. Dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass damit – wie bereits erstmals 2010 bei der Umstellung von drei auf zwei Berechtigte (diese Änderung war bei dem Wegfall der Einkommensgruppe 1.501–1.900 € ab 1.1.2018 in der Begründung nicht erwähnt worden; krit. Schwamb, FamRB 2018, 67, 69) und eben auch wie beim Wegfall der vormals zweiten Einkommensgruppe – eine Ermäßigung der Unterhaltsverpflichtung in den höheren Einkommensgruppen verbunden ist, die wieder genau den Unterschiedsbetrag einer Einkommensgruppe ausmacht.

Wenn dem heute dennoch zugestimmt werden kann, dann deshalb, weil (insoweit eine Parallele zu 2010) tatsächlich eine deutlich überproportionale Anhebung des Mindestunterhalts 2020 und vor allem 2021 eingetreten ist, die die Verschiebung bei der Einordnung in die Einkommensgruppen eher rechtfertigt als 2018, wobei die Zahlbeträge trotz des gestiegenen Kindergelds nicht noch einmal hinter 2017 zurückfallen. Ärgerlich bleibt daran allerdings, dass anders als bei – schon 2016 vom Verfasser noch in der Kommission erstmals vorgeschlagenen – kleineren schrittweisen Anpassungen der Einkommensgruppen nun erneut wie 2018 ein einmaliger „harter Schnitt“ vollzogen wird, der zudem bei dynamischen Titeln nicht eintritt (ob deswegen eine Abänderung zulässig ist, ist zumindest nicht unstreitig) und auch die noch 2021 festgelegten starren Unterhaltstitel höher ausfallen als im kommenden Jahr erstellte.

Damit ist aber die Konsensfähigkeit des Kommissionspapiers auch schon weitgehend aufgebraucht.

Das gilt insbesondere für den erneuten Angriff auf die Altersstufe 4 mit etwa derselben Argumentation wie schon 2007 (!) und 2018 (Schürmann, FamRZ 2007, 545, 547 und FamRB 2018, 32; dagegen ausführlich Schwamb, FamRB 2018, 67, 69 und Staudinger/Klinkhammer, BGB, 2018, § 1610 Rz. 321). Wirklich Neues, was es rechtfertigt, dieses Fass erneut zu öffnen, nachdem erst vor 1 1/2 Jahren mühsam ein Kompromiss gefunden worden ist (mit seither 125 % gegenüber der Altersstufe 2 als Ausgangspunkt nach § 1612a Abs. 1 Nr. 2 BGB – bis 2017 waren es 134 %), enthält der neue Vorschlag nicht; vielmehr werden die in der letzten Diskussion eigentlich ausgeräumten, weil hier nicht passenden Vergleiche mit dem SGB II und dem ermäßigten, gelegentlich als „Strafunterhalt“ bezeichneten Betrag für die jungen arbeitslosen Erwachsenen nur aufgewärmt. Alle weiteren Argumente für den Erhalt der 4. Altersstufe aus den beiden obigen Fundstellen müssen hier nicht wiederholt werden. Angesichts der mit Volljährigkeit bei Vollanrechnung des Kindergeldes drastisch sinkenden Zahlbeträge sei aber doch auf folgende Zahlen seit 2017 aufgrund des zwischenzeitlichen Einfrierens der 4. Altersstufe bis auf jetzt 125 % gegenüber § 1612a Abs. 1 Nr. 2 BGB im Wege des Kompromisses hingewiesen.

Unterhaltspflichtiger M mit 1.800 € bereinigt netto und nur einem Kind K, geb. am 1.7.1999 (F ohne ausreichendes Einkommen):

  • Zahlbetrag 2017: 410 € bis Juni (damalige Einkommensgruppe 2 um eine hochgestuft nach 3 in der 3. Altersstufe), 388 € ab Juli (damalige Einkommensgruppe 2 um eine hochgestuft nach 3 in der 4. Altersstufe und Vollanrechnung Kindergeld)
  • Zahlbetrag 2018: 360 € (neue und eingefrorene Einkommensgruppe 1 um eine hochgestuft nach 2)
  • Zahlbetrag 2019: 360 € bis Juni, 350 € ab Juli (wegen Kindergelderhöhung um 10 €)
  • Zahlbetrag 2020: 353 € (erste geringfügige Erhöhung infolge des o.g. Kompromisses in der erweiterten Kommission)
  • Zahlbetrag 2021: 374 € (Erhöhung trotz Erhöhung des Kindergeldes, aber immer noch weniger zu zahlen als 2017)
  • Zahlbetrag 2022: 345 e (ohne mir noch nicht bekannte Erhöhung bei Einkommensgruppe 1, nun aber ohne Hochstufung nach 2)

Die Absenkung für einen 18 Jahre alten Schüler ggü. 2017 wird also noch nicht einmal durch das von 194 auf 219 € gestiegene Kindergeld kompensiert. Ohne den nun wieder in Frage gestellten Kompromiss von 2020 wären es noch einmal 24 € weniger, also Zahlbetrag 321 €. Dagegen erhält der 17 Jahre alte Schüler 418,50 € ausgezahlt.

Der Verfasser ist in der Vergangenheit nicht dafür bekannt geworden, unkritisch dem BGH zu folgen; aber in diesen Vorschlägen der Kommission zur Neufassung der Düsseldorfer Tabelle 2022, die ja eigentlich die obergerichtliche Rechtsprechung vereinfacht für die praktische Anwendung abbilden soll, wird dann doch recht sportlich mit der Rechtsprechung des BGH umgegangen.

