Die Haftung des Autofahrers bei einem Verkehrsunfall mit Fußgängerbeteiligung

Fußgänger und Autofahrer kommen sich im Straßenverkehr häufig in die Quere. Dabei geht von beiden Verkehrsteilnehmern ein sehr unterschiedliches Gefahrenpotenzial aus. Kommt es zum Verkehrsunfall, tritt – im Gegensatz zu anderen Unfalltypen – die Frage nach den Unfallursachen zurück. Vielmehr ist entscheidend, ob der Unfall für den Fahrzeugführer vermeidbar war. Die Judikatur ist kasuistisch und kaum mehr zu überschauen (siehe für einen Überblick: Dörr, MDR 2012, 503).

Unfälle „beim Überqueren der Fahrbahn“ und im „Längsverkehr“

Bei Unfällen mit Fußgängern ist zwischen den beiden großen Gruppen „Unfälle beim Überqueren der Fahrbahn“ und „Unfälle im Längsverkehr“ (Fußgänger auf Gehwegen oder am Fahrbahnrand) zu unterscheiden. Überquert ein Fußgänger die Fahrbahn außerhalb der dafür vorgesehenen Stellen (z. B. Fußgängerüberwege) und kommt es zum Unfall, hat der Fußgänger für seinen Schaden grundsätzlich allein einzustehen, wenn seinem groben Eigenverschulden nur die – nicht erhöhte – Betriebsgefahr des Kfz gegenübersteht (KG, Beschl. v. 18.9.2010 – 12 W 24/10 – juris). Bei „Unfällen im Längsverkehr“ ist es von großer Bedeutung, ob ein Gehweg vorhanden ist und ob der Fußgänger ihn benutzt hat. Läuft der Fußgänger trotz vorhandenen Gehwegs auf der Fahrbahn, trifft ihn i.d.R. eine Mitschuld. Fehlt ein Gehweg, ist die Nutzung der Fahrbahn durch den Fußgänger erlaubt. Der Kraftfahrer kann hier kein „Vorrecht“ in Anspruch nehmen.

Anhaltspunkte für Unfallhergang und Schadensbeiträge

Für die Frage, auf welche Weise sich ein Unfall zwischen Pkw und Fußgänger abgespielt hat, können die Art der Fahrzeugschäden (z. B. sog. Abwicklungslänge sowie Beulenversatz) wichtige Anhaltspunkte für die Kollisionsgeschwindigkeit des Kfz und Richtung sowie Geschwindigkeit des Fußgängers liefern. Die aus den Fahrzeugschäden und den sonstigen Unfallspuren gewonnenen Erkenntnisse haben einen hohen Beweiswert (OLG Hamm, OLGR Hamm 1999, 256). Für die Feststellung, ob und auf welche Weise der Kraftfahrer unfallverhütend hätte reagieren können, kommt es zunächst darauf an, welche Strecke der Fußgänger von der Stelle, an welcher ihn der Kraftfahrer erstmalig als Verkehrshindernis wahrnehmen konnte, bis zum späteren Unfallort zurückgelegt hat und mit welcher Geschwindigkeit er gelaufen ist. Daraus kann errechnet werden, welche Zeit der Fußgänger für diese Strecke benötigt hat. Diese Zeit ist wiederum in Relation zu der Ausgangsgeschwindigkeit des Kraftfahrzeugs zu setzen, woraus sich die Feststellung ergibt, welcher Zeitraum und welche Fahrstrecke dem Kraftfahrer für seine unfallabwendende Reaktion zur Verfügung standen (KG, Urt. v. 13.12.1993 – 12 U 2536/91 – juris).

