Fiktive Schadensberechnung im (Gewerberaum-)Mietrecht

Nach dem Urteil des BGH vom 31.03.2021 (XII ZR 42/20) können Ansprüche des Vermieters auf Schadensersatz statt der Leistung im (Gewerberaum-)Mietrecht nach wie vor ohne Weiteres auch fiktiv abgerechnet werden. Die baurechtliche Rechtsprechung des VII. Zivilsenats des BGH, wonach eine fiktive Schadensbemessung von Mängelbeseitigungskosten außer Betracht bleibt, findet im (Gewerberaum-)Mietrecht keine Anwendung.

I.      Ausgangslage

Seit der Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung des VII. Zivilsenats des BGH zum Baurecht in der Entscheidung vom 22.02.2018[1], wonach ein (Werk-)Besteller bei Vorliegen eines Mangels nicht mehr fiktiv den Schaden in Höhe der Mangelbeseitigungskosten abrechnen konnte, wurde diskutiert, ob diese werkvertragliche Rechtsprechung auch auf das Kaufrecht und das (Gewerberaum-)Mietrecht übertragen werden kann. Für das (Wohnraum-)Mietrecht hat das Amtsgericht Hamburg-Blankenese in seinem Urteil vom 12.06.2019[2] diese Frage konkret aufgeworfen und ausgeführt:

„Wenn man neueren Tendenzen in der Rechtsprechung folgt, dann dürfte die Vermieterin selbst bei Vorliegen eines Mangels gar nicht fiktiv ihren Schaden in Höhe der Mängelbeseitigungskosten abrechnen“.

Im Ergebnis hat das Amtsgericht Hamburg-Blankenese die Beantwortung dieser Frage dann allerdings offengelassen. Im Schrifttum wurde diese Frage ebenfalls eingehend diskutiert, und überwiegend wurde vertreten, dass eine Übertragbarkeit der werkvertraglichen Rechtsprechung des BGH auf das Mietrecht nicht in Betracht kommt.[3] Zwischenzeitlich hat der BGH eine Übertragbarkeit der werkvertraglichen Rechtsprechung auf das Kaufrecht abgelehnt.[4] Nunmehr hat der BGH dies auch ausdrücklich für das (Gewerberaum-)Mietrecht[5] klargestellt, und das zu Recht:

II.     Unterschiede zwischen dem Werkvertragsrecht und dem (Gewerberaum-) Mietrecht

Für das Werkvertragsrecht begründet der BGH seine Auffassung damit, dass die Abrechnung fiktiver Mängelbeseitigungskosten häufig zu einer Überkompensation und damit einer nach allgemeinen schadensrechtlichen Grundsätzen nicht gerechtfertigten Bereicherung führt. Denn der fiktiver Aufwand einer Mängelbeseitigung hängt von verschiedenen Umständen ab, z.B. dem Weg der Mängelbeseitigung, der Einbeziehung anderer Gewerke in die Mängelbeseitigung etc. und kann die vereinbarte Vergütung, mit der die Parteien das mangelfreie Werk bewertet haben, deutlich übersteigen. Mit demselben Argument wurde vom BGH früher die Erstattungsfähigkeit von Umsatzsteuer bei fiktiver Abrechnung verneint. Diese Grundsätze lassen sich nicht auf das (Gewerberaum-)Mietrecht übertragen.

1.     Kein werkvertraglicher Vorschussanspruch (§ 637 Abs. 3 BGB) im Mietrecht

Wörtlich führt der BGH insoweit in seiner Entscheidung vom 31.03.2021 – XII ZR 42/20) Folgendes aus:

„Soweit der VII. Zivilsenat in einer Bausache entschieden hat, dass eine fiktive Schadensbemessung von Mängelbeseitigungskosten außer Betracht bleibt (BGHZ 218, 1 = NJW 2018, 1463; vgl. auch BGH, Beschl. v. 18.02.2020 – VII ARZ 1/20, NJW 2021, 53), beruht das auf Besonderheiten des Werkvertragsrechts, insbesondere dem Vorschussanspruch nach § 637 Abs. 3 BGB, die bei den Ersatzansprüchen des Vermieters wegen Veränderungen oder Verschlechterungen der Mietsache keine Parallele finden (vgl. auch BGH, Urt. v. 12.03.2021 – V ZR 33/19).“

2.     Weitere Unterschiede

Neben dem werkvertraglichen Vorschussanspruch (§ 637 Abs. 3 BGB) bestehen weitere Besonderheiten gegenüber dem Mietrecht im Werkvertragsrecht. Dort werden regelmäßig Beschaffenheitsvereinbarungen getroffen, Mängel können Auswirkungen auf bestellereigene Sachen haben, und erhöhte Kosten der Mängelbeseitigung können das Verhältnis zur vereinbarten Vergütung tangieren, so dass dem Werkvertragsrecht tatsächlich die Gefahr einer Überkompensation innewohnt.

3.     Einzelfälle: Beschädigung der Mietsache durch Mieter/unterlassene Schönheitsreparaturen und Rückbau

Diese Aspekte gelten im Mietrecht nicht. Im Mietrecht kommt der Frage nach der Übertragbarkeit der werkvertraglichen Rechtsprechung vorrangig Bedeutung hinsichtlich der Beschädigung der Mietsache durch den Mieter, dem Unterlassen geschuldeter Schönheitsreparaturen und Rückbauten zu. Für sämtliche Fälle kommt – wie der BGH zu Recht konstatiert – eine Übertragbarkeit der Rechtsprechung nicht in Betracht.

