Umgangskontakte um jeden Preis? (OLG Frankfurt v. 11.11.2020 – 3 UF 156/20 sowie OLG Frankfurt v. 24.11.2020 – 5 UF 110/20)

Neben den klassischen Fällen des Umgangsboykotts durch den betreuenden Elternteil haben in der Praxis auch jene Fallkonstellationen ihren Platz, in denen ausdrücklich eine weitere Einbringung eines Elternteils in die Betreuung eines gemeinsamen Kindes gewünscht wird, d.h. nicht nur weitergehende Umgangskontakte, sondern häufig die grundsätzliche Bereitschaft eines Elternteils zu Umgangskontakten familiengerichtlich umgesetzt werden muss. Mit entsprechenden Sachverhalten hat sich das OLG Frankfurt im November 2020 gleich in zwei Entscheidungen befassen müssen.

In der Entscheidung vom 11.11.2020 leitete die Kindesmutter ein gerichtliches Verfahren zur Umgangsregelung zwischen ihrem getrenntlebenden Ehemann und den gemeinsamen drei Söhnen ein. Während die Kinder sich ausdrücklich für einen Kontakt mit ihrem Vater aussprachen und anlässlich ihrer gerichtlichen Anhörung diesen Wunsch auch konsequent wiederholten, wurde der Kontakt seitens des Vaters mit der Begründung abgelehnt, dass er unter erheblichem beruflichen Druck stehe bzw. aus seiner neuen Beziehung ein weiteres Kind hervorgegangen sei, so dass er sich aus tatsächlichen Gründen zu einer Wahrnehmung der Umgangskontakte außer Stande sehe.

Orientiert an einer gefestigten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hat der Senat dann auch der Beschwerde des Vaters, mit der er sich gegen die familiengerichtliche Entscheidung zur Wehr setzte, durch die er zur Wahrnehmung von Umgangskontakten verpflichtet wurde, eine Absage erteilt. Der Senat hat insbesondere darauf verwiesen, dass die Umgangsverweigerung einen maßgeblichen für das Kind und seine Entwicklung entscheidenden Entzug elterlicher Verantwortung und zugleich die Vernachlässigung eines wesentlichen Teils der in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG statuierten Erziehungspflicht darstellt bzw. der mit der elterlichen Umgangspflicht verbundene Eingriff in deren Grundrecht auf Schutz der Persönlichkeit wegen der den Eltern durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantierten und auferlegten Verantwortung für ihr Kind und wegen des Rechtes des Kindes auf Pflege und Erziehung durch die Eltern gerechtfertigt ist.

Auch in dem der Entscheidung vom 24.11.2020 zugrundeliegenden Sachverhalt verweigerte der Vater die Umgangskontakte mit dem gemeinsamen knapp zweijährigen Kind. Allerdings war es in dem gerichtlichen Verfahren der Antragsteller, der Umgangskontakte dem Grunde nach einforderte, allerdings nur unter der von ihm vorgegebenen Bedingung eines zusammenhängenden Ferienumgangs an seinem Wohnort. Die von ihm eingelegte Beschwerde gegen die Ausgangsentscheidung, mit der zunächst regelmäßige Kontakte am Tag festgelegt wurden, blieb ohne Erfolg. Zur Begründung hat der Senat u.a. darauf verwiesen, dass ein Umgang mit Übernachtungen im Haushalt des Vaters derzeit nicht in Betracht kommen, da es einer entsprechenden Vorbereitung des Kindes bedürfe, nachdem über längere Zeit keine Kontakte durch den Vater wahrgenommen wurden und er seinen Wohnsitz auch an einen rund 400 km von der Wohnung der Mutter gelegenen Ort verlegt hatte. Der Senat hat letztlich festgestellt, dass es in diesem Fall keiner Umgangsregelung bedarf, so dass dem Vater freigestellt wurde, zunächst die Voraussetzungen zu schaffen, um der von ihm selbst verantworteten Entfremdung entgegenzuwirken.

Der Umgang des Kindes mit beiden Elternteilen gehört in der Regel zum Wohl des Kindes, wobei § 1684 Abs. 1 BGB den verfassungsunmittelbaren Anspruch des Kindes auf Umgang mit jedem seiner Elternteile konkretisiert. Bei der Verwirklichung des Umgangsrechts sind vorrangig die Interessen des Kindes zu berücksichtigen, wobei der nicht betreuende Elternteil eine Pflicht zum Umgang mit dem Kind hat, so dass auch auf ein Umgangsrecht nicht rechtswirksam verzichtet werden kann.

