Keine familiengerichtliche Überprüfung infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen an Schulen

Es lässt einen fassungslos zurück, was diese Pandemie mit zunehmender Dauer alles hervorbringt und nun auch in der 3. Gewalt für Spuren hinterlässt. Aber beginnen wir der Reihe nach. Am 8.4.2021 erlässt das AG – FamG – Weimar (9 F 148/21) ohne mündliche Erörterung eine einstweilige Anordnung gem. §§ 49 ff. FamFG, mit dem es Schulleitungen, deren Vorgesetzten und Lehrern zweier Schulen untersagt vorzuschreiben, dass alle Schüler dieser Schulen Gesichtsmasken tragen, Abstand halten und an Coronaschnelltests teilnehmen; ferner gebietet es, den Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten. Vorausgegangen ist die Anregung der Mutter zweier Kinder, ein „Kinderschutzverfahren gem. § 1666 Abs. 1 und 4 BGB“ einzuleiten. Es folgen seitenlange Aufzählungen von Rechtsvorschriften aller Art und Aufzählungen von Studien pro und contra Maskenpflicht sowie zur Zuverlässigkeit von Coronatests. Danach folgen schmale Ausführungen, dass die Familiengerichte gem. § 1666 Abs. 4 BGB vorrangig befugt seien, auch Maßnahmen gegen die Lehrer und Schulleitungen sowie deren Vorgesetzte entgegen bestehender Allgemeinverfügungen zu treffen; der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten nach § 40 Abs. 1 VwGO trete dahinter zurück. Die Begründetheit seiner Maßnahmen stützt das AG Weimar auf angebliche Kindeswohlgefährdungen gem. § 1666 Abs. 1 BGB durch Abstand halten, Masken tragen und Testungen. Wie abstrus diese Begründung ist, wird besonders in den Passagen deutlich, in denen sogar die Abstandsregeln als überflüssig angesehen werden und die inzwischen – bis auf wenige Außenseitermeinungen, auf die sich das Gericht stützt – schon zum Allgemeinwissen gehörende Infektionsgefahr durch Aerosole geleugnet wird. Mit teilweise übereinstimmender Begründung hat das AG Weilheim am 13.4.2021 (2 F 192/21) eine ähnliche einstweilige Anordnung erlassen, allerdings – insoweit ausdrücklich in Unterscheidung zum AG Weimar – nur mit Wirkung für das Kind der die Maßnahmen anregenden Eltern und im Wesentlichen beschränkt auf das Verbot, das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen dieses Kindes anzuordnen und es gegenüber den anderen Kindern zu isolieren. Der Fall liegt auch insofern anders, als das Kind persönlich angehört worden ist, Kopfschmerzen und Übelkeit durch das Maskentragen angegeben hat und bis vor kurzem aufgrund eines ärztlichen Attests vom Tragen einer Maske befreit war. Ein auf Verlangen der Schulleitung vorgelegtes neues Attest wurde dann nicht mehr anerkannt. Das AG Weilheim hat sich dann jedoch nicht auf die Beurteilung der Nichtanwendung der Ausnahmevorschrift durch den Schulleiter in diesem Einzelfall beschränkt, sondern § 18 Abs. 2 der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (trotz der bestehenden Ausnahmeregelung) insgesamt für nicht anwendbar erklärt.

Demgegenüber kommen das AG Wittenberg am 8.4.2021 (5 F 140/21 EASO) nach ausführlicher mündlicher Erörterung und das AG München am 18.3.2021 (542 F 2559/21) ohne mündliche Verhandlung jeweils mit ausführlichen, den „Erkenntnissen“ der Formularanregungen auch inhaltlich widersprechenden Gründen zum gegenteiligen Ergebnis. Beide verweisen u.a. darauf, dass die Anregungen auf einheitlichen im Internet abrufbaren Mustern beruhen und jeweils keine individuellen Kindeswohlgefährdungen vorgetragen werden. Die persönlich beim AG Wittenberg angehörte Kindesmutter distanziert sich dann auch von den in dem Formular sogar angestellten Vergleichen der Infektionsschutzmaßnahmen mit Folter. Beide Gerichte kommen zu dem Ergebnis, dass keine „kinderschutzrechtlichen Maßnahmen“ veranlasst sind. Soweit das AG München dies ohne mündliche Erörterung nach Kenntnisnahme des Inhalts der Anregung entscheidet, stellt sich allerdings die Frage, warum es dann unter Geltung von § 24 FamFG ein kostenauslösendes Verfahren eingeleitet und es nicht bei einer Mitteilung nach § 24 Abs. 2 FamFG belassen hat.

Einen völlig anderen Weg schlägt das AG Waldshut-Tiengen mit Beschluss vom 13.4.2021 (306 AR 6/21) ein, erklärt den Rechtsweg zum FamG für unzulässig und verweist das Verfahren an das Verwaltungsgericht. Treffend wird dort zwar ausgeführt wird, dass § 1666 Abs. 4 BGB kein Gesetz ist, wonach gem. § 40 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 VwGO ausnahmsweise öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. § 1666 Abs. 4 BGB hat nach den Materialien lediglich den Zweck, im Einzelfall nicht den Zivilrechtsweg gegen (private) Dritte einschlagen zu müssen.

Dazu sei ergänzend darauf hingewiesen, dass de lege lata nach h.M. die Familiengerichte nicht einmal in der besonderen „Verantwortungsgemeinschaft“ mit dem Jugendamt befugt sind, in klaren Fällen von § 1666 Abs. 1 BGB i.V.m. § 1666a BGB dem öffentlichen Recht zugewiesene jugendhilferechtliche Maßnahmen für die Jugendhilfeträger verbindlich anzuordnen und bei einem darüber bestehenden Konflikt mit Trägern der Jugendhilfe den Beteiligten nur der Verwaltungsrechtsweg bleibt (so ausdrücklich BVerfG v. 24.3.2014 – 1 BvR 160/14 Rz. 50 = ZKJ 2014, 242 m. Anm. Gottschalk; ferner BVerfG v. 22.5.2014 – 1 BvR 2882/13, FamRZ 2014, 1266 Rz. 55; BVerfG v. 17.3.2014 – 1 BvR 2695/13, FamRZ 2014, 1177 Rz. 33 ff.; BVerwG v. 21.6.2001 – 5 C 6.00, FamRZ 2002, 668; OLG Nürnberg v. 17.11.2014 – 11 UF 1097/14, FamRZ 2015, 1211; Lugani in MünchKomm/BGB, 8. Aufl., § 1666 Rz. 180, 181; Meysen, NZFam 2016, 580 m.w.N.; a.A. OLG Koblenz v. 11.6.2012 – 11 UF 266/12, NJW 2012, 3108; Fahl, NZFam 2015, 248; Heilmann/Köhler, Praxiskommentar, § 36a SGB VIII Rz. 4–8; krit. auch Heilmann, NJW 2014, 2904, 2908 f. und – vermittelnd – Coester in Staudinger, BGB, § 1666a Rz. 13–22 m.w.N.). Insoweit wird auch gesetzgeberischer Bedarf gesehen (Coester in Staudinger, BGB, § 1666a Rz. 23; Meysen, NZFam 2016, 580, 585). Über den dafür nicht geschaffenen § 1666 Abs. 4 BGB öffentlich-rechtliche Vorschriften auszuhebeln, ist aber jedenfalls nicht einmal in diesen Fällen eine Option.