Führt der Mieter rechtswidrige Beschädigungen der Mietsache herbei, handelt es sich um vertragliche respektive deliktische Ansprüche, die von § 280 Abs. 1 BGB erfasst werden und auf die schon mangels Anwendung des § 281 Abs. 1 BGB die Übertragbarkeit der werkvertraglichen Rechtsprechung des BGH ausschließt.[6]

Im Falle eines Anspruchs des Vermieters auf Rückbau liegt keine den Rückbau betreffende besondere Beschaffenheitsvereinbarung vor, noch besteht ein Konflikt mit einem Missverhältnis zwischen den Rückbaukosten und den Vorstellungen der Parteien hinsichtlich deren Werts. Denn der Rückbaupflicht steht keine Gegenleistung des Vermieters gegenüber, weil der Umbau nicht vom Mietvertrag gedeckt ist und somit nur bei Vorliegen einer Genehmigung erfolgen darf. Der Umbau dient allein dem Mieter, der bei Mietende die Mietsache so zurückgeben muss, wie er sie erhalten hat. Gleiches gilt bei der Pflicht des Mieters zur Vornahme von Schönheitsreparaturen.[7]

III.    Fazit

Die Rechtsprechung des BGH, wonach in der (Gewerberaum-)Miete nach wie vor Schadensersatzansprüche des Vermieters aufgrund von fiktiven Mängelbeseitigungskosten geltend gemacht werden können, ist somit (dogmatisch) zutreffend und bietet der Praxis erfreuliche Klarheit und Rechtssicherheit.

 

[1]     BGH, Urt. v. 22.02.2018 – VII ZR 46/17, NJW 2018, 1463 = ZMR 2019, 463; vgl. auch BGH, Beschl. v. 08.10.2020 – VII ARZ 1/20, NJW 2021, 53 = MDR 2021, 90.

[2]    AG Hamburg-Blankenese, Urt. v. 12.06.2019 – 131 C 60/17.

[3]    Eingehend: H. Schmidt, in: Beck-Online.GROSSKOMMENTAR, Stand: 01.07.2021, § 546, Rn. 155 und Riehm, NZM 2019, 273. Für nicht vorgenommene Schönheitsreparaturen bejaht Lehmann-Richter, NZM 2018, 315 eine Übertragbarkeit der Rechtsprechung.

[4]    BGH, Urt. v. 12.03.2021 – V ZR 33/19, NZBau 2021, 320 = NZM 2021, 583.

[5]    BGH, Urt. v. 31.03.2021 – XII ZR 42/20, NJW-RR 2021, 803 = MietRB 2021, 201 (Lehmann-Richter).

[6]     Vgl. auch H. Schmidt, in: Beck-Online.GROSSKOMMENTAR, Stand: 01.07.2021, § 546 BGB, Rn. 155; a.A. mit weniger überzeugender Begründung: LG Darmstadt, Urt. v. 25.10.2018 – 23 O 356/17, BeckRS 2018, 34836 = MDR 2019, 95.

[7]     H. Schmidt, in: Beck-Online.GROSSKOMMENTAR, Stand: 01.07.2021, § 546, Rn. 155.

Gesetzesänderung: Coronabedingte Einschränkungen von Mieträumen als Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB)

Am 18.12.2020 hat der Bundestag der geplanten Gesetzesänderung zu § 313 BGB und dem damit verbundenen Eingriff in das Gewerberaummiet- und Pachtrecht zugestimmt. Bei staatlich angeordneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie wird nunmehr gesetzlich (widerlegbar) vermutet, dass die Geschäftsgrundlage des Miet-/Pachtvertrages massiv beeinträchtigt ist. Die Rechtsfolgenseite des § 313 BGB soll hingegen unberührt bleiben in der Konsequenz, dass eine Vertragsanpassung nur in angemessenem Umfang begehrt werden kann. Die Änderung von § 313 BGB wird flankiert mit der Statuierung eines Vorrang- und Beschleunigungsgebots in der Zivilprozessordnung. So sollen Streitigkeiten um Vertragsanpassungen schnell gerichtlich geklärt werden. Diese stark umstrittenen Gesetzesänderungen sind Gegenstand dieses Beitrags.

I. Ausgangslage: Covid-19-Abmilderungsgesetz und uneinheitliche Rechtsprechung

Das am 25.03.2020 in Kraft getretene Gesetz zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie im Zivilprozess, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (BGBl. 2020, I, Nr. 14, S. 569, 572 zu Art. 240 EGBGB) regelt nicht (ausdrücklich) den Fall, ob etwaige Einwendungen des Mieters gegen die Mietzahlungspflicht (Mangel, vorübergehende Unmöglichkeit oder eine Störung der Geschäftsgrundlage) ausgeschlossen sind. Diese Frage ist nach der derzeitigen Rechtsprechung sehr streitig (Mietzahlungsansprüche bejahend: LG Frankfurt/M v. 07.08.2020 – 2-05 O 160/20, GE 2020, 1252; LG Heidelberg v. 30.07.2020 – 5 O 66/20, MietRB 2020, 301 (Mettler); LG Zweibrücken v. 11.09.2020 – HK O 17/20, BB 2020, 2450; LG Oldenburg v. 26.10.2020 – 8 O 1268/20, MietRB 2020, 361 (Burbulla). Mietzahlungsan-sprüche verneinend: LG München I v. 05.10.2020 – 34 O 6013/20, MietRB 2021, 8 (Burbulla); LG München I v. 22.09.2020 – 3 O 4495/20, MietRB 2021, 13 (Hoffmann); LG Mönchengladbach v. 05.11.2020 – 12 O 154/20, BeckRS 2020, 30731). Diese Unsicherheiten hat der Gesetzgeber aufgegriffen und hält deshalb eine Regelung für erforderlich, die klarstellt, dass § 313 BGB (Störung der Geschäftsgrundlage) grundsätzlich bei angeordneten öffentlich-rechtlichen Beschränkungen zur Bekämpfung der Folgen der Covid-19-Pandemie Anwendung findet, um „damit an die Verhandlungsbereitschaft der Vertragsparteien zu appellieren“ (BT-Drucks. 19/25322, S. 14 f.) Allgemeine und mietrechtliche Gewährleistungs- und Gestal-tungsrechte sollen – nach wie vor – vorrangig gegenüber § 313 BGB sein, und für Fälle, in denen eine gerichtliche Entscheidung erforderlich ist, wird eine begleitende verfahrensrechtliche Regelung zur Beschleunigung der gerichtlichen Verfahren getroffen, damit schneller Rechtssicherheit erreicht werden kann (BT-Drucks. 19/25322, S. 15 f.).