Das betrifft zum Beispiel die (Wieder-)Aufgabe eines zutreffend geteilten Ehegattenselbstbehalts für Erwerbstätige und Nichterwerbstätige (gerade erst 2020 in der Düsseldorfer Tabelle eingeführt auf Grund BGH v. 16.10.2019 – XII ZB 341/17, FamRZ 2020, 97 Rz. 28 = FamRB 2020, 4 mit zust. Anm. Schwamb, bereits zuvor u.a. in den Leitlinien des OLG Hamm und Frankfurter Unterhaltsgrundsätzen jeweils Nr. 21.4).

Es geht weiter mit der Diskussion über die Höhe des Erwerbstätigenbonus beim Ehegattenunterhalt. Deutlich hatte sich hier der BGH (BGH v. 13.11.2019 – XII ZB 3/19, NZFam 2020, 109 Rz. 23 m. krit. Anm. Schürmann = NJW 2020, 238 m. Anm. Graba = FamRZ 2020, 171 = FamRB 2020, 53), und zwar ausdrücklich a.a.O. in Rz. 23 unter Hinweis auf seine Berechnungsweise in BGH v. 16.4.1997 – XII ZR 233/95, FamRZ 1997, 806, 807, für eine einheitliche 1/10-Lösung ausgesprochen (zustimmend Schwamb, NZFam 2020, 847, 849). Diese Diskussion ist zwar sowieso noch in vollem Gang (mit bekannt unterschiedlichen Ergebnissen auch in den Frankfurter Unterhaltsgrundsätzen), aber was die Kommission damit vorhat, ist schon bemerkenswert. Es soll das einheitliche 1/10 kommen, aber mit einer der bisherigen (wie gesagt gerade erneut zitierten) BGH-Rechtsprechung seit FamRZ 1997, 806, 807 ausdrücklich widersprechenden Berechnungsweise (nämlich Bonusbildung vor Abzug des Kindesunterhalts und privater Schulden, ohne die o.g. 1997-er Entscheidung und ihre damalige Begründung zu erwähnen). Das führt dann zu folgendem Berechnungsbeispiel:

M: 3.800 € netto – 300 € Schuldendienst – 700 € Kindesunterhalt = 2.800 € bereinigt. F: 700 € netto bereinigt.

  • Herkömmlicher 1/7-Bonus: 2.800 € – 700 € = 2.100 €. 3/7 = 900 € UE.
  • Der „neue“ 1/10-Bonus (gegen BGH FamRZ 1997, 807): M: 3.800 € – 380 € – 300 € – 700 € = 2.420 €. F: 700 € – 70 € = 630 €. 2.420 € – 630 € = 1.790 €, hiervon 1/2 = 895 € UE (mit „nur“ 1/10 Bonus).

Besser lässt es sich kaum veranschaulichen. Das neue 1/10 ist hier größer als das alte 1/7.

Wenn dazu u.a. ausgeführt wird „Halbteilung und Erwerbstätigenbonus beruhen nicht auf gesetzlichen Vorgaben“ (unter Bezugnahme auf Schwonberg, FF 2021, 47, 50) mag das für den Bonus gelten, nicht jedoch für den mit ihm eingeschränkten Halbteilungsgrundsatz, der das gesamte Familienvermögensrecht durchzieht und Verfassungsrang hat.

Soweit die Kommission zunächst die vom BGH (BGH v. 16.9.2020 – XII ZB 499/19, FamRZ 2021, 28 = FamRB 2021, 6) angeregte Fortschreibung der Düsseldorfer Tabelle über die bisherigen zehn Einkommensgruppen hinaus als nicht notwendig kritisiert, ihr dann aber doch folgen will, wird allerdings dem gut begründeten (jedoch von der Kommission mit 272 % und 24 Einkommensgruppen nicht zutreffend zitierten) Vorschlag von Borth, FamRZ 2020, 339 (mit 240 % und 20 Einkommensgruppen bei 11.000 € endend) als überhöht widersprochen und stattdessen mit einer keine klare Struktur aufweisenden Gruppenbildung gerade einmal die Erhöhung von 160 % auf 200 % (bei doppelter Einkommenshöhe) befürwortet. Für diese eher kosmetische Erhöhung bräuchte es tatsächlich keine Fortschreibung der Tabelle. Da die Kommission zudem die 10. Einkommensgruppe nun bei 5.600 € (statt derzeit 5.500 €) enden lassen will, ihre 15. (eigentlich verdoppelte) aber bei 11.000 Euro enden lässt, „verrutscht“ dabei – wohl unabsichtlich – auch noch die „doppelte“ Einkommenshöhe i.S.d. neuen BGH-Rechtsprechung (dazu beim Ehegattenunterhalt Schwamb, NZFam 2020, 847).

Zum Elternunterhalt sei nur angemerkt, dass für das angesprochene Problem, ein Kind verdient über 100.000 €, das andere unter 100.000 €, die dafür in Fn. 32 des Papiers (im FamRB: Fn. 31) zitierten Autoren noch um eine BGH-Entscheidung zu ergänzen wären, die zu § 43 SGB XII ergangen ist, bei dem es das Problem in abgewandelter Form schon zuvor gab (vgl. BGH v. 8.7.2015 – XII ZB 56/14, FamRZ 2015, 1467 Rz. 47, 48 = FamRB 2015, 330 [Hauß]; dazu Niepmann/Seiler, 14. Aufl. 2019 bzw. zuvor Niepmann/Schwamb, 13. Aufl. 2016, jew. Rz. 222 unter „Rückgriffseinschränkung“). Zumindest bedürfte es einer Auseinandersetzung mit der dort für § 43 SGB XII gefundenen differenzierenden Lösung.

Man darf gespannt sein, was aus dem „es besteht Handlungsbedarf“ weiter erwächst. Die Tendenz der Vorschläge geht jedenfalls (erneut) in Richtung Einschränkung von Unterhaltsansprüchen. Das Echo der 2018er-Reform der Tabelle und der damalige Ruf nach dem Gesetzgeber hallen noch nach.