Die Konsequenz der Verweisung an das Verwaltungsgericht, die das AG Waldshut-Tiengen aus seiner richtigen Erkenntnis zieht, ist allerdings nicht zutreffend, denn § 17a GVG gilt jedenfalls für nur von Amts wegen einzuleitende Verfahren nicht (BT-Drucks. 16/6308, 318; Bumiller/Harders/Schwamb, FamFG, 12. Aufl., § 122 Rn. 10; Lückemann in Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 17a GVG Rz. 21; Pfälz. OLG v. 26.7.1999 – 3 W 161/99, FamRZ 2000, 764, 765). Es fehlt nämlich insoweit schon am „beschrittenen Rechtsweg“ i.S.v. § 17a GVG als Voraussetzung einer Verweisung oder Abgabe.

Konsequenzen für die Praxis: Statt einer Verweisung ist deshalb nach dem bereits erwähnten § 24 FamFG zu prüfen, ob überhaupt ein Verfahren einzuleiten ist. Folgt das Gericht der Anregung nach § 24 Abs. 1 FamFG nicht, wofür in den besprochenen Fällen, die der Sache nach gar keine „Kinderschutzverfahren“ sind (s.o.), sehr viel spricht, hat es nach § 24 Abs. 2 FamFG denjenigen, der die Einleitung angeregt hat, darüber – formlos – zu unterrichten, soweit ein berechtigtes Interesse an der Unterrichtung ersichtlich ist. Dies dürfte bei einer Anregung von Eltern allerdings regelmäßig der Fall sein.

Soweit dagegen insbesondere das AG Weimar – einem dahinter offenbar steckenden Netzwerk folgend – seine Zuständigkeit für eine Anordnung gegenüber sämtlichen Kindern zweier Schulen mit abwegiger Begründung bejaht hat, besteht Veranlassung darauf hinzuweisen, dass in der Vergangenheit schon aus geringeren Anlässen Verfahren gegen Richter geführt worden sind, die sich einer offensichtlich nicht gegebenen Zuständigkeit berühmt haben (vgl. „Fall Görgülü“ OLG Naumburg v. 6.10.2008 – 1 Ws 504/07, NJW 2008, 3585). Nach Presseberichten prüft die Erfurter Staatsanwaltschaft auf Strafanzeigen gegen den Weimarer Richter, ob sie ein Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung einleitet, während bundesweit weitere Anregungen derselben Machart die deutschen Familiengerichte überfluten. Das AG Hannover hat deshalb auf seiner Homepage Amtsgericht Hannover (niedersachsen.de) eine Pressemitteilung hinterlegt, dass es in den mehr als 100 Fällen mit nahezu gleichlautenden Anregungen keine Verfahren einleitet, weil nach Auffassung der Richterinnen und Richter des Familiengerichts des AG Hannover eine konkrete Kindeswohlgefährdung i.S.v. § 1666 BGB nicht ersichtlich ist.

Aktualisierung vom 22.4.2021: Inzwischen hat das VG Weimar mit Beschluss vom 20.4.2021 (8 E 416/21 We) in einem Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO dem Beschluss des Weimarer Familiengerichts zur Frage der Zuständigkeit mit etwa derselben Begründung wie hier und folgendem Satz deutlich widersprochen: „Der Beschluss ist als ausbrechender Rechtsakt (VGH München v. 16.4.2021 – 10 CS 21.1113) offensichtlich rechtswidrig.“

In der Sache weist das VG die Eilanträge der Antragsteller kostenpflichtig zurück, setzt sich dabei ausführlich mit deren Angriffen auf die den Schulbetrieb betreffende Allgemeinverfügung des Freistaates Thüringen auseinander und hält diese auf der Basis des Infektionsschutzgesetzes i.V.m. § 2 Abs. 2, § 38 Abs. 5 ThürSARS-CoV-2-KiJuSSp-VO (vgl. dazu Thüringer Oberverwaltungsgericht v. 17.3.2021 – 3 EN 93/21, juris) zur Eindämmung des Coronavirus für rechtmäßig. Bei der Interessenabwägung wiege das öffentliche Interesse am Schutz von Leben und Gesundheit einerseits der Personen im Nähebereich der Antragsteller (z. B. sonstige Familienmitglieder oder Freunde) und andererseits der Mitschülerinnen und Mitschüler und der gesamten Bevölkerung höher als das Interesse der Antragsteller, von den ihnen auferlegten Maßnahmen vorläufig verschont zu bleiben. Durchgreifende gesundheitliche Bedenken, die gerade auch bei jüngeren Kindern im Grundschulalter generell gegen eine Tragepflicht von Mund-Nasenschutz sprechen könnten, seien nicht zu erkennen (so auch OVG Münster v. 9.3.2021 – 13 B 266/21.NE, juris Rz. 53 ff.).

Aktualisierung vom 7.5.2021: Inzwischen befassen sich die Oberlandesgerichte mit den Beschwerden von Eltern gegen die ihren Anregungen nicht folgenden Entscheidungen der Familiengerichte. Aus Pressemitteilungen der Oberlandesgerichte Karlsruhe und Nürnberg ist zu entnehmen, dass diese es genauso sehen wie vom Verfasser hier vertreten. Beide heben daher die erstinstanzlichen Beschlüsse insoweit auf, als Verweisungen an die Verwaltungsgerichte erfolgten, weil diese Verfahrensweise bei Amtsverfahren nicht in Frage komme. Am Ende der Karlsruher Pressemitteilung wird auf § 24 FamFG hingewiesen. Das OLG Nürnberg hat das „Verfahren“ eingestellt und die Rechtsbeschwerde zum BGH zugelassen.

Corona, Patientenverfügung und Triage

Steigende Inzidenzzahlen und offenbar ansteckendere Mutationen des Covid-19-Virus haben zur Beunruhigung zahlreicher Menschen geführt, die eine Patientenverfügung verfasst haben. Sie befürchten, bei einer Erkrankung an dem Virus nicht ausreichend medizinisch versorgt zu werden. Insbesondere wenn nicht genügend Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen, würden möglicherweise erkrankte Personen mit einer Patientenverfügung nicht weiter behandelt.