In der Grundsatzentscheidung vom 1.4.2008 hat das BVerfG hervorgehoben, dass gegenüber einem umgangsunwilligen Elternteil der Umgang mit dem Kind zwar grundsätzlich unter Inanspruchnahme von Ordnungsmittel umgesetzt werden könnte, ein derart erzwungener Umgang in der Regel wohl aber nicht dem Kindeswohl dienen würde (BVerfG v. 1.4.2008 – 1 BvR 1620/04, FamRB 2008, 174).

Ebenso wie in den Fällen des Umgangsboykotts durch den betreuenden Elternteil ist auch in den Fällen einer bestehenden Umgangsverweigerung zu hoffen, dass Elternteile sich auf die ihnen gegenüber ihren Kindern bestehende Verantwortung besinnen und unter Zurückstellung eigener Befindlichkeiten ihr Verhalten an den vorrangigen Belangen ihres Kindes ausrichten.

Corona und Umgangskontakte

In Coronazeiten sind paradoxe Situationen und Reaktionen häufig. Wir haben in Deutschland glücklicherweise keine praktische Erfahrung mit Ausgangssperren oder -beschränkungen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die jetzt verfügten Maßnahmen neben erheblichen verfassungsrechtlichen Diskussionen auch familienrechtliche Irritationen auslösen.

Sind noch Betreuungszeiten (Umgangskontakte) von dem Elternteil zulässig, der nicht Residenzelternteil ist?

Die Frage ist uneingeschränkt zu bejahen. Solange keine konkrete Gefahr für das Kind besteht, hat das Kind das Recht auf Betreuung durch beide Elternteile und die Eltern haben die Pflicht, das Kind auch nach der Trennung gemeinsam (nicht unbedingt zeitgleich) zu betreuen. Der in Art. 6 GG begründete grundrechtliche Schutz der Familie betrifft nicht nur die zusammenlebende, sondern auch die getrennte Familie. In deren innerstes Gefüge darf und kann der Staat nur dann eingreifen, wenn das Wohl des Kindes konkret gefährdet ist. Dies dient dem Schutz des Kindes.

Eine konkrete Gefährdung liegt aber nicht vor, wenn allgemein ‚Corona‘ umgeht. Der Infektionsgrad der bundesrepublikanischen Bevölkerung beträgt knapp 0,03%.[1] Die ergriffenen Maßnahmen der Landes- und Bundesregierung zur Vermeidung der Ausbreitung des Virus indizieren keinerlei konkrete Gefahr für das jeweilige Kind, sondern dienen der allgemeinen Gefahrenabwehr.

Eine Weigerung des Residenzelternteils auf Zulassung der Betreuung des gemeinsamen Kindes durch den anderen Elternteil, die auf die allgemeine Gefahr einer Ansteckung gestützt würde, verletzt dessen elterliches Grundrecht und die des Kindes. Im Übrigen ist ja auch nicht garantiert, dass eine Ansteckung des Kindes nicht auch beim und durch den Residenzelternteil erfolgt. Dies gilt auch dann, wenn der Elternteil, der nicht Residenzelternteil ist, zum Zweck der Realisierung seiner Betreuungsanteile mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreist.

Anders kann zu entscheiden sein, wenn die Voraussetzungen einer Quarantäne des Elternteils nach § 30 IfSG vorliegen. Dies wäre dann der Fall, wenn der Betreuungszeiten geltend machende Elternteil innerhalb der Inkubationszeit von 14 Tagen aus einem vom Robert-Koch-Institut als Risikogebiet[2] eingestuftem Gebiet eingereist ist oder sich dort aufgehalten hat. In diesem Fall kann eine konkrete Gefährdung des Kindes angenommen werden und eine Beschränkung von Betreuungszeiten durch den anderen Elternteil angezeigt sein.

Sind Umgangskontakte von Großeltern mit den Kindern zulässig?

Umgangskontakte von Kindern mit ‚Dritten‘, also von Bezugspersonen, die nicht die Eltern sind, sind leichter zu beschränken als die der Eltern. Nach der gesetzlichen Konzeption des § 1685 Abs. 1 BGB sind sie im Interesse des Kindeswohls zuzulassen. Ihre Beschränkung setzt damit keine Kindeswohlgefährdung voraus. Die Einstufung von Großeltern-Enkelkontakten durch das RKI als risikoreich würde daher m.E. eine Beschränkung und Aussetzung solcher Kontakte rechtfertigen. Dazu finden sich allerdings bislang keine Hinweise. Die angeblichen Warnungen werden vielmehr von kompetenter Seite als fehlerhaft bewertet.[3] Soweit erkennbar ist bislang von medizinisch kompetenter Seite ein generationsübergreifendes Kontaktgebot nie gefordert worden. Allenfalls dem Schutz der Großeltern vor einer Infektion könnte ein solches Distanzverbot dienen, nicht aber dem Schutz der Kindern. Bislang sind keine Bevölkerungsgruppen ausgemacht worden, die schneller oder leichter angesteckt werden, wohl aber solche, bei denen das Virus gravierendere Erkrankungsverläufe aufzeigt. Ein Distanzgebot kann daher m.E. von den Kinder betreuenden Elternteilen nicht ohne weiteres den Großeltern gegenüber ausgesprochen werden. Diese sind als mündige Erwachsene selbst für ihren Schutz zuständig.