Straßburg locuta – causa finita (EuGH v. 17.9.2020 – C-5/18)

Im Elternunterhalt war unklar und streitig, ob der Sozialhilfeträger, der Sozialhilfeleistungen an eine pflegebedürftige Person erbringt, den ausschließlich im Ausland ansässigen Unterhaltspflichtigen auch vor dem Wohnsitzgericht der unterhaltsberechtigten Person im Inland auf Unterhalt in Anspruch nehmen kann oder ob am Wohnsitzgericht der unterhaltspflichtigen Person im Ausland Klage zu erheben sei.

Der EuGH hat diese Frage nun dahin gehend abschließend entschieden, dass auch ein Sozialhilfeträger den auf ihn übergegangenen Unterhaltsanspruch am Wohnsitzgericht der unterhaltsbedürftigen Person geltend machen kann, wenn die unterhaltspflichtige Person im Inland keinen Wohnsitz hat (EuGH v. 17.9.2020 – C-5/18).

Das ist eine schlechte Nachricht für all diejenigen, die hofften, die Sozialhilfeträger würden den Unterhaltsanspruch gegen sie im Ausland nicht geltend machen, weil sie die sprachlichen Hürden, die deutlich höheren Gebühren der Anwälte im Ausland und das Unverständnis der ausländischen Justiz gegenüber dem deutschen Recht scheuten.

Gut ist indessen, dass die Frage nunmehr entschieden ist.

Angehörigen-Entlastungsgesetz tritt zum 1.1.2020 in Kraft

Alle Kinder pflegebedürftiger Eltern können aufatmen. Der Bundesrat hat dem Angehörigen-Entlastungsgesetz zugestimmt. Die Konsequenzen sind erfreulich:

  • Es kommt zukünftig für die Heranziehung von Kindern zum Elternunterhalt weder auf deren Vermögen noch auf das Einkommen des Schwiegerkindes an.
  • Ab 1.1.2020 können alle Kinder, deren Jahreseinkommen unter 100.000 € brutto liegt, die Unterhaltszahlungen für ihre Eltern einstellen. Lediglich in den Fällen, in denen eine gerichtliche Entscheidung zur Zahlung laufenden Unterhalts ergangen ist, sollten die betroffenen Kinder dem Sozialhilfeträger die Einstellung der Zahlung schriftlich ankündigen und auf Bestätigung durch den Sozialhilfeträger beharren, keinen Unterhalt mehr zu schulden.
  • Lediglich in den Fällen, in denen ein Sozialhilfeträger aus einer erteilten Einkommensauskunft des unterhaltspflichtigen Kindes weiß, dass das Einkommen des Kindes über 100.000 € liegt, besteht die Unterhaltsverpflichtung eventuell fort.
    • Allerdings wird in diesen Fällen die Unterhaltsverpflichtung reduziert, weil die Leitlinienkonferenz der Oberlandesgerichte den Selbstbehalt bereits vor Verabschiedung dieses Gesetzes heraufgesetzt hat (statt wie bisher 1.800 €/ 3.240 €). Die Leitlinienkonferenz der Oberlandesgerichte konnte jedoch noch nicht das Inkrafttreten des Gesetzes berücksichtigen, weil zum Zeitpunkt der Sitzung der Leitlinienkonferenz das Inkrafttreten des Gesetzes zum 1.1.2020 noch ungewiss war.
    • Da aber der Gesetzgeber mit den Angehörigen-Entlastungsgesetz deutlich gemacht hat, dass er eine Heranziehung von Kindern zum Elternunterhalt dann für unangemessen hält, wenn das Einkommen des Kindes unter 100.000 € pro Jahr liegt, ist der unterhaltsrechtliche Selbstbehalt an diese Grenze ab 1.1.2020 anzupassen. Unterhaltsrechtlich ist das Nettoeinkommen maßgeblich. Es erscheint daher aus heutiger Betrachtung ein Selbstbehalt von 4.500 – 4.700 € für das Kind und von etwa 8.100 € bei Zusammenleben Verheirateter angemessen. Die Anhebung des unterhaltsrechtlichen Selbstbehalts auf dieses Niveau sichert, dass nicht nur sozialrechtlich eine 100.000 €-Grenze besteht, sondern diese Grenze angemessen unterhaltsrechtlich abgebildet wird.
  • Da das Gesetz eine gesetzliche Vermutung enthält, dass das Einkommen unterhaltspflichtiger Angehöriger die Grenze von 100.000 € nicht übersteigt, entfällt für die Zeit ab 1.1.2020 auch eine unterhaltsrechtliche und sozialrechtliche Auskunftsverpflichtung. In den Fällen, in denen ein Sozialhilfeträger aus einer vor 2020 erfolgten unterhaltsrechtlichen Auskunft keine positive Kenntnis über ein Überschreiten der Einkommensgrenze hat, können allenfalls „hinreichende Anhaltspunkte“ aus Presse, Funk und Fernsehen, der Angehörigkeit zu einer bestimmten einkommensstarken Berufsgruppe (Vorstandsvorsitzender eines DAX-Konzerns) für ein Überschreiten der Jahreseinkommensgrenze herangezogen werden. Lediglich in diesen Fällen wird das Kind noch Auskunft über die Höhe seines Einkommens zu erteilen haben.

Wir haben uns in der Vergangenheit sehr intensiv mit dem Elternunterhalt auseinandergesetzt und dazu beigetragen, dass der Elternunterhalt von Sozialhilfeträgern und der Rechtsprechung halbwegs sozialverträglich ausgestaltet worden ist. Wir haben uns seit mehr als zwei Jahren intensiv darum bemüht, das jetzt vollzogene Gesetzesvorhaben zu unterstützen. Wir haben immer vertreten, dass es eine berechtigte Erwartungshaltung von Bürgern ist, dass ein Sozialstaat seine Bürger vor unverantworteten Risiken in Schutz nimmt. Niemand kann etwas für Behinderung und Krankheit von Angehörigen. Deshalb ist es gut, dass vor diesem – gesellschaftlich zu verantwortenden – Risiko dass Angehörigen-Entlastungsgesetz weitgehenden Schutz bietet. Lesen Sie zum Thema auch den Blog-Beitrag von VorsRiOLG a.D. Heinrich Schürmann, der auch die über den Elternunterhalt hinausreichenden Folgen im Sozialrecht beleuchtet.