II. Neuregelungen in Art. 240 § 7 EGBGB

Diese Neuregelungen sollen durch eine Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch erreicht werden.

1. Statuierung einer tatsächlichen Vermutung in Art. 240 § 7 EGBGB

So soll Art. 240 § 7 EGBGB zum einen klarstellen, dass die Regelungen zur Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) in der besonderen Situation der Covid-19-Pandemie grundsätzlich anwendbar sind; zum anderen wird unter bestimmten Voraussetzungen eine tatsächliche Vermutung dafür geschaffen, dass sich bei staatlich angeordneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie ein Umstand im Sinne von § 313 Abs. 1 BGB, der zur Grundlage des Miet- oder Pachtvertrags geworden ist, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert hat (BT-Drucks. 19/25322, S. 19 f.).

2. Erhebliche Einschränkungen und Aufhebung der Verwendbarkeit der Miet-/Pachträume

Nach Auffassung des Gesetzgebers muss die Verwendbarkeit der Miet-/Pachträume aufgehoben oder jedenfalls erheblich eingeschränkt sein, wobei ausdrücklich als typisches Beispiel die vollständige Aufhebung infolge einer Schließungsverfügung genannt ist (BT-Drucks. 19/25322, S. 20 f.). Die Vermutung ist widerleglich, z.B. in Fällen, in denen der Mietvertrag zu einem Zeitpunkt geschlossen wurde, in dem eine pandemieartige Ausbreitung des Coronavi-rus SARS-Covid 2 in der breiten Öffentlichkeit bereits absehbar war. Dann ist regelmäßig davon auszugehen, dass ein solcher Mietvertrag in Kenntnis einer möglicherweise bevorstehenden tiefgreifenden Veränderung des Wirtschaftslebens geschlossen wurde.

3. Normatives Merkmal der Risikoverteilung

Das sog. normative Merkmal von § 313 Abs. 1 BGB, dass also dem einen Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann, wird – ausweislich der Gesetzesbegründung – von der Vermutungsregelung nicht erfasst. Allerdings sei davon auszugehen, dass ohne entsprechende vertragliche Regelungen Belastungen infolge staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie regelmäßig Fehler der Sphäre des Mieters noch des Vermieters zuzuordnen sind. Weiter heißt es in der Gesetzesbegründung:

„Im Rahmen der Zumutbarkeit wird hier von Bedeutung sein, wie stark sich die staatlichen Beschränkungen auf den Betrieb des Mieters auswirken. Ein Indiz für eine starke Beeinträchtigung kann in erheblich zurückgegangenen Umsätzen z. B. im Vergleich zum Vorjahreszeitraum liegen. Zu berücksichtigen sein wird auch, ob der Mieter öffentliche oder Zuschüsse erhalten hat, mit denen er die Umsatzausfälle infolge staatlicher Beschränkungen jedenfalls teilweise kompensieren kann, und ob er Aufwendungen erspart hat, weil er etwa Kurzarbeit angemeldet hat oder der Wareneinkauf weggefallen ist. Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls. § 313 BGB gewährt keine Überkompensation.“

III. Zivilprozessuales Vorrang-Beschleunigungsgebot

Parallel mit den materiell-rechtlichen Änderungen (§ 313 BGB) ist eine Änderung der Zivilprozessordnung mit der Einführung eines Vorrang- und Beschleunigungsgebots verbunden. So wird mit Art. 1 betreffend das Gesetz zur Änderung der Zivilprozessordnung für Verfahren über die Anpassung der Miete oder Pacht wegen staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie im Interesse der Gewerbetreibenden ein Vorrang- und Beschleunigungsgebot statuiert. Dieses Gebot gilt nicht nur für Verfahren, in denen der Mieter eine Anpassung der Miete nach § 313 BGB einklagt, sondern findet auch Anwendung, wenn der Mieter die Anpassung der Miete als Einrede gegen die Zahlungsklage des Vermieters erhebt oder andere Anspruchsgrundlagen, wie etwa die Mietänderung für die Anpassung der Miete im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie herangezogen werden. Auf diese Weise soll erreicht werden, dass Streitigkeiten um Mietanpassungen vor Gericht schnell geklärt werden. So beinhaltet das Gebot insbesondere eine vorrangige Terminierung und enge Fristsetzung (BT-Drucks. 19/25322, S. 15.).

IV. Kritik und Bewertung

Die gesetzlichen Neuregelungen sind stark umstritten und wurden vor allem von Immobilienverbänden stark kritisiert. Das Hauptargument ist, dass sich an der bisherigen rechtlichen Praxis im Ergebnis wenig ändern wird, umgekehrt allerdings mit einer stärkeren Einbeziehung der Gerichte zu rechnen ist (Burbulla in: ESV-Interview vom 16.12.2020 unter https://esv.info/aktuell/dr-rainer-burbulla-auch-der-derzeit-geltende-313-bgb-ermoeglicht-durchaus-sachgerechte-loesungen/id/111755/meldung.html).