Anders könnten Pflegeheim, in denen Großeltern leben, den Kontakt der Heimbewohner innerhalb des Heimes mit anderen Personen ausschließen oder begrenzen, wenn dadurch die Ansteckungsgefahr anderer Heimbewohner steigen würde. Diese Befugnis beschränkt sich aber auf den unmittelbaren Heimbereich. Weder kann ein Pflegeheim seinen Bewohnern den ‚Ausgang‘ noch aushäusige Kontakte zu den Enkeln verbieten.

Einsicht in Corona-Testergebnisse

Ist ein Elternteil auf den Corona-Virus getestet worden und verlangt der andere Elternteil Information über das Testergebnis, wird eine solche in der Regel gegeben werden. Erfolgt die Information nicht, löst dieses Verhalten des anderen Elternteils zwar wahrscheinlich Kopfschütteln, nicht aber einen konkreten Verdacht auf eine bestehende Corona-Infektion aus.

Weiß ein Elternteil allerdings um seine Infizierung und übernimmt gleichwohl, ohne den anderen Elternteil davon in Kenntnis zu setzen, die Betreuung des Kindes, kann dies als Kindeswohlgefährdung angesehen werden, schließlich käme bei einer Übertragung der Infektion auf das Kind auch eine Straftat in Betracht.[4]

Sind Auslands- und Urlaubsreisen mit Kindern zulässig?

Die Frage ist eher akademischer Natur, da inzwischen weltweite Reisebeschränkungen bestehen, die touristische Reisen komplett unmöglich machen. Da aber zu erwarten ist, dass die derzeitigen Beschränkungen nicht ewig bestehen bleiben, ist eine Beschränkung von Reisekontakten minderjähriger Kinder mit einem Elternteil nur dann möglich, wenn

  • eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für das betreffende Land oder Gebiet besteht, oder
  • das Zielgebiet als Infektionsrisikogebiet durch das Robert-Koch-Institut eingestuft wird,
  • die konkrete Gefahr besteht, dass dem anderen Elternteil das Kind entzogen werden soll und der die Reise begleitende Elternteil nicht mit dem Kind nach Deutschland zurückkehren wird,
  • die Aufrechterhaltung einer für das Kind notwendigen medizinischen Behandlung am beabsichtigten Aufenthaltsort des Kindes nicht gewährleistet ist.

Andere die Betreuung und Kontakte des Kindes mit einem Elternteil oder Bezugspersonen betreffende Beschränkungen sind nur unter dem allgemeinen Aspekt einer konkreten Gefährdung des Kindeswohls denkbar. ‚Ungute‘ Gefühle, allgemeine Ängste und Befürchtungen reichen nicht aus.

Will also ein iranischer Vater mit Arbeitsplatz und Vita in Deutschland mit seiner 5-jährigen Tochter einen 14-tägigen Urlaub in Marokko verleben, stellt die Vermutung, er werde den Aufenthalt in Marokko nutzen, um mit seiner Tochter in den Iran zu fliegen (der als Corona-Risikogebiet geführt wird), um die Tochter dort der Familie zu präsentieren und eventuell nicht mehr zurückzukehren, sicher nicht aus, eine Umgangsbeschränkung zu rechtfertigen.

Schlussbemerkung

Der derzeitige kollektive Erregungszustand wird hoffentlich bald nüchterner Gelassenheit weichen. Es ist zu hoffen, dass die individuellen Freiheitsrechte der Bürger nicht leichtfertig einem sich zwischen Presse und Exekutive des Bundes und der Länder aufschaukelndem Bekämpfungsradikalismus geopfert werden. Dies zu verhindern ist gerade die Anwaltschaft berufen. Wir sind nicht Sprachrohr oder sogar Verstärker irrationaler Hysteriker, sondern haben die Aufgabe, das Kindeswohl sinnvoll zu verteidigen.