Angehörigen-Entlastungsgesetz passiert Bundesrat

Im Koalitionsvertrag hatten die Regierungsparteien verabredet, von einem Rückgriff gegenüber Kindern von pflegebedürftigen Eltern bis zu einem Einkommen von 100.000 Euro abzusehen. Der erst im Sommer vorgelegte Gesetzesentwurf ist über dieses Ziel weit hinaus gegangen und erweitert den Regressausschluss auf alle Leistungen des SGB XII. Dass die Neuregelung zudem noch (ausgenommen sind nur die Hilfen zum Lebensunterhalt für minderjährige Kinder) alle Ansprüche auf Kindesunterhalt einschließt, ist besonders bemerkenswert. Die parlamentarische Beratung dauerte kaum mehr als zwei Monate. In dieser Zeit gab es in der Sache kaum einen Widerspruch. Dass das Anfang November mit großer Mehrheit angenommene Gesetz auch die Zustimmung des Bundesrates finden würde, war gleichwohl nicht sicher. Zwar hatte der Sozialausschuss die Zustimmung empfohlen, der Finanzausschuss sich hingegen für eine Anrufung des Vermittlungsausschusses ausgesprochen. Dies ist aufgrund der absehbaren Mehrbelastungen für die Landes- und Kommunalhaushalte verständlich. Umso erleichterter können die von der Neuregelung unmittelbar Betroffenen sein, dass der Bundesrat auf ein Vermittlungsverfahren verzichtet und mit einer Entschließung nur eine nochmalige Prüfung der allzu optimistischen Folgenabschätzung eingefordert hat.

In der Öffentlichkeit werden die praktischen Konsequenzen des Gesetzes vor allem unter dem Aspekt des Unterhalts für pflegebedürftige Eltern wahrgenommen (lesen Sie dazu den Blog-Beitrag von Rechtsanwalt Jörn Hauß). Es beseitigt endlich einen Wertungswiderspruch zwischen den Leistungen der sozialen Grundsicherung und den im Pflegefall erbrachten Hilfen, der den Betroffenen kaum zu vermitteln und bereits Gegenstand eines Petitionsverfahrens war. Seine Folgen reichen jedoch sehr viel weiter, da es vor allem auch die Eltern behinderter Kinder von zusätzlichen Verpflichtungen entlasten will. Das Gesetz verlagert ganz bewusst die finanzielle Verantwortung für Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung auf die staatliche Solidargemeinschaft. Obwohl sich am Wortlaut des § 2 SGB XII nichts ändert, gilt das Dogma vom Nachrang der Sozialhilfe künftig nicht mehr. Die angestrebte Entlastung von finanzieller Verantwortung erleichtert die Fortführung der in den Wechselfällen des Lebens aus persönlicher Verbundenheit praktizierten familiären Solidarität, ohne sie als rein finanzielle Leistung auch dann noch zu erzwingen, wenn vom Familienverband nicht mehr geblieben ist, als eine inhaltsleere Hülle.

Welche weiteren Folgen eine so umfassende Umgestaltung des traditionellen Hilferechts auslösen wird, lässt sich noch nicht übersehen. Die unmittelbaren Auswirkungen für die vom Elternunterhalt bereits jetzt betroffenen Kinder liegen aber schon jetzt auf der Hand:

Liegt der Gesamtbetrag der Einkünfte unter 100.000 Euro, gehen die nach dem SGB XII erbrachten Sozialleistungen vom 1. Januar 2020 an nicht mehr auf den Leistungsträger über, während es bis zu diesem Zeitpunkt bei der bisherigen Rechtslage verbleibt. Zu beachten ist zudem, dass es künftig allein auf die Einkommensverhältnisse des unterhaltspflichtigen Kindes ankommt. Eigenes Vermögen und Einkommen des Ehegatten haben auf den Anspruchsübergang keinen Einfluss. Besteht bereits ein Titel über den laufenden Unterhalt, sollte der Leistungsträger zu einem Verzicht auf die Rechte aus diesem Titel aufgefordert werden.

Auch für die rund 5 % der Bevölkerung, die ein über dem Grenzbetrag liegendes Einkommen erreichen, wird sich einiges ändern – die bisherigen Maßstäbe des Unterhaltsrechts sind Makulatur. Denn der Zweck des Gesetzes, Familien wirksam zu entlasten und den Familienfrieden zu wahren, darf nicht dadurch in sein Gegenteil verkehrt werden, dass bei einem nur geringfügig höheren Einkommen ein geringerer Betrag für die eigene Lebensführung verbleibt, als einem Pflichtigen mit geringerem Einkommen zugestanden wird. Das Gesetz legt einen Bruttobetrag zugrunde, aus dem sehr unterschiedliche Nettoeinkommen folgen können. Der angemessene Eigenbedarf für einen Alleinstehenden dürfte jedoch nicht unter 4.500 Euro sinken – allerdings ohne dessen Verwendung im Regelfall zu überprüfen. Dies erspart die vielfach als unwürdig und unangebracht empfundene Kontrolle und Bewertung der Lebensführung des Unterhaltspflichtigen. Überlegungen, ob der Aufwand für das Auto zu hoch ausfällt, die Kosten einer Implantatversorgung noch angemessen sind oder die Haltung eines Reitpferds bereits den Luxusaufwendungen zuzurechnen sei, sollten daher der Vergangenheit angehören.