Ob insoweit ein Risiko besteht, muss im Einzelfall anhand der konkreten Patientenverfügung geprüft werden. Enthält die Patientenverfügung die Ablehnung einer künstlichen Beatmung, muss der Betreuer oder Vorsorgebevollmächtigte zunächst prüfen, ob die Verfügung in der möglicherweise nicht bedachten Pandemie-Situation noch dem wirklichen Willen des Betroffenen entspricht. Nochmals: Dies gilt vor allem für ältere Verfügungen, in denen das Problem noch nicht bekannt war. Regelmäßig wird man ferner davon ausgehen müssen, dass der Betroffene lediglich in den Fällen, in denen keine Hoffnung auf Genesung besteht, eine (Weiter-)Behandlung untersagt. Bei den Mustern der Justiz (BMJV und BayStMJ) besteht diesbezüglich kein Problem, da, sofern keine diesbezügliche eigene Ergänzung erfolgt ist, invasive und nicht invasive Formen der Beatmungstherapie nicht ausdrücklich untersagt werden. Besteht bei einer Covid-19-Erkrankung nach ärztlicher Einschätzung auch bei einer Intensivtherapie keine Aussicht auf Genesung, ist der in der Patientenverfügung niedergelegte Wille des Erkrankten auf Verzicht auf eine Weiterbehandlung zu respektieren.

Umgangskontakte um jeden Preis? (OLG Frankfurt v. 11.11.2020 – 3 UF 156/20 sowie OLG Frankfurt v. 24.11.2020 – 5 UF 110/20)

Neben den klassischen Fällen des Umgangsboykotts durch den betreuenden Elternteil haben in der Praxis auch jene Fallkonstellationen ihren Platz, in denen ausdrücklich eine weitere Einbringung eines Elternteils in die Betreuung eines gemeinsamen Kindes gewünscht wird, d.h. nicht nur weitergehende Umgangskontakte, sondern häufig die grundsätzliche Bereitschaft eines Elternteils zu Umgangskontakten familiengerichtlich umgesetzt werden muss. Mit entsprechenden Sachverhalten hat sich das OLG Frankfurt im November 2020 gleich in zwei Entscheidungen befassen müssen.

In der Entscheidung vom 11.11.2020 leitete die Kindesmutter ein gerichtliches Verfahren zur Umgangsregelung zwischen ihrem getrenntlebenden Ehemann und den gemeinsamen drei Söhnen ein. Während die Kinder sich ausdrücklich für einen Kontakt mit ihrem Vater aussprachen und anlässlich ihrer gerichtlichen Anhörung diesen Wunsch auch konsequent wiederholten, wurde der Kontakt seitens des Vaters mit der Begründung abgelehnt, dass er unter erheblichem beruflichen Druck stehe bzw. aus seiner neuen Beziehung ein weiteres Kind hervorgegangen sei, so dass er sich aus tatsächlichen Gründen zu einer Wahrnehmung der Umgangskontakte außer Stande sehe.

Orientiert an einer gefestigten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hat der Senat dann auch der Beschwerde des Vaters, mit der er sich gegen die familiengerichtliche Entscheidung zur Wehr setzte, durch die er zur Wahrnehmung von Umgangskontakten verpflichtet wurde, eine Absage erteilt. Der Senat hat insbesondere darauf verwiesen, dass die Umgangsverweigerung einen maßgeblichen für das Kind und seine Entwicklung entscheidenden Entzug elterlicher Verantwortung und zugleich die Vernachlässigung eines wesentlichen Teils der in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG statuierten Erziehungspflicht darstellt bzw. der mit der elterlichen Umgangspflicht verbundene Eingriff in deren Grundrecht auf Schutz der Persönlichkeit wegen der den Eltern durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten und auferlegten Verantwortung für ihr Kind und wegen des Rechtes des Kindes auf Pflege und Erziehung durch die Eltern gerechtfertigt ist.

Auch in dem der Entscheidung vom 24.11.2020 zugrundeliegenden Sachverhalt verweigerte der Vater die Umgangskontakte mit dem gemeinsamen knapp zweijährigen Kind. Allerdings war es in dem gerichtlichen Verfahren der Antragsteller, der Umgangskontakte dem Grunde nach einforderte, allerdings nur unter der von ihm vorgegebenen Bedingung eines zusammenhängenden Ferienumgangs an seinem Wohnort. Die von ihm eingelegte Beschwerde gegen die Ausgangsentscheidung, mit der zunächst regelmäßige Kontakte am Tag festgelegt wurden, blieb ohne Erfolg. Zur Begründung hat der Senat u.a. darauf verwiesen, dass ein Umgang mit Übernachtungen im Haushalt des Vaters derzeit nicht in Betracht kommen, da es einer entsprechenden Vorbereitung des Kindes bedürfe, nachdem über längere Zeit keine Kontakte durch den Vater wahrgenommen wurden und er seinen Wohnsitz auch an einen rund 400 km von der Wohnung der Mutter gelegenen Ort verlegt hatte. Der Senat hat letztlich festgestellt, dass es in diesem Fall keiner Umgangsregelung bedarf, so dass dem Vater freigestellt wurde, zunächst die Voraussetzungen zu schaffen, um der von ihm selbst verantworteten Entfremdung entgegenzuwirken.

Der Umgang des Kindes mit beiden Elternteilen gehört in der Regel zum Wohl des Kindes, wobei § 1684 Abs. 1 BGB den verfassungsunmittelbaren Anspruch des Kindes auf Umgang mit jedem seiner Elternteile konkretisiert. Bei der Verwirklichung des Umgangsrechts sind vorrangig die Interessen des Kindes zu berücksichtigen, wobei der nicht betreuende Elternteil eine Pflicht zum Umgang mit dem Kind hat, so dass auch auf ein Umgangsrecht nicht rechtswirksam verzichtet werden kann.

In der Grundsatzentscheidung vom 1.4.2008 hat das BVerfG hervorgehoben, dass gegenüber einem umgangsunwilligen Elternteil der Umgang mit dem Kind zwar grundsätzlich unter Inanspruchnahme von Ordnungsmittel umgesetzt werden könnte, ein derart erzwungener Umgang in der Regel wohl aber nicht dem Kindeswohl dienen würde (BVerfG v. 1.4.2008 – 1 BvR 1620/04, FamRB 2008, 174).

Ebenso wie in den Fällen des Umgangsboykotts durch den betreuenden Elternteil ist auch in den Fällen einer bestehenden Umgangsverweigerung zu hoffen, dass Elternteile sich auf die ihnen gegenüber ihren Kindern bestehende Verantwortung besinnen und unter Zurückstellung eigener Befindlichkeiten ihr Verhalten an den vorrangigen Belangen ihres Kindes ausrichten.

Kindesunterhalt im Wechselmodell

Immer häufiger wird in Politik und Medien das so genannte „Wechselmodell“ diskutiert, in dem Kinder getrennter Paare, im Wechsel von beiden Elternteilen jeweils hälftig betreut werden. Die familienrechtliche Praxis zeigt, dass diese Betreuungsvariante auch tatsächlich zunehmend praktiziert wird. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung in der Bevölkerung ist es nämlich keineswegs so, dass im Falle der Betreuung eines Kindes im Wechselmodell die Pflicht zur Leistung von Kindesunterhalt vollständig entfällt. Vielmehr ist es so, dass die Eltern anteilig entsprechend ihren Einkommensverhältnissen für den Kindesunterhalt aufzukommen haben. Der besser verdienende Elternteil muss also im Wechselmodell einen Ausgleich in Geld an den schlechter verdienenden Elternteil leisten.