1. Nach wie vor: Einzelfallprüfung

Die Kritik ist berechtigt. Denn durch die „kosmetische Rechtsänderung“ (BFW-Präsident Andreas Ibel) steht in der Tat zu befürchten, dass nicht wenige (Einzelhandels-)Mieter in ihrer allgemeinen Rechtsauffassung bestärkt und vermehrt Vertragsanpassungen gerichtlich durchsetzen werden (Burbulla in: ESV-Interview vom 16.12.2020 unter https://esv.info/aktuell/dr-rainer-burbulla-auch-der-derzeit-geltende-313-bgb-ermoeglicht-durchaus-sachgerechte-loesungen/id/111755/meldung.html). Da sich auch nach den Neuregelungen jedoch auf der Rechtsfolgenseite her nicht viel ändert – und dies ausdrücklich auch nach den Vorgaben in der Gesetzesbegründung – bleibt es bei der erforderlichen Einzelfallprüfung, bei der auch Umsatzzuwächse von Mietern infolge des Online-Handels, staatlichen Überbrückungshilfen, Rücklagen etc. zu berücksichtigen sind.

2. Bewertung des normativen Merkmals der Risikoverteilung

Interessant wird in diesem Zusammenhang nunmehr die Frage sein, wie die gesetzliche und vertragliche Risikoverteilung von den Gerichten bewertet wird, die für die Zumutbarkeit für das Festhalten am unveränderten Vertrag entscheidend ist. Zwar soll dieses sog. normative Merkmal des § 313 Abs. 1 BGB von der Vermutungsregelung nicht erfasst werden (BT-Drucks. 19/25322, S. 21 und vorstehend unter II. 3.), allerdings soll nunmehr davon auszugehen sein, dass ohne entsprechende vertragliche Regelungen Belastungen infolge staatlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie regelmäßig weder der Sphäre des Mieters noch des Vermieters zuzuordnen sind. Im Ergebnis geht der Gesetzgeber damit – entgegen der bisherigen Rechtsprechung – von einer „neutralen vertraglichen Risikoverteilung“ aus. Wenngleich der erklärte Wille des Gesetzgebers nicht bindend ist, so könnte dieser Umstand für eine teleologische Auslegung dahingehend sprechen, dass die vertragliche Risikoverteilung zumindest bei der Bewertung der Zumutbarkeit nicht überwiegt oder gar zurücktritt. Anknüpfungspunkt für eine solche Auslegung besteht im Gesetzestext darin, dass „schwerwiegende“ Folgen vermutet werden.

V. Fazit

Die gesetzlichen Neuregelungen mögen „gut gemeint“ sein. Zwingend erforderlich sind sie nicht, da auch auf der Grundlage des bisherigen § 313 Abs. 1 BGB zielführende Ergebnisse zu erreichen waren und diesen und diese auch von den Gerichten erreicht wurden (Burbulla in: ESV-Interview vom 16.12.2020 unter https://esv.info/aktuell/dr-rainer-burbulla-auch-der-derzeit-geltende-313-bgb-ermoeglicht-durchaus-sachgerechte-loesungen/id/111755/meldung.html). Es bleibt abzuwarten, ob die Gerichte bei der bisherigen restriktiven Linie verbleiben oder aber die Intention des Gesetzgebers stärker berücksichtigen und eher Mietanpassungen (im Einzelfall) annehmen. Entscheidend wird hierbei sein, wie die Gerichte nunmehr das normative Tatbestandsmerkmal der gesetzlichen und vertraglichen Risikoverteilung bewerten.

Gewerberaummiete: Mietzahlungspflichten in Corona-Zeiten – Erste Gerichtsentscheidungen und gerichtliche Tendenzen

Während der corona-bedingten behördlichen Schließungsanordnungen von Einzelhandelsgeschäften in den Monaten März bis April 2020 haben viele Einzelhandelsmieter ihre Mietzahlungen eingestellt und die Zahlungen (teilweise) erst wieder mit den Ladenöffnungen aufgenommen. Für die betroffenen Monate sind vielfach Einigungen zwischen Vermietern und Mietern zustande gekommen, die von (teilweisen) Mietreduzierungen, Vereinbarungen von reinen Umsatzmieten bis hin zu Stundungsvereinbarungen reichen. Nicht selten haben Vermieter aber auch den Klageweg beschritten und die Zahlungsrückstände gerichtlich geltend gemacht. Nunmehr liegen mit dem Urteil des Landgerichts Zweibrücken (Az.: HK O 18/20) und des Landgerichts Heidelberg (Az.: 5 O 66/20) erste gerichtliche Entscheidungen vor und es zeichnet sich – auch in anderen Klageverfahren – in der (erstinstanzlichen) Rechtsprechung folgende Tendenz ab:

 I. Kein Mangel des Mietgegenstandes (§ 536 Abs. 1 BGB) wegen der Corona-bedingten Geschäftsschließungen

Minderungsrechte des Mieters (§ 536 Abs. 1 BGB) wegen der Corona-bedingten Geschäftsschließungen wurden bislang in der Rechtsprechung durchweg verneint. Denn die Geschäftsschließungen, die auf den behördlichen Beschränkungen und gesetzgeberischen Maßnahmen beruhten, stehen nicht unmittelbar mit der konkreten Beschaffenheit, dem Zustand und der Lage des Mietobjekts im Zusammenhang. Wörtlich heißt es insoweit im Urteil des Landgerichts Heidelberg vom 30.07.2020 (Az.: 5 O 66/20):