Wie sich die Rechtsprechung zu den wenigen verbliebenen Fällen des Elternunterhalts verhalten wird, lässt sich unter diesen weitreichenden Veränderungen nicht vorhersagen. Sicher ist aber, dass solche Veränderungen nicht in der Düsseldorfer Tabelle für 2020 berücksichtigt werden konnten und die Gesetzesänderungen im Angehörigen-Entlastungsgesetz die dort genannten Beträge überholt hat.

Das – weitgehende – Ende des Elternunterhalts

Manche Versprechen aus dem Koalitionsvertrag lösen die Koalitionsparteien und die Regierung ein: Mit Datum vom 12.6.2019 veröffentlicht das Arbeitsministerium (BMAS) den „Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung unterhaltsverpflichteter Angehöriger in der Sozialhilfe und in der Eingliederungshilfe“. Hinter dem – im Übrigen erstaunlich verständlichen – Titel verbirgt sich das „Ende des Elternunterhalts“ in seiner bisherigen Form.

Ab 1.1.2020 sollen Kinder nur noch zum Elternunterhalt herangezogen werden können, wenn ihr jährliches Gesamteinkommen 100.000 € brutto übersteigt. Damit wird der Elternunterhalt zum „Wohlhabendenprivileg“ und Millionen Angehörige können aufatmen. Da das Gesetz – wie auch bisher bereits bei der Grundsicherung – die gesetzliche Vermutung enthält, dass Einkünfte der Kinder die Einkommensgrenze nicht übersteigen, muss niemand mehr Auskunft über Einkommen und Vermögen erteilen, ohne dass „hinreichende Anhaltspunkte für ein Überschreiten der Jahreseinkommensgrenze“ vorliegen. Zwar können die Sozialhilfeträger vom bedürftigen Elternteil Angaben verlangen, die Rückschlüsse auf die Einkommensverhältnisse des Kindes erlauben, aber wessen demente Eltern wissen schon um die Einkommensverhältnisse ihrer Kinder. Adresse und Beruf geben nie hinreichende Anhaltspunkte, es sei denn es handelt sich um öffentlich bekannte Gutverdiener, allgemein bekannte hochdotierte Berufe oder der Internetauftritt der unterhaltspflichtigen Person enthält die Pose mit der Protzkarre.

Mehr noch als die wirtschaftliche Entlastung wird diese Gesetzesänderung psychologisch wirken. Es kann mit dem Sozialstaat versöhnen, wenn die Bürger merken, dass dieser gesellschaftliche Risiken, wie Pflegebedürftigkeit im Alter, übernimmt. Mit der Krankenversicherung und der Grundsicherung im Alter ist das gesellschaftlicher Alltag. Nun zieht das Ministerium – und hoffentlich auch Regierung und Parlament – bei der Pflege nach und löst das Sozialstaatsversprechen ein, die Bürger vor unverantworteten Risiken zu schützen und diese solidarisch auf die Gesellschaft zu verteilen. Das ist gut so.

Gut ist auch, dass der Gesetzentwurf nunmehr sämtliche Leistungen des SGB XII der Rückgriffssperre der 100.000-Euro-Grenze unterwirft und diese in § 94 Abs. 1a SGB XII verankert. Damit ist nun auch die „Hilfe zum Lebensunterhalt für Volljährige“ und die „Blindenhilfe“, die „Hilfe zur Gesundheit“ und die „Eingliederungshilfe“ (§§ 53 ff. SGB XII) insoweit rückgriffsfrei, als das Einkommen der unterhaltspflichtigen Person die 100.000-Euro-Grenze nicht übersteigt.

Der Gesetzgeber sollte sich allerdings noch einen Ruck geben: Die 100.000-Euro-Grenze ist im Jahr 2005 eingeführt worden. Wollte man auf die durch diese Grenze markierte Kaufkraft abstellen, wäre die Anhebung auf ca. 125.000 € angezeigt.

Noch besser wäre es freilich, der Gesetzgeber striche den Elternunterhalt vollständig. Kinder sind für ihre Eltern, deren Gesundheitszustand, Einkommens- und Vermögenslage nicht verantwortlich. Ob allein die genetische Beziehung zwischen Eltern und Kindern den Eingriff in deren Einkommen und Vermögen rechtfertigt, erscheint mehr als fragwürdig. Aber dafür wäre nicht das BMAS zuständig, sondern das BMJV.

Das könnte allerdings auch mit einer „kleineren Lösung“ als der Abschaffung des Aszendentenunterhalts auf den „fahrenden Zug“ aufspringen und § 1611 BGB geringfügig verändern. Nach § 1611 Abs. 1 Satz 1 BGB ist die Verwirkung des Unterhaltsanspruch die Sanktion für „schuldhaftes Fehlverhalten der unterhaltsberechtigten gegenüber der unterhaltspflichtigen Person. Was aber, wenn es an „Schuld“ und „Verhalten“ der unterhaltsberechtigten Person fehlt, weil diese psychisch krank war und das Kind deswegen stets in Pflegefamilien und Heimen aufgewachsen ist und keinerlei Kontakt zum Elternteil hatte. Oder was ist mit dem Kind des „One-Night-Stands“, das seinen ihm verheimlichten Vater nie gesehen, aber unterhaltsrechtlich für ihn einzustehen hat? Man könnte ganz einfach den Gedanken von § 1611 Abs. 1 Satz 2 BGB in einen neuen Absatz 2 schreiben:

Eine Verpflichtung, Unterhalt zu zahlen, besteht nicht, wenn die Inanspruchnahme des Verpflichteten grob unbillig wäre.

Absatz 1 beträfe dann die Fälle schuldhaften Verhaltens der unterhaltsberechtigten Person, Absatz 2 löste die Verwirkung aus der Sanktionsfunktion und fokussierte die Situation der unterhaltspflichtigen Person. Rechtsprechung und Verwaltungen wüssten mit einer solchen Öffnung gut und verantwortungsvoll umzugehen.

