Die Zeit im Recht

Ursprünglich rechtmäßige Medienberichte können aus unterschiedlichen Gründen nachträglich rechtswidrig werden. Das kann etwa der Fall sein, wo Medien nach den Grundsätzen zulässiger Verdachtsberichterstattung über ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren berichten, das später mit einer unanfechtbaren Verfahrenseinstellung oder einem rechtskräftigen Freispruch des Betroffenen endet; oder auch im Fall der zulässigen Berichterstattung über eine strafrechtliche Verurteilung, über die nach Resozialisierungsgrundsätzen ab einem bestimmten Zeitpunkt später nicht mehr berichtet werden darf. Die Frage, ob die Medien verpflichtet sind, derartige Berichte aus ihren Online-Archiven zu löschen oder jedenfalls den Zugriff Außenstehender auf sie zu sperren, beschäftigt die Gerichte seit weit mehr als einem Jahrzehnt. Mit einer Serie von Entscheidungen aus den Jahren 2010 – 2012 schien der BGH sie abschließend im Sinne der Medienfreiheiten geklärt zu haben. Nun aber hat das BVerfG mit seinen beiden Beschlüssen vom 6.11.2019 in Sachen Recht auf Vergessen I (1 BvR 16/13)  und Recht auf Vergessen II (1 BvR 276/17) der Diskussion wieder Raum gegeben. Dabei hat es erstmals eine Problematik in das Zentrum seiner Entscheidungen gestellt, die hier nur erwähnt, auf die aber nicht näher eingegangen werden kann: Beurteilen sich Konflikte zwischen den Medien und den von ihrer Berichterstattung Betroffenen auch heute noch anhand der Art. 1, 2 und 5 GG oder anhand der Grundrechte-Charta der Europäischen Union? In den beiden Entscheidungen vom 6.11.2019 hat das Gericht mit eingehender Begründung einmal deutsches und einmal europäisches Recht angewandt.

Mit der datenschutzrechtlichen Komponente des Beschlusses Recht auf Vergessen I befasst sich der Blog von Härting auf CR-online vom 28.11.2019 – ein in Ansehung der nach wie vor bestehenden Unsicherheit über die Auswirkungen von Art. 85 DSGVO auf das deutsche Medien- und Äußerungsrecht und insbesondere das Recht am eigenen Bild äußerst lesenswerter Beitrag, der jedem auf diesem Gebiet tätigen Rechtsanwender nur dringend ans Herz gelegt werden kann. Die dort herausgearbeitete Kernbotschaft der Entscheidung ist so bedeutsam, dass sie hier ausnahmsweise wiederholt werden soll: Art. 85 DSGVO erlaubt es den Medien, sich gegenüber datenschutzrechtlich begründeten Angriffen auf publizistische Berichterstattung unmittelbar auf Art. 5 GG zu berufen. Das Gericht interpretiert Art. 85 DSGVO damit als direkt in das nationale Recht hineinwirkendes Medienprivileg. Medienjuristen, die sich nach Inkrafttreten der DSGVO im Mai 2018 Sorgen um den Fortbestand des seit Jahrzehnten etablierten Systems der miteinander in Ausgleich zu bringenden Grundrechtspositionen aus Art. 1 und 2 GG einerseits – Allgemeines Persönlichkeitsrecht einschließlich des Rechts am eigenen Bild – und den durch Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisteten Medienfreiheiten andererseits gemacht haben, dürfte ein Stein vom Herzen fallen; ich gestehe, dass das auch für mich gilt.