„Die hoheitlichen Maßnahmen dienen im vorliegenden Fall dem Schutz der Bevölkerung vor allgemeinen gesundheitlichen Gefahren. Sie knüpfen nicht unmittelbar an die konkrete Beschaffenheit der Mietsache an, sondern allein an den Betrieb des jeweiligen Mieters. Die Maßnahmen stellen dabei nicht auf die konkreten baulichen Gegebenheiten ab, sondern allgemein auf die Nutzungsart sowie den Umstand, dass in den betroffenen Flächen Publikumsverkehr stattfindet und dies Infektionen begünstigt. Daran ändert auch nichts, dass die streitgegenständlichen Gewerberäume im vorliegenden Fall zur Nutzung als Verkaufs- und Lagerräume eines Einzelhandelsgeschäfts mit sämtlichen Waren des täglichen Ge- und Verbrauchs vermietet wurden und sich aus der Kurzbaubeschreibung ergibt, dass es sich um ein kik-Ladenlokal handeln sollte. Denn die Mietsache ist zu diesem Zweck weiterhin in gleicher Weise geeignet, wie vor dem hoheitlichen Einschreiten. Untersagt ist lediglich dessen Betrieb und zwar losgelöst von Fragen der Beschaffenheit oder Lage der Mietsache. Dieser Umstand fällt jedoch in den Risikobereich des Mieters.“

II. Kein Entfallen der Mietzahlungspflicht wegen Unmöglichkeit (§ 326 Abs. 1 BGB)

Auch ein Entfallen der Mietzahlungspflicht wegen Unmöglichkeit (§ 326 Abs. 1 BGB) wird mit dem Argument verneint, dass der Vermieter seiner Leistungspflicht (Zurverfügungstellung der Mieträume) auch dann nachgekommen ist, wenn der Mieter die Räumlichkeiten faktisch wegen der behördlichen Schließungsanordnungen nicht als Verkaufsflächen nutzen konnte. Hierzu äußert sich das Landgericht Heidelberg wie folgt:

„Der Vermieter muss dem Mieter nur eine Gebrauchsmöglichkeit verschaffen. Immer wenn der Mieter die Sache nicht gebrauchen kann, weil sie selbst nicht nutzungstauglich ist, geht der Vermieter nach § 326 Abs. 2 oder § 536 BGB seines Anspruchs auf die Miete verlustig. Betrifft die Störung dagegen die Nutzungstätigkeit des Mieters, bleibt dieser zur Mietzahlung verpflichtet. Dies gilt nicht nur, wenn ihn der Umstand ganz individuell an der Nutzung der Sache hindert, sondern auch, wenn ein beliebiger anderer Mieter von der Sache nicht den vertragsgemäßen Gebrauch machen könnte. Dies lässt die Verpflichtung zur Mietzahlung nicht entfallen, solange es nicht an der Sache selbst liegt, dass sie nicht bestimmungsgemäß verwendet werden kann.“

 III. Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB)

 Verbleiben dem Mieter daher allein mögliche Vertragsanspruchssprüche wegen Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB).

1. Allgemeines/Voraussetzungen

Gemäß § 313 Abs. 1 BGB kann eine Vertragsanpassung verlangt werden, wenn sich die Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben und die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten und einem (Vertrags-)Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann. Kommt eine Anpassung des Vertrags nicht in Betracht oder ist sie einem Teil nicht zumutbar, so kann bei Dauerschuldverhältnissen der benachteiligte Teil den Vertrag kündigen (§ 313 Abs. 3 Satz 2 BGB).

2. Schwerwiegende Störung

Gebrauchshindernisse, die nicht aus der Sphäre des Mieters stammen, können die Geschäftsgrundlage des Mietvertrages schwerwiegend stören (Gerlach/Manzke, ZMR 2020, 551, 555; Jauernig/Teichmann, BGB, 17. Aufl. 2018, § 537, Rn. 2). Anerkannt ist das beispielsweise dann, wenn Eingriffe „von hoher Hand“, insbesondere Änderungen der Rechtslage, die Zwecke hinfällig werden lassen, die eine Partei mit dem Vertrag verfolgt (vgl. Palandt/Grüneberg, BGB, 79. Aufl. 2020, § 313 Rz. 34). Die Geschäftsgrundlage ergibt sich regelmäßig aus dem vereinbarten Mietzweck. Aus diesem ergibt sich, dass der Mieter die angemieteten Räume für den angegebenen Geschäftsbetrieb nutzen will. Letzteres ist ihm aber durch die behördlichen Schließungsanordnungen nicht möglich gewesen. Auch hierzu hat sich das Landgericht Heidelberg ausdrücklich geäußert und ist folgender Auffassung:

„Zwar ist nicht im Hinblick auf die Nutzbarkeit der Mietsache von der Geschäftsgrundlage auszugehen, da diese maßgeblicher Vertragsinhalt ist, sondern vielmehr die Vorstellung der Parteien, dass keine zumindest bundesweit – tatsächlich aber weltweite – Pandemie auftritt, aufgrund derer flächendeckend Gewerbebetriebe geschlossen werden müssen. Diese ist auch schwerwiegend gestört, da die Nutzbarkeit der Mietsache – jedenfalls vorübergehend – vollständig entfallen ist. Es handelt sich damit um eine zu berücksichtigende Zweckstörung, die eine Fallgruppe des § 313 BGB darstellt. Die Leistung des Vermieters ist für den Mieter aufgrund der Unmöglichkeit, das Gewerbe in dem hierfür angemieteten Objekt betreiben, sinnlos geworden.“

3. Zumutbarkeit unter Berücksichtigung der vertraglichen Risikoverteilung

Weitere Voraussetzung für eine Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage ist aber, dass die Störung der Geschäftsgrundlage durch das Betriebsverbot das Festhalten am unveränderten Vertrag unter Berücksichtigung der vertraglichen Risikoverteilung (für den Mieter) unzumutbar macht.