 

Elternunterhalt im Doppelpack (zu BGH v. 20.3.2019 – XII ZB 365/18, FamRB 2019, 212)

Wenn die Eltern beider zusammenlebenden Ehegatten unterhaltsbedürftig werden, stellt sich die Frage, ob die zeitlich zuerst entstehende Unterhaltspflicht gegenüber einem Elternteil aus dem Familienunterhalt zu begleichen, also vorab vom unterhaltspflichtigen Einkommen abzuziehen ist oder aber ob die Grundsätze der Berechnung des Elternunterhalts aus den Entscheidungen BGH v. 28.7.2010 – XII ZR 140/07, FamRZ 2010, 1535 = FamRB 2010, 295 und BGH v. 5.2.2014 – XII ZB 25/13, FamRZ 2014, 538 = FamRB 2014, 123 für die einzelnen unterhaltspflichtigen Kinder isoliert anzuwenden sind.

Der BGH entscheidet konsequent, dass die in der zitierten Entscheidung aufgestellten Berechnungsgrundsätze auch dann Anwendung finden, wenn beide Ehegatten ihren Eltern gegenüber unterhaltspflichtig sind.

Es ist nicht sehr überraschend, dass der BGH das Berechnungsschema zur Ermittlung der unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit gegenüber den Eltern nicht wechselt, wenn beide Ehegatten ihren jeweiligen Eltern gegenüber unterhaltspflichtig sind. Das Berechnungsmodell des BGH geht davon aus, dass der Familie ein individueller Selbstbehalt zu verbleiben hat, um ihren Lebensstandard zu sichern. Jenseits dessen bedarf es keiner zusätzlichen Einkommensreservation (vgl. schon Hauß, Elternunterhalt: Grundlagen und Strategien, 5. Aufl., Rz. 441).

Da die Berechnung der unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit von auf Elternunterhalt in Anspruch genommenen Kindern in der Praxis aufwendig ist, bedient man sich in der Praxis sinnvollerweise einer „Rechenhilfe“. Eine solche steht in einer einfachen Variante unter www.famrb.de/Materialien zur Verfügung und wurde nunmehr auch insoweit ergänzt, dass bei verheirateten Kindern die Leistungsfähigkeit beider Ehegatten angezeigt wird.

 

 

 

Schenk dich reich – oder: Verzichte nie auf dein Wohnrecht! (zu BGH v. 17.4.2018 – X ZR 65/17)

Der Sachverhalt ist alltäglich: Im Jahr 1995 übertragen die Eltern ihr Eigenheim an ihre Tochter und behalten sich daran ein lebenslanges Wohnungsrecht vor. 2003 verzichten die Eltern auf das Wohnungsrecht, das im Grundbuch gelöscht wird. Die Tochter vermietet die Wohnung nach dem Tod des Vaters für monatlich 340 € an die Mutter, die im Jahr 2012 in eine Pflegeeinrichtung wechseln muss und seitdem sozialhilfebedürftig ist. Der Sozialhilfeträger macht gegen die Tochter den Rückforderungsanspruch aus § 528 Abs. 1 Satz 1 BGB geltend und verlangt von der Tochter bis zum Tod der Mutter im Jahr 2015 aufgebrachte Sozialhilfeleistungen i.H.v. 22.000 €.

Da zwischen der Schenkung der Immobilie und der Entstehung der Bedürftigkeit der Mutter mehr als zehn Jahre vergangen waren, kommt diese Schenkung als Ansatz für den Rückforderungsanspruch nicht in Betracht (§ 529 Abs. 1 Alt. 2 BGB).

Ansatzpunkt für das Begehren des Sozialhilfeträgers kann daher zunächst nur die im Jahr 2003 erfolgte Löschung des Wohnungsrechts sein. Diese wird von der Rechtsprechung – sofern sie unentgeltlich erfolgt – zu Recht als Schenkung i.S.v. § 516 BGB angesehen. Ihr Wert wird an der Höhe der Wertsteigerung der Immobilie durch Wegfall der dinglichen Belastung bemessen (BGH v. 26.10.1999 – X ZR 69/97, NJW 2000, 728 = MDR 2000, 873; OLG Nürnberg v. 22.7.2013 – 4 U 1571/12, ZEV 2014, 38 = MDR 2014, 22 = ErbStB 2014, 97; Koch in MünchKomm/BGB, 7. Aufl., § 528 Rz. 5 Fn. 26).

Um den Anspruch des Sozialhilfeträgers abzuwehren, könnte man nun auf den Gedanken kommen, die Schenkung herauszugeben, also das Wohnrecht wieder einzuräumen. Dies scheitert indessen daran, dass der Rückforderungsanspruch des verarmten Schenkers lediglich „soweit“ besteht, als er außerstande ist, seinen angemessenen Unterhalt zu bestreiten. D.h. im Umfang des monatlichen Fehlbetrags. Dieser wird durch Wiedereinräumung des Wohnungsrechts indessen nicht realisiert. Das Schenkungsrecht verweist in § 528 Abs. 1 Satz 1 BGB auf das Bereicherungsrecht. Danach hat der Beschenkte, wenn die Herausgabe des Geschenks wegen der Beschaffenheit des Erlangten nicht möglich ist, Wertersatz zu leisten (§ 818 Abs. 2 BGB). Dieser Wertersatzanspruch ist in seiner Höhe begrenzt auf die Höhe der durch die Schenkung verursachten Bereicherung (§ 818 Abs. 3 BGB).