Für den Rechtsberater ist diese Konstellation in Unterhaltsverfahren vor allem deshalb problematisch, weil ein Kind grundsätzlich nur von beiden sorgeberechtigten Elternteilen gemeinsam vertreten werden kann. Da das Kind und nicht etwa der schlechter verdienende Elternteil der Inhaber des Unterhaltsanspruchs ist, müssten also eigentlich beide Elternteile den Unterhaltsanspruch gemeinsam geltend machen. Es liegt auf der Hand, dass der unterhaltspflichtige Elternteil dazu häufig nicht ohne weiteres bereit ist. Für die „normale“ Konstellation, in der das Kind seinen Lebensmittelpunkt nur bei einem der beiden Elternteile hat, sieht das Gesetz daher bzgl. der Kindesunterhaltsansprüche eine Ausnahme von der gemeinsamen Vertretungsberechtigung vor. Gemäß § 1629 Abs. 2 Satz 2 BGB kann derjenige Elternteil, bei dem das Kind seinen Lebensmittelpunkt hat, dessen Unterhaltsansprüche gegen den anderen Elternteil alleine geltend machen. Da diese Ausnahme im Falle eines Wechselmodells nicht greift, behilft sich die Rechtsprechung bisher mit zwei „Notlösungen“, die der Bundesgerichtshof auch beide als rechtstechnisch möglich bestätigt hat (BGH v. 12.3.2014 – XII ZB 234/13, FamRZ 2014, 917 = FamRB 2014, 204). Beide Lösungen werden jedoch den Anforderungen der Praxis nicht gerecht:

Zum einen soll es möglich sein, dass das Familiengericht auf Antrag eines Elternteils das Sorgerecht bzgl. der Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen nach § 1628 BGB auf einen der beiden Elternteile zur alleinigen Ausübung überträgt (BGH v. 12.3.2014 – XII ZB 234/13, FamRZ 2014, 917 = FamRB 2014, 204; zur abweichenden Meinung s. Palandt/Götz, 80. Aufl., § 1628 BGB Rn. 5 m.w.N). Wählt der Rechtsberater diesen Weg, muss er, bevor er überhaupt ein Unterhaltsverfahren einleiten kann, zunächst einmal einen Antrag nach § 1628 BGB stellen, also ein Sorgerechtsverfahren führen. Angesichts dessen, dass der schlechter verdienende Elternteil häufig dringend auf die Zahlungen des anderen Elternteils zur Versorgung der gemeinsamen Kinder angewiesen ist, führt dies zu untragbaren Verzögerungen.

Zum anderen kann der schlechter verdienende Elternteil bei Gericht anregen, für das Kind einen Ergänzungspfleger zur Durchsetzung seiner Unterhaltsansprüche zu bestellen. Diese Variante ist zum einen deshalb problematisch, weil das Gericht in diesem Fall zunächst einmal eine geeignete Person finden und beauftragen und diese Person sich dann auch noch um die Durchsetzung der Unterhaltsansprüche bemühen muss. Hier ist also erst recht mit einer ganz erheblichen Verzögerung zu rechnen. Zudem hat der schlechter verdienende Elternteil keine Möglichkeit, auf den Verlauf des von dem Ergänzungspfleger zu führenden Verfahrens Einfluss zu nehmen.

Meines Erachtens gibt es hier einen weit einfacheren und praktikableren Weg, der im Interesse der betroffenen Kinder und Elternteile ständige Praxis bei den Familiengerichten werden sollte:

  1. Solange der unterhaltspflichtige Elternteil keine Einwände gegen die Durchsetzung des Unterhaltsanspruchs des Kindes durch den anderen Elternteil als solche, sondern nur gegen die Höhe des geltend gemachten Anspruchs erhebt, stellt dies eine zumindest konkludente Zustimmung des unterhaltspflichtigen Elternteils zur alleinigen Ausübung des Sorgerechts des anderen Elternteils bzgl. der Durchsetzung der Unterhaltsansprüche dar. Solange hier Einigkeit besteht, bedarf es keiner Entscheidung nach § 1628 BGB, der nur greift, wenn sich die Eltern „in einer Angelegenheit oder in einer bestimmten Art von Angelegenheit der elterlichen Sorge“ nicht einig sind.
  2. Wenn der unterhaltspflichtige Elternteil seine Zustimmung widerruft, kann das Familiengericht diesem Elternteil das Sorgerecht bzgl. der Durchsetzung der Kindesunterhaltsansprüche gemäß § 1629 Abs. 2 S. 3 BGB i.V.m. § 1796 Abs. 1, Abs. 2 BGB entziehen, da hier ganz offensichtlich eine Interessenkollision zwischen dem berechtigten Kind und dem verpflichteten Elternteil besteht. Damit fällt das Sorgerecht bzgl. der Durchsetzung der Kindesunterhaltsansprüche gemäß § 1680 Abs. 3 BGB automatisch dem anderen Elternteil alleine zu.
  3. Wenn der unterhaltspflichtige Elternteil seine Zustimmung zur Durchsetzung der Unterhaltsansprüche durch den anderen Elternteil bereits vorgerichtlich verweigert, kann der Unterhaltsantrag dennoch unmittelbar gestellt werden, verbunden mit der Anregung, dem anderen Elternteil das Sorgerecht bzgl. der Durchsetzung der Unterhaltsansprüche zu entziehen.

Würden die Gerichte in diesen Fällen standardmäßig dem unterhaltspflichtigen Elternteil das Sorgerecht bzgl. der Durchsetzung der Kindesunterhaltsansprüche wegen Interessenkollision entziehen, würde dies dazu führen, dass die unterhaltspflichtigen Elternteile zukünftig in den meisten Fällen freiwillig ihre Zustimmung zur Durchsetzung der Unterhaltsansprüche durch den anderen Elternteil erteilen würden, womit sich dieses in der Praxis äußerst hinderliche rechtstechnische Problem insgesamt erledigt hätte.

20 Jahre FamRB!

Mit der Januarausgabe 2021 ist der FamRB in seinen 20. Jahrgang gestartet. Das Konzept war damals neu: kurze und knackige Urteilsbesprechungen und ihre Einordnung in den Gesamtzusammenhang des Familienrechts, gepaart mit Aufsätzen für Praktiker, ohne dass wissenschaftlicher Tiefgang und Innovationskraft darunter leiden sollten. Das damals Neue hat sich bewährt. Jetzt haben sich alle an dieses Format gewöhnt und einige haben es kopiert.