 

a) Vereinbarung einer Umsatzmiete (Landgericht Heidelberg, Az.: 5 O 66/12)

Mit dem Landgericht Heidelberg führt allein die Vereinbarung einer Mindestmiete mit zusätzlicher Umsatzmiete ab einem gewissen Umsatz nicht zur Unzumutbarkeit. Vielmehr lässt sich aus einer solchen Vereinbarung lediglich der Wille zu einer Beteiligung ab einem bestimmten Umsatz ablesen, also bei einem besonderen Erfolg der Mieterin. Gerade die Vereinbarung einer Mindestmiete zeigt jedoch, dass der Vermieter an einem gänzlichen Misserfolg nicht partizipieren wollte, wobei den Parteien hierbei die Möglichkeit schwankender Umsätze sichtlich bewusst war.

 

b) Reine Umsatzrückgänge des Mieters

Vielfach werden für die Unzumutbarkeit des Fortbestandes der Mietzahlungspflicht Umsatzrückgänge (in den betroffenen Monaten) angeführt. „Reine“ Umsatzrückgänge für die betroffenen Monate genügen nach der Rechtsprechung allerdings grundsätzlich nicht. Erforderlich sei vielmehr, dass es zu einer existenzbedrohenden Situation des Mieters kommt, für die der Mieter darlegungs- und beweisbelastet ist. Zudem sind in diesem Zusammenhang vom Mieter anderweitig empfangene Leistungen (z.B. Kurzarbeitergeld, staatliche Förderprogramme, Rücklagen und sonstige Vorteile) gegenüberzustellen. Auch hierzu hat sich das Landgericht Heidelberg ausdrücklich geäußert:

„Zwar mag ein filialbezogener netto Umsatzrückgang von 45,42 % bzw. 39,2 % bzw. 39,24 % im März bzw. April 2020 bzw. ein betriebsbezogener netto Umsatzverlust von 5-7 Millionen Euro pro Tag – der jedoch nicht näher dargelegt ist – zunächst erheblich erscheinen. Allerdings wurden diesem netto Umsatzrückgang weder die ersparten Mitarbeiterkosten durch die Inanspruchnahme von Kurzarbeit, noch etwaige Rücklagen gegenübergestellt.“

IV. Ausblick

Nach den bisherigen Tendenzen in der Rechtsprechung scheidet eine Minderung der Miete (§ 536 Abs. 1 BGB) wegen einer Corona-bedingten Schließungsanordnung aus, da es an einem Mangel des Mietgegenstandes fehlt.

Allenfalls kommen Vertragsanpassungsansprüche unter den Voraussetzungen des § 313 BGB (Störung der Geschäftsgrundlage) in Betracht. Im Schrifttum und zum Teil auch in der gerichtlichen Praxis wird insoweit davon ausgegangen, dass die Miete grundsätzlich zu halbieren ist (vgl. Gerlach/Manzke, ZMR März 2020, 551, 556), wobei aber auch zu berücksichtigen ist, ob und in welcher Höhe der Mieter staatliche oder sonstige finanzielle Hilfen erhalten hat oder noch erhalten wird. Nach derzeitiger gerichtlicher Praxis werden Vertragsanpassungsansprüche lediglich dann als gegeben angesehen, wenn der Mieter trotz sonstiger „Beihilfen“ durch die Corona-bedingten Ladenschließungen in eine existenzbedrohende Situation geraten ist.

Ob sich diese Tendenz in der Rechtsprechung festigen wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls sind Vermieter und Mieter gut beraten, sich außergerichtlich zu einigen. Denn zumeist erfolgt auch in Klageverfahren eine vergleichsweise Einigung zwischen den Parteien. Diese ist dann nur teurer, weil sie die Einigung über die Gerichts- und Anwaltskosten mit umfasst.

Corona-Eindämmungsverordnungen: Ist die 800 m²-Grenze verfassungswidrig?

Innerhalb von nur knapp einer Woche nach Inkrafttreten der jüngsten „Corona-Eindämmungsverordnungen“ der Bundesländer liegen bereits verschiedene Gerichtsentscheidungen zur (Nicht-)Verfassungsgemäßheit der 800 m²-Grenze für Einzelhandelsgeschäfte vor, die Einzelhändler zum Betrieb/Nichtbetrieb ihrer Ladenflächen berechtigen. Die bereits befürchtete „Rechtszersplitterung“ in den Bundesländern ist nunmehr auch „Alltag“ bei den Verwaltungsgerichten. Denn diese sind sich uneins bei der Beantwortung der Frage, ob die 800 m²-Grenze verfassungswidrig ist oder nicht.

1. Verwaltungsgericht Hamburg, Bayerischer Verwaltungsgerichtshof und Oberverwaltungsgericht Saarlouis einerseits

Das Verwaltungsgericht Hamburg und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof halten die 800 m²-Grenze für verfassungswidrig. So hat das Verwaltungsgericht Hamburg mit Beschluss vom 21.04.2020 (Az.: 3 E 1675/20) konstatiert, dass Mieter von Mietflächen, die größer als 800 m² sind, entgegen den Vorgaben in der Hamburger Rechtsverordnung (wieder) öffnen dürfen. Das Verwaltungsgericht Hamburg bejaht insoweit einen Eingriff in die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG und einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG). Ebenso wie das Verwaltungsgericht Hamburg hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 27.04.2020 (Az.: 20 NE 20.793) einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffend die bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung stattgegeben und klargestellt, dass die Verkaufsflächenregelung von 800 m² nicht dem Gleichheitssatz entspricht. Mit gleicher Argumentation hat der 2. Senat des Oberverwaltungsgerichts Saarlouis in seinem Beschluss vom 27.04.2020 (Az.: 2 B 143/20) im Eilverfahren entschieden, dass Einrichtungs- und Möbelhäuser unter Gleichheitsgesichtspunkten nach der Corona-Verordnung nicht als auf eine Verkaufsfläche von 800 m² begrenzte Geschäfte des Einzelhandels zu behandeln seien.