Da die Wiedereinräumung des Wohnungsrechts aus den oben dargestellten Gründen zur Abwehr des Zahlungsanspruchs des Sozialhilfeträgers nicht in Betracht kommt, kommt es auf die Höhe der durch die Löschung des Wohnungsrechts eingetretenen Bereicherung der Tochter an. Das OLG Hamm als Vorinstanz hatte angenommen, die Bereicherung der Tochter werde durch die ihr zukommenden Einkünfte aus Vermietung der Wohnung markiert, da die Tochter die Immobilie nicht veräußert und damit die durch den Wegfall des Wohnungsrechts eingetretene Steigerung des Marktwerts der Immobilie nicht realisiert habe (OLG Hamm v. 17.5.2017 – I-30 U 117/16). Dies hat der BGH nicht gelten lassen. Er stellt vielmehr darauf ab, dass der durch den Wegfall der dinglichen Wohnrechtsbelastung entstehende Wertzuwachs der Immobilie die vermögensrechtliche Bereicherung der Tochter darstellt, die gegebenenfalls von dieser herauszugeben ist.

Damit befindet sich der BGH in völliger Übereinstimmung mit seiner bisherigen Rechtsprechung, die für den Wert einer Schenkung auf die Bereicherung des Beschenkten abstellt und nicht etwa auf den Wert des Geschenks für den Schenker. Beide Werte können massiv differieren. Während das lebenslange Wohnrecht für eine 70-jährige Frau an einer Eigentumswohnung deren Verkehrswert auf Null reduzieren wird, weil bei Annahme einer 18-jährigen Restlebensdauer (nach Generationensterbetafeln des Statistischen Bundesamts DESTATIS) sich für eine solche Wohnung kein Käufer finden wird, kann der Gebrauchsvorteil des Wohnrechts für die berechtigte Person einen beachtlichen Vermögenswert darstellen (bei Annahme eines Rechnungszinses von 4 % und einem monatlichen Gebrauchsvorteil von 500 € wären dies ca. 77.000 €, bei Bewertung nach § 14 Abs. 1 Satz 4 BewG i.V.m. der Tabelle des BMF v. 4.11.2016 – IV C 7 – S 3104/09/10001 DOK 2016/101267, die auch für Bewertungsstichtage ab dem 1.1.2018 anzuwenden ist, ergäbe sich ein Betrag i.H.v. 66.492 €).

Das schwer zu vermittelnde Paradoxon der Entscheidung des BGH besteht nun darin, dass die Mutter durch Aufgabe eines für sie im Zeitpunkt des Eintritts ihrer Bedürftigkeit wertlosen Wohnungsrechts, ihre unterhaltsrechtliche Position deutlich verbessert hat, weil der Grundstückswert durch diesen Wegfall der Belastung einen enormen Anstieg erlebt haben kann, der deutlich oberhalb des Werts des Wohnungsrechts liegen wird. Die unterhaltsbedürftige Person verbessert daher durch Aufgabe eines vermögenswerten Rechts im Wege der Schenkung ihre unterhaltsrechtliche Position deutlich. Der inkongruente Verkehrswert des Wohnrechts für den Berechtigten und den Eigentümer bewirkt eine Besserstellung des Schenkers gegenüber der Situation vor der Schenkung. Es besteht nämlich völlige Einigkeit darüber, dass eine pflegebedürftige Person, die Inhaberin eines Wohnungsrechts ist, dieses aber infolge ihrer Pflegebedürftigkeit nicht ausüben kann, keinen Anspruch auf Zahlung in Höhe des fiktiven Mietzinses hat, weil das Wohnrecht unveräußerbar ist (BGH v.13.7.2012 – V ZR 206/11, FamRZ 2012, 1708).

Der BGH hat die Sache zur Entscheidung an das OLG Hamm zurückverwiesen. Dort kann sich nun die beschenkte Tochter darauf berufen, den Wertersatzanspruch der Mutter nur im Rahmen ihrer unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit erfüllen zu können (§ 529 Abs. 2 BGB). Anstelle des altertümlichen Wörtchens „standesgemäß“ ist nach einhelliger Auffassung „angemessen“ zu lesen. Angemessen ist grundsätzlich der entsprechend familienrechtlich zu berechnende Unterhalt nach elternunterhaltsrechtlichen Gesichtspunkten (Palandt/Weidenkaff, 77. Aufl., § 529 BGB Rz. 3). Ob die unterhaltspflichtige Tochter den Wertersatzanspruch aus Ihrem Vermögen zu erfüllen hat, ist bislang nicht entschieden. Da im Elternunterhalt den Unterhaltspflichtigen ein hohes Altersvorsorgeschonvermögen ein geräumt wird (BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511), scheitert der Zahlungsanspruch des Sozialhilfeträgers möglicherweise an der Notbedarfseinrede der Tochter.

Für die anwaltliche Praxis und die beschenkten Kinder ist indessen als Grundsatz festzuhalten, dass die Aufgabe eines Wohnungsrechts an einer Immobilie zum Bumerang werden kann, wenn die wohnberechtigte Person innerhalb der Revokationsfrist von zehn Jahren sozialhilfe- und damit unterhaltsbedürftig wird.

Sondierungsergebnisse und Familienrecht

Die Ergebnisse der Sondierungsgespräche von CDU, CSU und SPD sollten Familienrechtler aufhorchen lassen. Unter der Überschrift „Familie, Frauen und Kinder“ findet sich der Einleitungssatz: „Familien halten unsere Gesellschaft zusammen.“. Dieser Satz zeigt, dass die gesellschaftliche Entwicklung an den potentiellen Koalitionären nicht spurlos vorbeigegangen ist. Noch vor kurzem wäre die Ehe als Kit der Gesellschaft bezeichnet worden. Dass nunmehr die Familien in den Mittelpunkt gestellt werden, ist ein erfreulicher Schritt auf dem Weg der Entinstitutionalisierung der Ehe und hoffentlich auch des Familienrechts.