Der damalige Konzeptwandel war möglich, weil die bis dahin notwendige Dokumentation von Urteilen und Beschlüssen aus dem Familienrecht durch das aufkommende Internet obsolet wurde. Jeder kommt heute an alle Entscheidungen der Gerichte. Bei dieser Ausgangslage konnte auf ellenlange Entscheidungsdokumentation verzichtet werden. Die Einordnung einer Entscheidung in die familienrechtliche Entwicklung und die Darstellung ihrer praktischen Bedeutung wurde möglich und wichtiger.

Beraterzeitschriften betreiben keine elitäre Wissensvermittlung. Sie sind für die Lektüre auf dem Gerichtsflur, in U- und S-Bahn und zum Durchblättern am Mittag geschaffen. Sie haben der Fachanwaltschaft „Waffengleichheit“ mit der Richterschaft verschafft. Sie sind schnell und konkret.

Der Verlag hat dem FamRB zwei Geschwister zur Seite gestellt, den monatlichen Newsletter und den FamRB-Blog, in dem aktuelle Fragen oder Entscheidungen aufgegriffen, vorgestellt und kommentiert werden. Einen Diskurs der Familienrechtler haben sie nicht zu begründen vermocht, obwohl dieser Gang in die Szene der Social Media eigentlich recht zeitgemäß erscheint. Es wäre also an der Zeit, dass Sie sich in die familienrechtliche Diskussion einmischen. Nutzen Sie unsere Kommentarfunktion, chatten Sie mit uns – entwickeln Sie ein zeitgemäßes, mit der Lebenswirklichkeit der Menschen harmonierendes Familienrecht mit!

Fachzeitschriften operieren immer noch wie antiquierter Frontalunterricht. Dabei bin ich sicher, dass sich alle Autorinnen und Autoren lebhaftere Resonanz der Leser auf ihre Beiträge wünschen. Email, Telefon und Internet machen das möglich. Nur wenn es gelingt, über Fachzeitschriften die Fachdiskussion zu beleben, werden wir auch in weiteren 20 Jahren noch Printmedien haben, bei denen die Lektüre des Inhaltsverzeichnisses der jeweiligen Ausgabe die Neugier weckt, auch mal etwas zu lesen, was man nicht konkret sucht und im Alltagsgeschäft unmittelbar verwerten kann. Online-Medien füllen mit ihrer Information eine Wissenslücke, derer man sich bewusst ist. Print-Medien bilden, weil Sie dem Leser Wissenslücken erst bewusstmachen, die sie im besten Fall auch gleich füllen. Deshalb werden sie auch noch in 20 Jahren ihre Berechtigung und Leser haben. Es bleibt die Aufgabe, wie wir die „alten“ mit den „neuen“ Medien noch besser verzahnen. Aber dazu haben wir ja die nächsten 20 Jahre Zeit. Den Geburtstagsglückwunsch wird dann aber ein anderer Autor schreiben dürfen.

Elterliches Hobby versus Kindeswohl? (OLG Frankfurt v. 27.10.2020 – 1 UF 170/20)

Dass ein – möglicherweise bereits während des elterlichen Zusammenlebens gepflegtes – Hobby nach der Trennung Anlass zur Prüfung einer Kindeswohlgefährdung sein kann, zeigt ein aktueller Beschluss des OLG Frankfurt.

In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt übten die getrenntlebenden Eltern die Sorge für ihren 2019 geborenen Sohn gemeinsam aus. Der Vater hielt im Zusammenhang mit dem von ihm betriebenen Schlittenhundesport u.a. fünf Huskys sowie einen Labrador. Seitens der Mutter wurde dem Umgang entgegengehalten, dass sie die Kontakte nur akzeptiere, wenn die Hunde sich in dieser Zeit im Zwinger befänden. Erstinstanzlich wurde dem Vater ein Umgang mit dem Kind zuerkannt, allerdings nur in Abwesenheit der Hunde. Auf seine Beschwerde wurde die Ausgangsentscheidung dahin abgeändert, dass er lediglich sicherzustellen hatte, dass während der Umgangskontakte das Kind nicht in Gegenwart von einem oder mehreren Hunden unbeaufsichtigt bleibe. Seine Entscheidung hat der Senat darauf gestützt, dass mit der Umgangsregelung auch Auflagen verbunden werden könnten, gerichtet etwa auf das Verbot der Gegenwart eines gefährlichen Tieres während des Umgangs. Im konkreten Fall gebe es keine Anhaltspunkte für eine konkrete Kindeswohlgefährdung, da die Hunderassen nicht als gefährlich einzustufen und auch nicht in der jeweiligen Gefahrenabwehrverordnung gelistet seien. Zudem könne davon ausgegangen werden, dass die Tiere regelmäßig trainiert würden und damit über einen Grundgehorsam verfügten. Eine abstrakte Gefahr aufgrund der Anzahl der Hunde, die eine weitergehende Regelung verlange, sei nicht zu erkennen. Ebenso seien auch keine Anhaltspunkte dargetan, dass der Vater seiner Elternverantwortung und Aufsichtspflicht während der Umgänge nicht genüge. Mit Blick auf die Bedenken der Mutter und die Loyalitätspflicht des Vaters sei es aber geboten, die Verpflichtung an den Vater zum Zweck der Klarstellung und mahnenden Erinnerung zu tenorieren, um eine besondere Aufmerksamkeit in Situationen sicherzustellen, in denen die Hunde besonders aufgeregt sein könnten.

Können sich Eltern außergerichtlich über die Umgangsregelung nicht verständigen, so bedarf es der gerichtlichen Entscheidung, in die die beiderseitigen Grundrechtspositionen der Eltern, das Kindeswohl und die Individualität des Kindes als Grundrechtsträger einzubeziehen ist. Oberster Maßstab der Entscheidung ist das Kindeswohl. Die gerichtliche Entscheidung umfasst üblicherweise nur Regelungen zur Umgangszeit, der Dauer und der Häufigkeit der Kontakte. Die konkrete Gestaltung des Umgangsablaufs obliegt primär dem Umgangsberechtigten, wobei der Loyalitätsverpflichtung gem. § 1684 Abs. 2 BGB in der Form Bedeutung zukommt, dass während des Kontakts Beeinflussungen des Kindes zu unterlassen sind. Darüber hinaus hat der umgangsberechtigte Elternteil auf die Kindesbelange – etwa bei gesundheitlichen Einschränkungen – Rücksicht zu nehmen. Werden seitens eines Elternteils am Kindeswohl orientiert Sicherheitsbedenken erhoben, die sich auch nicht als rechtsmissbräuchlich darstellen, so ist diesen bei der Ausgestaltung des Umgangs Rechnung zu tragen bzw. sind diese ggf. dann auch in die familiengerichtliche Regelung aufzunehmen. Besondere Bedeutung können derartige Sicherheitsbedenken im Zusammenhang mit Hobbys eines Elternteils erlangen. So kann durchaus ein Verbot, das Kind nicht auf einem Motorrad mitzunehmen, gerechtfertigt sein oder auch die Verpflichtung, dafür Sorge zu tragen, dass während des Umgangs ein gefährliches Haustier – etwa ein Kampfhund den das Kind zudem auch nicht kennt (z.B. KG Berlin v. 21.5.2002 – 18 UF 57/02, FamRB 2003, 9) – abwesend ist.