Individuelle Gesundheit ist zwar ein hohes Gut und ein wichtiges Menschenrecht. Sie ist aber nicht alles. Für die grundrechtlich garantierten Freiheitsrechte, das Versammlungs-, das Demonstrations-, das Recht auf Bewegungsfreiheit im Bundesgebiet, sind unzählige Deutsche und später Millionen Russen, Amerikaner, Engländer, Franzosen, Polen, Kanadier, Australier und Angehörige vieler anderer Nationen gestorben. Es wäre fatal, wenn auch die Juristen das Gespür für die Balance des Schutzes der kollektiven und individuellen Bürgerrechte in Konkurrenz zum Schutz individueller Gesundheit verlören. Einmal gebrochene Deiche sind schwer zu reparieren.

[1] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html

[2] https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogebiete.html

[3] https://www.evangelisch.de/inhalte/167483/20-03-2020/corona-krise-kinderaerzte-praesident-warnt-vor-haeuslicher-gewalt

[4] Vgl. die gleiche Fragestellung bei HIV-Infektionen.

Umgangsverweigerung ist Körperverletzung – oder: Warum der Kuss so wichtig ist

Die Teilnahme an juristischen Kongressen und Veranstaltungen lehrt und bildet ja bekanntlich. Letzteres förderte auf der Herbsttagung der Arbeitsgemeinschaft Familienrecht im DAV vom 24. bis 26.11.2016 in Nürnberg Professor Dr. rer. nat., Dipl.-Ing. (Informatik/E-Technik) Peter Beyerlein, Professor und Leiter der Arbeitsgruppe Bioinformatik. Der Titel seines Vortrags „Neurobiologie und Kindeswohl – Viel mehr als Recht und Psychologie“ weckt in Juristinnen und Juristen voyeuristische Erwartungseuphorie, Einblick in eine fremde naturwissenschaftliche Welt zu bekommen, der schon begrifflich kaum beizukommen ist und deren Begriffe, kaum dass sie entbeamt werden, dem Gedächtnis entschwinden.

Gleichwohl habe ich Folgendes behalten: Der Informationsaustausch zwischen Eltern und ihren Kindern ist nicht auf den Austausch ihres genetischen Materials bei der Zeugung und die anschließende intellektuelle, kulturelle und sprachliche Korrespondenz beschränkt. Die Neurobiologie kann vielmehr heute erklären, dass jeder Kuss, jeder Handschlag und jeder Körperkontakt ein Informationsaustausch ungeahnten Ausmaßes verursacht, dessen Resultat nicht auf die Psyche allein beschränkt bleibt, sondern unmittelbar die genetisch kodierte Funktion der Zellen beeinflusst. So kann die Wissenschaft nachweisen, dass Fehler im menschlichen Genom durch solch postnatalen Kontakte larviert („verdeckt“) und funktional repariert werden können, weil die bei den Eltern bereits erfolgte verhaltenskontrollierte Reparatur des Defekts an das Kind weitergegeben wird, nicht durch ‚Vererbung‘ sondern durch den bei jedem Körperkontakt über das Mikrobiom vermittelten Datenaustausch. Das funktioniert neurobiologisch allerdings nur beim Kontakt zwischen Kindern und ihren leiblichen Eltern, weil nur die Eltern neben einem genetischen Defekt auch das erfolgreiche Larvierungsmuster erworben haben. Stief- und Pflegeeltern versagen dabei, weil ihnen der zu larvierende genetische Defekt fehlt. Deswegen kam der Referent zu dem Schluss, dass die Verweigerung von Umgangskontakten zwischen Kindern und ihren leiblichen Eltern Körperverletzung am Kind sei.

Nach dem Genom-Project, das das menschliche Genom entschlüsselt, hat die Forschung das Human Brain Project in Angriff genommen. Darin wird das menschliche Hirn kartographiert und nachgewiesen, dass wir derzeit nur einen winzigen Bruchteil unseres intellektuellen Potentials nutzen und an welcher Stelle des Hirns das zu lokalisieren ist. Jetzt entzaubert die Neurobiologie unsere Vorstellung vom eigenverantwortlich handelnden ‚Freien Menschen‘ und führt Aggressivität, Duldsamkeit, Liebe und Sexualität, Faulheit und Dummheit auf biochemische Prozesse zurück, die in Formeln und chemischen Reaktionsketten ausgedrückt werden können.

Ist das das Ende der Autonomie? Natürlich nicht. Sie zu ermöglichen und zu fördern, sollten wir Familienrechtler aber vielleicht nicht allzu forsch Umgangskontakte verweigern und damit den Kindern die Möglichkeit nehmen, genetisch kodierte Defizite zu reparieren. Biochemisch gesprochen scheinen Umgangskontakte zwischen Eltern und Kindern letzteren zu helfen, Herr ihrer Defizite zu werden und damit tatsächlich autonom zu entscheiden.