Die Hoffnung aber, dass man das Kapitel der Statthaftigkeit der andauernden Speicherung der hier infrage stehenden alten Medienberichte in den Online-Archiven der Verlage oder Rundfunkveranstalter und der Offenhaltung dieser Archive für die Öffentlichkeit mit den beiden Entscheidungen des BVerfG als abgeschlossen betrachten kann, erfüllt sich nicht. So entscheidet das Gericht zwar in Sachen Recht auf Vergessen I, dass die zeitgeschichtliche Komponente des Ausgangsfalls Appolonia über das Archiv zugänglich bleiben darf und im Hinblick auf die Kommunikationsgrundrechte des Verlags auch bleiben muss; wer im Archiv nach Appolonia sucht, wird weiter auf den Namen des damaligen Täters stoßen und darf es auch. Der unmittelbar auf den Täter bezogenen personenbezogenen Suche aber schiebt es einen mit dem Zeitablauf – seit der ersten Berichterstattung sind mehr als dreißig Jahre vergangen – begründeten Riegel vor, dessen Wirksamkeit noch zu definieren sein wird. Das BVerfG gibt den Zivilgerichten im Wege der Zurückverweisung auf, zu prüfen, ob und welche Mittel dem beklagten Verlag zu Gebote stehen, um zum Schutz des Betroffenen Einfluss auf die Auffindbarkeit der alten Berichte durch nicht von ihm betriebene Suchmaschinen bei namensbezogener Recherche zu nehmen. Der BGH, der keine Tatsachenfeststellungen treffen kann, wird dies nicht aufklären können, sondern den Fall seinerseits an das OLG als letze Tatsacheninstanz zurückverweisen müssen. Wie in dieser Konstellation endgültig zu verfahren sein wird, wird also noch für längere Zeit offen bleiben. Es wäre aber keine Überraschung, wenn die Gerichte am Ende die Medienunternehmen verpflichten würden, von ihnen unabhängige Suchmaschinenbetreiber zu bitten – anweisen könnten sie sie nicht -, den auf den Täter zielenden personenbezogenen Zugang zu der Altmeldung zu sperren.

Im Fall Recht auf Vergessen II stand die angegriffene Altmeldung nicht mehr als 30, sondern knapp zehn Jahre im Online-Archiv. Ansonsten sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des Falls identisch mit denjenigen im Fall Recht auf Vergessen I. Das BVerfG hat hier die Verfassungsbeschwerde des Betroffenen zurückgewiesen und damit die Auffassung des letztinstanzlich tätigen OLG gebilligt, sein Allgemeines Persönlichkeitsrecht sei durch die Verfügbarkeit der Altmeldung im Online-Archiv der beklagten Rundfunkanstalt im Hinblick auf den kürzeren Zeitablauf – noch – nicht verletzt.

Als Ergebnis beider Entscheidungen lässt sich daher festhalten: Journalistisch-redaktionelle Tätigkeit ist auch im Anwendungsbereich von Art. 85 DSGVO allein am Spannungsfeld der kollidierenden Grundrechte aus Art. 1 und 2 GG einerseits und Art. 5 Abs. 1 GG andererseits oder der im Wesentlichen wirkgleichen Normen der Europäischen Grundrechte-Charta zu messen. Spezifischer nationaler Ausführungsgesetze zu Art. 85 bedarf es nicht. Die Speicherung ursprünglich rechtmäßiger Medienberichte in den Online-Archiven und ihre Verfügbarkeit für deren Nutzer bleibt als Ausdruck der Medienfreiheiten der Verlage oder Rundfunkanstalten auch dann zulässig, wenn eine erneute anderweitige Verbreitung der Altmeldungen wegen veränderter Umstände nach allgemeinen Regeln nicht mehr statthaft wäre. Ihre Abrufbarkeit auf Suchmaschinen unter Eingabe des Namens des Betroffenen kann wegen der erhöhten Eingriffsintensität durch Zeitablauf unzulässig werden. Wie viel Zeit verstrichen sein muss, damit dieser Wechsel in der Beurteilung eintritt, ist nicht abschließend geklärt und wird künftig wohl anhand der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden sein; der maßgebliche Zeitpunkt wird zwischen zehn und dreißig Jahren liegen. Welche Vorkehrungen die Medienunternehmen, die nicht gleichzeitig der Suchmaschinenbetreiber sind, nach dem „Umlegen des Schalters“ treffen müssen, um die Auffindbarkeit der Altmeldungen unter Eingabe des Namens des Betroffenen zu verhindern oder jedenfalls zu erschweren, bleibt einstweilen offen; hier ist die weitere Rechtsprechung der Zivilgerichte abzuwarten.

Mit dem zivilrechtlichen „Recht auf Vergessen“ vor den hier besprochenen Entscheidungen befasst sich die 6. Auflage unseres „Presserecht“ in Rz. 19.67, 31.17.

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