Da typischerweise das Verhalten des umgangsberechtigten Elternteils nicht darauf angelegt ist, das Kindewohl zu gefährden und ebenso der betreuende Elternteil nicht daran interessiert ist, die Heranführung des Kindes an das Hobby des anderen Elternteils prinzipiell zu verbieten, kann gerade in diesen Sachverhaltskonstellationen die Inanspruchnahme eines gemeinsamen Beratungsgesprächs beim Jugendamt deeskalierend wirken. Nach § 18 Abs. 3 SGB VIII haben nicht nur Kinder und Jugendliche einen eigenen Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Anbahnung und Ausübung des Umgangsrechts, sondern auch Eltern, andere Umgangsberechtigte sowie Personen in deren Obhut sich das Kind befindet.

Mindestunterhaltsverordnung zum Dritten

Ab heute ist es offiziell: Es gibt eine „Dritte Verordnung zur Änderung der Mindestunterhaltsverordnung“ (VO v. 3.11.2020, BGBl. I, 2344).

Es deutete sich schon im August mit der Bekanntgabe der (vorläufigen) neuen Regelbedarfe an, mit der Veröffentlichung des 13. Existenzminimumberichts wurde es dann im September offensichtlich: Die sozialrechtlichen Bedarfe für Kinder sind von einem Jahr zum nächsten sehr viel stärker gestiegen, als es bei der Festsetzung des Mindestunterhalts für 2021 prognostiziert worden war. Der Grund dafür sind die im Frühsommer publizierten Daten der jüngsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS 2018), die dann noch einmal gemäß der Lohn- und Preisentwicklung fortgeschrieben werden mussten.

Das Ergebnis ist ein für Kinder steuerfrei zu stellendendes Existenzminimum von 5.412 Euro in 2021, also 541 Euro im Monat und damit 17 Euro mehr als in der zweiten Änderungsverordnung festgesetzt worden war. Eine so hohe Abweichung forderte eine Reaktion des Gesetzgebers heraus, der den Mindestunterhalt außerhalb des durch § 1612a Abs. 4 BGB vorgegeben Turnus an diese aktuelle Entwicklung angepasst hat. Der Mindestunterhalt wird sich daher ab Januar 2021 auf 393/451/528 Euro belaufen. Bei einem um mehr als 6% höheren Unterhalt handelt es sich um eine erhebliche Steigerung in einer Zeit, in der nicht wenige Arbeitnehmer mit den Folgen der Pandemie belastet sind. Daher ist es nur ein schwacher Trost, dass es zum Januar eine mit 15 Euro ebenfalls überproportionale Erhöhung des Kindergeldes geben wird. Diese genügt nicht, um den erhöhten Bedarf vollständig zu decken. Statt wie erwartet nahezu gleichbleibender Zahlbeträge ist beim Mindestunterhalt mit einer um 16,50 bis 23,50 Euro höheren Zahllast zu rechnen.

Neben diesen unterhaltsrechtlichen Folgen gibt es noch einen weiteren bemerkenswerten Gesichtspunkt. Der Anstieg der Regelbedarfe erfolgt keineswegs gleichförmig über alle Altersstufen. Vielmehr bleibt der Bedarf bei den 6 bis 13 Jahre alten Kindern praktisch unverändert, während bei den jüngeren und älteren Kindern (Regelbedarfsstufen 4 und 6) ein sprunghafter Anstieg von jeweils mehr als 13% zu verzeichnen ist. Daraus ergibt sich das paradoxe Ergebnis, dass der Bedarf von Jugendlichen noch über dem Bedarf der jungen Erwachsenen liegt, die als Schüler weiterhin im Elternhaus leben. Solche unerklärlichen Abweichungen sind geeignet, erneut Zweifel an einer sachgerechten Bemessung der existenznotwendigen Regelbedarfe zu nähren. Immerhin hat das BVerfG schon 2014 Bedenken hinsichtlich der Stichhaltigkeit der festgesetzten Beträge geäußert und auf die Gefahr einer Unterdeckung hingewiesen (BVerfG v. 23.7.2014 – 1 BvL 10/12, FamRZ 2014, 1765). Der Ruf nach grundlegenden Korrekturen dürfte lauter werden.

Oh, wie schön ist das Familienrecht

Ich sitze mit Werner Schulz an der Fertigstellung der 7. Auflage unseres Buchs Schulz/Hauß, Vermögensauseinandersetzung bei Trennung und Scheidung. Man sagt Juristinnen und Juristen ja eine gewisse Fantasielosigkeit nach. Das wäre zu prüfen:

Fall: M verliert bei der Einfahrt in sein Grundstück die Kontrolle über sein einkaufsbeladenes Fahrrad, das den 14 Jahre alten Wagen des mit ihm befreundeten Nachbarn N beschädigt. Da M haftpflichtversichert ist, lässt N ein Schadensgutachten erstellen und bittet M um Regulierung in Höhe von 3.000 €. Die Versicherung verweigert aus vertraglichen Gründen die Regulierung. Weil der Wagen alt, aber gleichwohl voll funktionsfähig ist, lässt N ihn nicht reparieren, macht aber den Schaden gegen seinen Freund M auch nicht weiter geltend. Vier Jahre nach diesem Ereignis trennen sich M und seine Frau FM, die eine intime Beziehung zu FN, der Frau des Nachbarn N begonnen hat. Unmittelbar nach der Scheidung fordert sie M zur Auskunft über sein Endvermögen auf. M gibt dieses mit 100.000 € an und vermindert es um die Schadenersatzforderung von N über 3.000 €. FM protestiert dagegen und vertritt die Ansicht, die Forderung sei verjährt und daher nicht zu passivieren. Auch FN fordert nach der Scheidung von N von diesem Auskunft über sein Vermögen. N gibt dieses mit 50.000 € an und wendet auf den Hinweis der Existenz der Schadensersatzforderung ein, diese sei verjährt und daher mit Null zu bilanzieren.

Dieser ‚kleine‘ Fall führt in die Herzkammer der Forderungsbewertung im Güterrecht und zu deutlich wahrnehmbaren Herzflimmern. Wenn der eine die einredebehaftete Forderung voll passiviert, der andere die gleiche Forderung aber nicht aktivieren kann, wird man nachdenklich und fragt, ob das richtig sein kann.

Ich meine ‚ja‘. Der Marktwert einer mit der Verjährungseinrede behafteten Forderung ist Null. Niemand würde N diese Forderung abkaufen. Die Schuld als Kehrseite der verjährten Forderung besteht aber, solange die Einrede nicht erhoben wird. Im Stichtag war dies nicht der Fall, weshalb es richtig ist die Forderung des N zu passivieren.