Anforderungen an das Verhalten eines „Idealfahrers“

Hat sich der Kraftfahrer an alle Verkehrsregeln gehalten, aber dennoch nicht mögliche typische Fehler eines Fußgängers vorausgesehen, sich also nicht wie ein „Idealfahrer“ (BGH v. 23.9.1986 – VI ZR 136/85, MDR 1987, 132) verhalten, kann immer noch die Haftung aus der (dann nicht erhöhten) Betriebsgefahr des Fahrzeugs bleiben. Nach § 7 Abs. 2 StVG a. F. war eine Haftung nur bei Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses ausgeschlossen. Ein unabwendbares Ereignis ist insbesondere dann zu bejahen, wenn der Unfall auf das Verhalten des Verletzten zurückzuführen ist und sowohl der Halter als auch der Führer des Fahrzeugs jede nach den Umständen gebotene Sorgfalt beobachtet haben (BGH v. 21.02.1985 – III ZR 205/83, MDR 1986, 34). Nach der Rechtsprechung des BGH (BGH v. 23.4.2002 – VI ZR 180/01, MDR 2002, 942) kommt es bei der Frage der Vermeidbarkeit eines Zusammenstoßes mit einem Fußgänger, der die Fahrbahn überquert, nicht allein darauf an, ob das Fahrzeug vor der späteren Unfallstelle noch hätte zum Stehen kommen können („räumliche Vermeidbarkeit“). Ein Unfall kann in solchen Fällen auch dann verhindert werden, wenn Zeit bleibt, das Fahrzeug so weit abzubremsen, dass es den Punkt, an dem der Fußgänger die Fahrspur kreuzt, erst erreicht, nachdem dieser ihn schon wieder verlassen hat („zeitliche Vermeidbarkeit“). Der Möglichkeit der Vermeidbarkeit in diesem Sinne muss vor allem dann nachgegangen werden, wenn Sekundenbruchteile genügen könnten, um den Fußgänger aus der Gefahrenzone zu bringen. Dabei muss auch erörtert werden, ob und inwieweit eine rechtzeitige Ausweichlenkung zur Vermeidung des Zusammenstoßes hätte beitragen können.

Hier geht es also um die (richtige) Reaktion ab dem Zeitpunkt, in dem der Kraftfahrer erkennen kann, dass ein Fußgänger über die Straße gehen möchte. Es geht also um die Frage, wer anhält: ob der Fußgänger stehen bleibt oder ausweicht, wenn er das Fahrzeug sieht oder ob das Auto schon bremst, weil der Fahrer meint, der Fußgänger könnte trotzdem weitergehen. Als „Idealfahrer“ muss der Kraftfahrer „für den anderen mitdenken“.

Die bloße Tatsache, dass ein zu schnell fahrender Kraftfahrer wegen des Geschwindigkeitsverstoßes früher an die Unfallstelle gelangt ist, als dies bei Beachtung der Verkehrsregeln geschehen wäre, genügt nicht für die Annahme eines rechtlichen Ursachenzusammenhanges mit dem nachfolgenden Unfall. Ein zurechenbarer Zusammenhang kann vielmehr nur dann bejaht werden, wenn bei dem Unfall eine der Gefahren mitgewirkt hat, um derentwillen die Fahrgeschwindigkeit begrenzt war. Von Bedeutung ist somit nur, wie von der Erkennbarkeit der Gefahr an, der konkreten kritischen Verkehrslage, bei richtiger Fahrweise die Vorgänge, die zum Unfall geführt haben, abgelaufen wären (BGH v. 21.02.1985 – III ZR 205/83, MDR 1986, 34).

Geltendmachung eines Schmerzensgeldanspruchs durch den verunglückten Fußgänger

Wollte der verunglückte Fußgänger vor dem 1.8.2002 – auch –Schmerzensgeld bekommen, musste er nachweisen, dass den Fahrzeugführer am Unfall zumindest eine Teil-Schuld traf. Der Anspruch richtet sich nach § 253 BGB a.F. i.V.m. § 847 BGB a.F. Erst mit Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften kann nunmehr auch im Rahmen der Gefährdungshaftung ein Schmerzensgeldanspruch geltend gemacht werden. Hierzu erfolgten ausdrückliche klarstellende Regelungen u.a. in § 11 Satz 2 StVG und § 6 Satz 2 HaftPflG dahingehend, dass der Anspruchsberechtigte wegen eines Schadens, der kein Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung verlangen kann.