2. Oberverwaltungsgericht Hamburg und Oberverwaltungsgericht Saarlouis sowie Oberverwaltungsgericht Lüneburg andererseits

Demgegenüber entschied das Oberverwaltungsgericht Saarlouis in einem Eilverfahren mit Beschluss vom 24.04.2020 (Az.: 2 B 122/20), dass die Kaufhäuser der Galeria Karstadt Kaufhof im Saarland weiterhin geschlossen bleiben müssen. Die Begrenzung der zulässigen Verkaufsfläche auf 800 m² sei nach Auffassung des Oberverwaltungsgericht Saarlouis nicht zu beanstanden, da der Verordnungsgeber die Größe der Verkaufsfläche als Maßstab für den Käuferzustrom zugrunde gelegt habe und großflächige Einzelhandelsbetriebe, die aufgrund ihrer Größe regelmäßig ein breites Warensortiment oft zu günstigen Preisen anbieten und präsentieren könnten, als Einkaufsort besonders attraktiv seien. Im Einklang damit hat das Oberverwaltungsgericht Hamburg in einer Zwischenverfügung vom 22.04.2020 (Az.: 5 Bs 64/20) der Beschwerde der Stadt Hamburg stattgegeben und hat – entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts Hamburg (siehe zuvor unter 1.) – entschieden, dass die Betreiberin eines Sportwarengeschäfts in der Hamburger Innenstadt dieses vorläufig – zunächst befristet bis zum 30.04.2020 – nur mit einer maximalen Verkaufsfläche von 800 m² betreiben darf. Auch das Oberverwaltungsgericht Lüneburg ist in seinem Beschluss vom 27.04.2020 (Az.: 13 MN 98/20) der Auffassung, dass die Flächenbeschränkung von 800 m² eine notwendige infektionsschutzrechtliche Maßnahme darstellt und hat ein Verkaufsverbot für Geschäfte über 800 m² Verkaufsfläche bestätigt. Ein anderes solle indes nach der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts Saarlouis in seinem Beschluss vom 24.04.2020 (Az.: 2 B 122/20) für Möbel- und Einrichtungshäuser gelten.

3. Oberverwaltungsgericht Münster

Das Oberverwaltungsgericht Münster will in dieser Woche über die 800 m² Regel in der nordrheinwestfälischen Verordnung entscheiden.

4. Streitgegenständliche Sachverhalte und gerichtliche Entscheidungen

Die Sachverhalte in den verschiedenen Fällen waren jeweils nahezu gleich gelagert. Die Antragsteller sind jeweils im Einzelhandel tätig und betreiben Einzelhandelsgeschäfte, die die Grenze von 800 m² überschreiten. Sie wandten sich – im Eilrechtsschutz – gegen die behördlichen Betriebsuntersagungen und machten geltend, dass die andauernde Betriebsschließung existenzgefährdend sei.

Das Verwaltungsgericht Hamburg und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sehen insoweit u.a. einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Denn die Freistellung von Buchhandlungen und Fahrradhändlern etc. ohne Begrenzung der Verkaufsfläche sei aus infektionsschutzrechtlicher Sicht sachlich nicht gerechtfertigt. Mit Blick auf den Gleichheitsgrundsatz sei zudem zu beanstanden, dass nach dem Wortlaut der Verordnung (in Bayern) im Fall der Ladenöffnung nur sonstige Einzelhandelsbetriebe eine Begrenzung der Kundenzahl auf einen Kunden je 20 m² sicherstellen müssen, nicht aber die übrigen Einzelhändler (so der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, a.a.O.). Das Verwaltungsgericht Hamburg bejaht darüber hinaus einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG. Denn die Differenzierung zwischen Verkaufsstellen des Einzelhandels mit einer Verkaufsfläche bis 800 m², die öffnen dürfen, und größeren Verkaufsstellen, die lediglich in einem bis zu dieser Größe reduzierten Umfang öffnen dürfen, sei nicht geeignet, die hiermit verfolgten Zwecke umzusetzen.

Während das Oberverwaltungsgericht Hamburg die Erfolgsaussichten der Beschwerde gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hamburg (siehe zuvor unter 1.) für offen hält, ist nach Auffassung des Oberverwaltungsgericht Saarlouis (Az.: 2 B 122/20) eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung nicht darin zu erblicken, dass in der Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 5 Nr. 1 bis 17 der Saarländischen Verordnung spezialisierte Einzelhandelsgeschäfte ohne Beschränkung der Verkaufsfläche öffnen dürften, branchenübergreifende Warenhäuser jedoch nicht. Denn diese Branchen seien mit Warenhäusern nicht zu vergleichen. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten sei eine Reduzierung des Warenangebots durch eine Verkleinerung der Verkaufsfläche auf 800 m² auch nicht zu beanstanden.

5. „Großflächigkeit“ als geeignetes Abgrenzungskriterium?