Dagegen könnte eingewandt werden, M habe die ‚Obliegenheit‘, die Einrede zu erheben und diese habe – als latente Konsequenz aus der Ehe – bereits vor dem Stichtag bestanden. Das allerdings widerspräche dem im Güterrecht herrschenden strengen Stichtagsprinzip. Ist die die Forderung vernichtende Verjährungseinrede ehezeitlich nicht erhoben worden, besteht die Schuld am Stichtag. Die nachehezeitliche Erhebung der Einrede ist eine nachehezeitliche Leistung. Es kann güterrechtlich keine ‚unsichere Schuld‘, wohl aber ‚unsichere Forderungen‘ geben. Die Schuld steht fest. Der Vermögenswert einer Forderung hängt – im Unterschied zur Schuld – vom Schuldner ab. Man würde ja bei im Stichtag bestehenden Verbindlichkeiten auch nicht die Chance der Restschuldbefreiung durch Insolvenz in die Bewertung der Höhe der zu bilanzierenden Schuld einbeziehen.

Deshalb wäre im obigen Beispiel die Schuld bei M zu passivieren und die Forderung bei N nicht als Vermögenswert einzustellen. Ein ‚sauberes Ergebnis‘, das vielleicht nicht von allen geteilt und von den im Beispiel beteiligten Frauen nicht goutiert werden wird.

Um das Problem noch ein wenig zu toppen: Nachdem die Frauen eine gleichgeschlechtliche Beziehung aufgebaut haben, ziehen die beiden Männer nach. FM verlangt von M Unterhalt. Kann dieser die Höhe seiner Unterhaltsverpflichtung mit Verweis auf die dem N gegenüber bestehende Schadensersatzpflicht vermindern und zulasten des Unterhaltsanspruchs die Forderung des N in 10 monatlichen Raten zu 300 € tilgen?

Ich meine nein, weil einerseits die Tilgung dieser Verbindlichkeit die ehelichen Lebensverhältnisse nicht geprägt hat und andererseits M die unterhaltsrechtliche Obliegenheit hat, sich – zur Verbesserung seiner unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit – auf Verjährung zu berufen. Außerdem würde es gegen das Verbot der Doppelberücksichtigung sprechen, die Forderung sowohl im Güterrecht, als auch im Unterhalt leistungsmindernd zu berücksichtigen.

Nacheheliche Solidarität wird im Unterhaltsrecht, nicht aber im Güterrecht geschuldet.

Über Widerspruch und Zustimmung zu diesen Thesen würde ich mich freuen. Nutzen Sie zu diesem Zweck die Kommentarfunktion!

Verbesserung des Kinderschutzes durch Änderung des Familienverfahrensrechts? (BT-Drucks. 360/20)

Am 24.6.2020 hat das Land Baden-Württemberg einen Gesetzesantrag im Bundesrat eingereicht (Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Kinderschutzes im Familienverfahrensrecht). Grundlage des Gesetzesantrags ist der Abschlussbericht der von der Landesregierung Baden-Württemberg eingesetzten Kommission Kinderschutz im Zusammenhang mit dem „Staufener Missbrauchsfall“.

Der Entwurf zielt auf eine Verbesserung des Kinderschutzes, indem vor allem die §§ 160 bis 166 FamFG Modifizierungen zugeführt werden sollen. Im Wesentlichen sind folgende Änderungen vorgesehen:

  • Die nach § 158 Abs. 2 FamFG „in der Regel“ zu veranlassende Bestellung eines Verfahrensbeistands soll bei den dort genannten Fallkonstellationen nun immer erfolgen.
  • In § 159 Abs. 2 FamFG soll die Anhörung eines unter 14-jährigen Kindes nicht nur zur Ermittlung seiner Neigungen und Bindungen erfolgen, sondern auch, wenn Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB geführt werden, wobei sich das Gericht zudem einen persönlichen Eindruck von dem Kind und ggf. auch seiner üblichen Umgebung zu verschaffen hat, wenn dies als sachdienlich erachtet wird.
  • Nach einem neu einzuführenden § 160a FamFG soll das Gericht, soweit es nach den Umständen veranlasst ist, auch dritte Personen persönlich anhören.
  • In Modifizierung zu § 162 Abs. 1 FamFG, soll das Gericht in Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB mit dem Jugendamt die Umsetzung und Umsetzbarkeit geplanter Maßnahmen erörtern, wobei die Beteiligung des Jugendamts an diesen Verfahren auch die ausreichende und umfassende Information über entscheidungserhebliche Tatsachen umfassen soll.
  • Nach der für § 163 Abs. 3 FamFG vorgesehenen Modifizierung soll das Gericht auch die beratende und unterstützende Beiziehung eines Sachverständigen anordnen können und
  • nach der für § 166 Abs. 2 FamFG geplanten Änderung soll das Gericht in angemessenen Zeitabständen überprüfen, ob eine getroffene Anordnung umgesetzt wurde und die Maßnahme wirksam ist.

So sehr jede Maßnahme, die der Verbesserung des Kinderschutzes dient, ausdrücklich zu begrüßen ist, hinterlassen die in dem vorab dargestellten Gesetzesantrag vorgesehenen Änderungen nicht zwingend den Eindruck, dass die in der Realität bestehenden Problemfelder tatsächlich erkannt wurden.

Die Bestellung eines Verfahrensbeistands für ein Kind in einem Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB ist dem Grunde nach eine Selbstverständlichkeit, da in diesen Verfahren typischerweise ein elterliches Fehlverhalten zur Prüfung steht und damit ein zwangsläufiger Loyalitätskonflikt des Kindes. Es versteht sich nicht nur von selbst, dass es hierdurch zu einem Widerstreit des Interesses des Kindes zu dem seiner Eltern kommt, sondern auch, dass nur durch die Bestellung eines Verfahrensbeistands die Interessen des Kindes gewahrt werden können.

Nach § 159 Abs. 2 FamFG ist das unter 14-jährige Kind persönlich anzuhören, wenn seine Neigungen, Bindungen oder der Wille des Kindes für die Entscheidung von Bedeutung sind. Sowohl das BVerfG als auch der BGH – etwa in der Entscheidung vom 27.11.2019 (BGH v. 27.11.2019 – XII ZB 511/18, FamRB 2020, 59) – haben in ständiger Rechtsprechung betont, dass Neigungen, Bindungen und der Kindeswille gewichtige Gesichtspunkte des Kindeswohls sind, deren Ermittlung die Anhörung eines auch unter 14-jährigen Kindes erfordert. Wenn diese Vorgaben bereits für jedes streitige Sorgerechtsverfahren gelten, so muss dies erst Recht in einem Verfahren nach §§ 1666, 1666a BGB gelten, in dem in intensivster Form das Kindeswohl auf dem Prüfstand steht. Dass darüber hinaus die Anhörung eines Kindes zudem Ausdruck der Gewährung rechtlichen Gehörs ist, muss eigentlich nicht gesondert betont werden. Bei konsequenter Anwendung bereits bestehender gesetzlicher Vorgaben – selbstredend vor dem Hintergrund der Kenntnis einer flankierend existenten höchstrichterlichen Rechtsprechung – bedarf es daher keiner Modifikation des § 159 Abs. 2 FamFG.