Nach der Richtgeschwindigkeit muss man sich nicht (immer) richten

Der Fahrer eines Seat befand sich auf der linken Fahrspur einer Autobahn und wollte gerade einen Dacia überholen, als dieser plötzlich und ohne zu blinken nach links zog. Der Fahrer des Seat konnte bei einem Tempo von 150 km/h nicht mehr rechtzeitig bremsen und fuhr auf den Dacia auf. Der Fahrer des Dacia verklagte den Halter des auffahrenden Pkw; er meinte, wer sich nicht an die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h halte, müsse jedenfalls anteilig für den Unfallschaden haften. Das OLG Hamm war anderer Meinung: Auch wenn der Auffahrende maßvoll die empfohlene Richtgeschwindigkeit überschreitet, verwirklicht sich die mit der Überschreitung der Richtgeschwindigkeit verbundene Gefahr des Ver- und Unterschätzens der Annäherungsgeschwindigkeit des rückwärtigen Verkehrs nicht, wenn der die Fahrstreifen wechselnde den rückwärtigen Verkehr gar nicht beachtet“ (Beschl. v. 8.2.2018 – 7 U 39/17).

So richtig überraschen mag diese Entscheidung nicht. Denn auch wenn die Autobahn-Richtgeschwindigkeit in einer Verordnung , nämlich der „Verordnung über eine allgemeine Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen und ähnlichen Straßen (Autobahn-Richtgeschwindigkeits-V)“ „geregelt“ ist, kann der Bestimmung schon vom Wortlaut her keine Verbindlichkeit zukommen. Sie stellt eine reine Empfehlung dar, die als solche auch nicht sanktioniert ist. Es handelt sich um nicht mehr als um einen psychologischen Appell. (AG Halle, Urt. v. 1.12.2011 – 98 C 1863/11, NZV 2013, 82.) Die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit begründet auch kein Verschulden (OLG Nürnberg, Urt. v. 9.9.2010 – 13 U 712/10, MDR 2011, 26). Die rechtlich einzuhaltende Geschwindigkeit ergibt sich allein aus den Regelungen des § 3 StVO. Rechtlich völlig bedeutungslos ist die Richtgeschwindigkeit jedoch nicht. Denn die Einhaltung der Richtgeschwindigkeit kann nach der Wertung und den Erkenntnissen des Verordnungsgebers unfallverhütend wirken; ihre (Nicht-)Einhaltung kann damit jedenfalls zivilrechtliche Folgen haben.

Einen Schnellfahrer zur (Mit-)Haftung heranzuziehen, ist durchaus auch die gerichtliche Praxis. So nimmt das OLG Oldenburg (Urt. v. 21.3.2012 – 3 U 69/11) eine deutliche Überschreitung bei 200 km/h, das AG Halle schon bei 180 km/h an (Urt. v. 1.12.2011 – 98 C 1863/11, NZV 2013, 82) und das OLG Hamm (Urt. v. 25.11.2010 – 6 U/10, I-6 U 71/10 – NZV 2011, 248), „wenn sich die erhöhte Geschwindigkeit nachweislich betriebsgefahrerhöhend ausgewirkt hat“ an. Bei der Abwägung gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG sei zwar auf beiden Seiten lediglich die Betriebsgefahr zu berücksichtigen. Diese sei aber hier ungleich hoch. Erhöht sei die Betriebsgefahr, wenn die Gefahren, die regelmäßig und notwendigerweise mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs verbunden sind, durch das Hinzutreten besonderer Umstände unfallursächlich vergrößert werden. Das sei hinsichtlich eines schnell fahrenden Fahrzeugs der Fall, wenn die Richtgeschwindigkeit in ganz erheblichem Maße überschritten worden sei und positiv feststehe, dass der Unfall bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit vermieden worden wäre. Auch 160 km/h (OLG Hamm, Urt. v. 25.11.2010 – 6 U/10, I-6 U 71/10) genügen hier schon. Eine „deutliche Überschreitung“ der Richtgeschwindigkeit liegt aber auch nach dem OLG München (Urt. v. 2.2.2007 – 10 U 4976/06) noch nicht bei einem Tempo von 150 km/h vor.

Die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit begründet in aller Regel keinen Verschuldensvorwurf, sondern erhöht allenfalls die in die Abwägung einzustellende Betriebsgefahr (OLG Schleswig, Teilurt. v. 30.7.2009 – 7 U 12/09). Derjenige, der die Richtgeschwindigkeit überschreitet, kann sich nicht auf die Unabwendbarkeit des Unfalls berufen: Dazu müsste er die Richtgeschwindigkeit einhalten. (Seine) Betriebsgefahr ist aber auch nur dann erhöht, wenn er die Richtgeschwindigkeit maßgeblich überschritten hat. Das ist bei 180 bis 200 km/h der Fall, bei 150 km/h aber noch nicht.