Die Grenzmarke von 800 m² ist also in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung stark umstritten. Das zu Recht. Die 800 m² Grenze ist der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 24.11.2005, Az.: 4 C 8/05) entnommen, wonach Einzelhandelsbetriebe großflächig im Sinne von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO sind, wenn sie eine Verkaufsfläche von 800 m² überschreiten. Das Merkmal der Großflächigkeit hat den Zweck, die Einzelhandelsbetriebe, auf die sich § 11 Abs. 3 BauNVO bezieht, von Vornherein abzugrenzen von kleineren Einzelhandelsbetrieben und Läden, die vor allem den Wohngebieten zugeordnet sind und für die die Zulässigkeit beschränkenden Regeln des § 11 Abs. 3 BauNVO nicht in Betracht kommen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.05.1987 – 4 C 19.85 und 4 C 30.86). Die Grundvoraussetzung der Großflächigkeit für die Anwendung des § 11 Abs. 3 BauNVO hat daher auch die Funktion, die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit nicht großflächiger Einzelhandelsbetriebe nicht auch von der Frage abhängig zu machen, ob und inwieweit sie jeweils städtebaulich nachteilige Auswirkungen haben können. Mit dem Begriff der Großflächigkeit soll damit vornehmlich städtebaulichen Auswirkungen einer Bauleitplanung begegnet werden.

Ob sich diese Grenzmarke bei der Eindämmung und Bewältigung des SARS-CoV-2-Virus heranziehen lässt, ist daher mehr als fraglich. Vor dem Hintergrund, dass das Kriterium der 800 m²-Grenze einer geordneten Stadtentwicklungsplanung dient, kommt diesem Abgrenzungskriterium nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Hamburg ein infektionsschutzrechtlicher Aspekt unmittelbar nicht zu. Das Verwaltungsgericht Hamburg stellt insoweit auch auf „mildere“ Mittel ab, beispielsweise die Umsetzung des in den jeweiligen Eindämmungsverordnungen einzuhaltenden Mindestabstands von 1,5 m. Soweit das Verwaltungsgericht Hamburg richtigerweise insoweit auf eine Überwachung dieses Mindestabstands und darauf abstellt, dass Verstöße als Ordnungswidrigkeiten geahndet werden können, stehen hier vornehmlich praktische Probleme der Umsetzung im Raume. Konkret geht es um Überwachungsmaßnahmen. Das gilt inzwischen auch für die seit Anfang dieser Woche geltende Maskenpflicht. Auch hier steht nicht selten in Frage, wer für die Überwachung der jeweiligen Pflicht Sorge zu tragen hat. Zum Teil finden sich in den jeweiligen Pressemitteilungen der Landesregierungen hierzu Vorgaben, dass „die Beachtung der Regelungen von den Geschäftsinhabern innerhalb ihrer Geschäfte genauso wie die bisherigen Vorgaben zu Mindestabständen, Personenbegrenzung etc. sicherzustellen sind“ (vgl. https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/landesregierung-fuehrt-maskenpflicht-ein).

In der Tat erscheint es naheliegender, als mildere Mittel auf eine exaktere Umsetzung der jeweiligen (weiteren) Eindämmungsmaßnahmen, wie die Einhaltung des Mindestabstands, der Maskenpflicht etc. abzustellen, als „pauschal“ auf die 800 m²-Grenze der Großflächigkeit. Die praktischen Umsetzungsprobleme stehen dem nicht entgegen, da hier – wie zuvor erwähnt – auch die jeweiligen Geschäftsinhaber in der Pflicht stehen. Hinzu kommt folgende Überlegung: Es erscheint nicht nachvollziehbar, warum beispielsweise ein „Single-Tenant-Mieter“, der ein Einzelhandelsgeschäft in einem Gebäude betreibt, welches die Grenze von 800 m² überschreitet, sein Ladenlokal nicht öffnen kann, während kleinere Mietflächen im Innenstadtbereich, bei denen die Mindestabstandsregelungen etc. zum Teil viel schwieriger einzuhalten sind, ihrerseits in die Ausnahmetatbestände der jeweiligen Landesverordnungen fallen. Sofern in der Politik zur Stütze ausdrücklich darauf abgestellt wird, dass hier wirtschaftliche Interessen (namentlich bei den Möbelhäusern) auf dem Spiel stehen (so NRW Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann), so liegen exakt die gleichen wirtschaftlichen Interessen bei denjenigen Unternehmen vor, die ihre Einzelhandelsflächen nicht betreiben dürfen. Dieses Kriterium ist also ungeeignet, um die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.

6. Ausblick

Interessant ist, dass sowohl der Bayerische Verwaltungsgerichtshof als auch das Oberverwaltungsgericht Hamburg  jeweils auf die „Kurzfristigkeit“ der Geltungsdauer der Einschränkungen in den einschlägigen Landesverordnungen (3. Mai 2020) Bezug genommen und – so der Bayerische Verwaltungsgerichtshof – deshalb davon abgesehen haben, die Bestimmungen der Corona-Eindämmungsverordnungen außer Vollzug zu setzen. Das dürfte dahin zu werten sein, dass der jeweilige (Landes-)Gesetzgeber/Verordnungsgeber „nachzubessern“ hat. Von daher bleibt die weitere Entwicklung – wie in den vergangenen Wochen – spannend und es dürfte zu weiteren Fortschreibungen kommen. Hierbei bleibt zu hoffen, dass – wie bei den damaligen Schließungen („Lockdown“) – die Bundesländer (wieder) an einem Strang ziehen und nicht – wie momentan – jedes Bundesland seinen eigenen Weg geht. Letzteres führt in der (Rechts-)Praxis nämlich zu großen Verunsicherungen und leider auch zu Ungleichbehandlungen, wie es die Gerichte bislang auch deutlich aufgezeigt haben.

Anm. der Red.: Einen Überblick von Lützenkirchen zum Thema „Corona und Mietrecht“ erhalten MietRB-Abonnenten unter diesem Link.