Auch die Zielsetzung der geplanten Korrektur des § 166 Abs. 2 FamFG erschließt sich nicht wirklich. Bereits jetzt sieht das Gesetz als verfahrensrechtliches Pendant zu § 1696 Abs. 2 BGB eine gerichtliche Prüfung kindesschutzrechtlicher Maßnahmen in angemessenen Zeitabständen vor. Es bedarf daher auch in diesem Kontext keiner gesetzlichen Modifikation, sondern allein einer konsequenten Umsetzung bereits bestehender Regelungen.

Gerade aus den Erkenntnissen zum „Staufener Missbrauchsfall“ muss die nicht von der Hand zu weisende Reformnotwendigkeit allerdings schon zu einem deutlich früheren Zeitpunkt ansetzen. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass

  • in dem dem Staufener Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalt gegen den einschlägig vorbestraften und erst im Februar 2014 aus der Haft entlassenen Lebensgefährten der Mutter bereits im Frühjahr 2016 erneut wegen Kinderpornographie ermittelt und festgestellt wurde, dass er sich häufig in der Wohnung seiner Partnerin aufhielt, in der auch deren siebenjähriger Sohn lebte. Obgleich die Strafvollstreckungskammer seinen Antrag auf Wohnung bei der Lebensgefährtin im August 2016 zurückwies, wurde erst im Februar 2017 eine Wohnsitzüberprüfung durch die Polizei vorgenommen und auch erst einen Monat später das Jugendamt hierüber in Kenntnis gesetzt.
  • noch im Beschwerdeverfahren, d.h. im Sommer 2017 das Jugendamt keine Kenntnis über das gegen den Lebensgefährten bereits im Jahr 2016 geführte Ermittlungsverfahren besaß, aufgrund dessen auch Anklage gegen ihn erhoben worden war. Obgleich die Akten dem Oberlandesgericht bereits vor dem Anhörungstermin vorlagen, war dem Beschluss der Beschwerdeinstanz nicht zu entnehmen, dass diese Strafakten Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren und in irgendeiner Form in die Senatsentscheidung eingeflossen waren.

Der zwingende Reformbedarf setzt daher nicht erst im familiengerichtlichen Verfahren ein durch Korrektur von Vorschriften, die lediglich konsequent im Sinn einer bestehenden Rechtsprechung umgesetzt werden müssten. Bereits zu einem deutlich früheren Zeitpunkt bedarf es der verbesserten Zusammenarbeit der einzelnen Akteure, die dem Schutz von Kindern verpflichtet sind. Wünschenswert wäre eine bessere Vernetzung und Zusammenarbeit sowohl auf der Ebene zwischen Polizei und Jugendamt aber auch im Verhältnis zwischen Polizei und Jugendamt einerseits und dem Familiengericht andererseits. Aber auch länderübergreifend wäre eine verstärkte Kooperation wünschenswert. Zwar existieren in einzelnen Bundesländern besondere Verwaltungsvorschriften zur Überwachung rückfallgefährdeter Sexualstraftäter, doch wird in der Praxis Kritik an der Tatsache geübt, dass im Verhältnis der Bundesländer keine einheitliche Konzeption existiert.

Insoweit bringt vielleicht der am 9.10.2020 vom Bundesrat auf den Weg gebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Erleichterung der Datenübermittlung bei Kindeswohlgefährdungen (BR-Drucks. 476/20) schon etwas, dessen Ziel es ist, mögliche Ursachen für Übermittlungsdefizite zwischen Familiengerichten, Staatsanwaltschaften und Jugendämtern zu beseitigen.

Buchtipp: Spangenberg, Ein kleines Rechtsproblem bleibt ungelöst

Ernst Spangenberg lässt uns mal wieder in seine Gedankenwelt blicken. „Ein kleines Rechtsproblem bleibt ungelöst.“ Die Frage hat sich sicher jedem Juristen in seinem Leben schon mal gestellt, wenn er zu sich ehrlich ist. Ernst Spangenberg wäre nicht Ernst Spangenberg, wenn er das nicht erstens zugäbe, zweitens darüber nachdächte, drittens darüber schriebe und male (wie auf dem Titelbild des Buches zu sehen) sowie viertens doch eine ihm eigene Lösung gefunden hätte.

Daraus hat er ein wunderbares neues Büchlein gezaubert, das sich jedoch nicht auf die Titelfrage beschränkt, sondern unterhaltsam und doch ernsthaft noch weitere schöne Begebenheiten aus der Wunderwelt des Rechts serviert, ja, auch des Familienrechts. Dabei werden uns bekannte Begriffe wie „Unterhaltsbemessung“ oder „Eheliche Lebensverhältnisse“ fein säuberlich und mit einem Schuss Humor in ihre Einzelteile zerlegt, wenn auch der Rezensent, der selbst in den juristischen Gazetten immer gegen die „Wandelbaren ehelichen Lebensverhältnisse“ nach Scheitern einer Ehe angeschrieben hat (u.a. in FamRB 2011, 120), mit der Hoffnung des Autors auf Wiederkehr eben dieses Begriffs hadert. Wer es weniger aktuell und doch spannend liebt, findet auch Besprechungen zu Fällen, die bis ins Jahr 1876 zurückreichen und, wie es auch auf dem Buchrücken steht, uns zweimal auf den Friedhof führen, uns an Kirchen- und Kuhglocken ergötzen lassen oder auch beim Kauf von Weihnachtsbäumen Empfehlungen geben. Als Höhepunkt verspricht uns der Autor – und hält das natürlich auch – eine Einführung in die Brötchenrechtsprechung sowie die „überfällige Darstellung des Schnarchbackenrechts.“ Schon jetzt verstehen wir Spangenbergs Schlusswort im Vorwort: „Dass wir Juristen uns durch einige Besonderheiten/Absonderlichkeiten auszeichnen, dürfte schon jetzt deutlich geworden sein.“

Passend dazu ist auch das Einführungszitat von Ernst Spangenberg, das zugleich einer Tagebuchnotiz von seinem letzten Arbeitstag als Familienrichter am 30. August 2002 entspringt: „Juristerei ist die Kunst, Hintertürchen zu entdecken, und sich …“, nein, mehr wird davon an dieser Stelle nicht verraten.

Wessen Interesse jetzt noch nicht geweckt ist, diese Kurzprosa auf 147 Seiten zu lesen, die im Justus von Liebig Verlag, Gagernstraße 9, 64283 Darmstadt, ISBN 978-3-87390-443-9, www.liebig-verlag.de erschienen ist, dem ist leider nicht zu helfen.