Es werden in dem 28-seitigen Sondierungspapier Maßnahmen angekündigt, die auch den familienrechtlichen Alltag von Anwältinnen und Anwälten verändern werden:

Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinderarmut:

Das Kindergeld als bewährte und wirksame familienpolitische Leistung werden wir in dieser Legislaturperiode pro Kind um 25 Euro pro Monat erhöhen – in zwei Teilschritten (zum 1.7.2019 um zehn Euro, zum 1.1.2021 um weitere 15 Euro). Gleichzeitig steigt der steuerliche Kinderfreibetrag entsprechend (S. 9).

Angesichts der Notwendigkeit der Erhöhung des Mindestunterhalts zum 1.1.2019 auf 406 € (Einkommensstufe 1) bewirkt die wenige Monate später in Kraft zu setzende Erhöhung des Kindergeldes lediglich eine Erhöhung der Belastung der barunterhaltspflichtigen Personen um zwei Euro (406 – 204/2). Dies ist begrüßenswert, weil dadurch die gesellschaftliche Verantwortung für Kinder betont und ein Schritt zur Bekämpfung der Kinderarmut gemacht wird.

 

Wir werden ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Kinderarmut schüren: Dazu wollen wir zur Entlastung einkommensschwacher Familien den Kinderzuschlag erhöhen. Gemeinsam mit dem Kindergeld soll der Mindestbedarf des sächlichen Existenzminimums (derzeit 399 €) gedeckt werden (S. 9).

Auch diese Absichtserklärung ist gegenüber der derzeitigen Situation ein Fortschritt, zumal er mit einer Entbürokratisierung der Leistungsbeantragung durch die entsprechenden Familien gekoppelt werden soll. Die Festschreibung des Mindestbedarfs auf das „Existenzminimum“ ist zwar nicht das, was man sich unter einer kinderfreundlichen Gesellschaft vorstellt, es würde aber die Familien entlasten.

 

Auch die Bedarfe für Bildung und Teilhabe werden wir verbessern, unter anderem sollen hierzu das Schulstarterpaket erhöht und die Eigenanteile zur gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung in Kitas und Schulen und für Schülerbeförderung entfallen (S. 9).

Wir werden einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter schaffen. Dabei werden wir auf Flexibilität achten, bedarfsgerecht Vorgehen und die Vielfalt der in den Ländern und Kommunen bestehenden Betreuungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendhilfe und die schulischen Angebote berücksichtigen (S. 10).

 Alle diese Vorhaben haben unterhaltsrechtliche Auswirkungen, weil sie die berufliche Integration der alleinerziehenden Eltern unterstützen und gleichzeitig strukturelle Bildungsdifferenzierungen verringern.

Maßnahmen im Versorgungsrecht:

Mit dem zweiten Kindererziehungsjahr in der Rente für Geburten vor 1992 haben wir einen ersten Schritt getan. Wir wollen die Gerechtigkeitslücke schließen: Mütter, die ihre Kinder vor 1992 auf die Welt gebracht haben, sollen künftig auch das dritte Jahr Erziehungszeit in der Rente angerechnet bekommen. Wir wollen die Mütterrente II einführen. Das ist ein wichtiger Baustein zur Bekämpfung von Altersarmut. Diese Verbesserungen bei der Mütterrente durch einen 3. Punkt sollen für Mütter gelten, die drei und mehr Kinder vor 1992 zur Welt gebracht haben (S. 13).

Was für die Rentenbezieher ein Segen ist, ist für Versorgungsausgleichsrechtler eine Pflicht. Da davon auszugehen ist, dass eine zukünftige Regierung (wann und in welcher Konstellation sie auch immer entsteht) hinter diese Absichtserklärung nicht zurückfällt, sollten die Familienrechtler Abänderungsverfahren im Versorgungsausgleich sorgfältig prüfen und in den Fällen, in denen das Abänderungspotenzial derzeit nicht groß genug ist (§ 225 FamFG), die Mandanten darauf hinweisen, dass spätestens nach Umsetzung dieses Vorhabens ausreichendes Abänderungspotenzial bestehen wird.

Maßnahmen im Elternunterhalt:

Auf das Einkommen der Kinder von pflegebedürftigen Eltern soll zukünftig erst ab einem Einkommen i.H.v. 100.000 Euro im Jahr zurückgegriffen werden (S. 15).

Dieses Vorhaben ist überfällig. Wenn auf das Einkommen von Kindern im Fall der Grundsicherungsgewährung erst ab einem Schwellwert von 100.000 € zurückgegriffen werden soll (§ 43 Abs. 2 Satz 1 SGB XII), ist diese Grenze sinnvollerweise auch in § 94 Abs. 3 SGB XII zu verankern. Unterhaltsansprüche von Eltern gegen ihre Kinder sollten auf den Träger der Sozialhilfe nur dann übergehen, wenn die Kinder ein Einkommen ab 100.000 € haben. Ob der Grenzwert von 100.000 € noch zeitgemäß ist, ist dabei zu erörtern. Die 100.000 € Grenze wurde mit der Grundsicherung zum 1.1.2005 eingeführt. Wollte man diesen Wert mit der Entwicklung der Durchschnittsgehälter in Deutschland (Durchschnittsentgelt) dynamisieren, wäre die Grenze heute mit ca. 130.000 € zu bemessen. Immerhin wird allerdings diese Grenzanhebung dazu führen, dass eine Unterhaltsverpflichtung erst ab einem Nettoeinkommen i.H.v. 4.500 € eingreift. Damit wären nach der hier geführten Statistik aus ca. 2.000 Beratungsfällen etwa 78 % der betroffenen Kinder vom Elternunterhalt befreit. Anwaltskanzleien, die im Elternunterhalt stark vertreten sind, werden sich auf diese Änderung einstellen müssen, da die Initiative für diese Veränderung aus der CDU kommt und eine Regierungsbildung ohne CDU derzeit wohl kaum vorstellbar ist.