Rechtliches Gehör – Ist das so schwierig?

Zu Beginn meiner anwaltlichen Tätigkeit vor nun fast fünfzig Jahren hatte ich einen Seniorpartner, der über einen unter den heutigen Verhältnissen kaum noch vorstellbaren Fundus an Rechtskenntnis, Lebenserfahrung und jederzeit aktivierbarer forensischer Erfahrung verfügte. Sie pflegte er in prägnanten, teils provokativen Sätzen an die Jüngeren weiterzugeben, wenn sich die Gelegenheit ergab. An einen dieser Sätze fühlte ich mich lebhaft erinnert, als ich kürzlich den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 03.06.2020 las (1BvR 1246/20, abgedruckt u.a. in NJW 2020., 2021): „Richter sind störrisch wie die Maulesel“.

Worum geht es?

Mit seinen Beschlüssen vom 30.09.2018 (BVerfG AfP 2018, 504 und AfP 2018, 508) hatte, wie es schien, das BVerfG einer insbesondere in äußerungsrechtlichen Unterlassungs- und Gegendarstellungsverfahren seit Jahrzehnten eingeführten Praxis ein Ende bereitet, die darin bestand, dass Gerichte über Anträge auf Erlass von einstweiligen Verfügungen ohne die vom Gesetz als Regelfall vorgeschriebene mündliche Verhandlung entschieden und ohne dem Antragsgegner in sonstiger Weise rechtliches Gehör zu gewähren. Diese Praxis stellt nach der eindeutigen Auffassung des höchsten deutschen Gerichts eine eklatante Verletzung der aus Art. 3 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Gebote der Gewährung rechtlichen Gehörs und der prozessualen Waffengleichheit dar. Das mag vor dem Hintergrund jahrzehntealter gegenteiliger gerichtlicher Praxis für Gerichte und Anwälte überraschend gewesen sein und insbesondere für die Gerichte, aber auch für die Antragsteller lästig. Es ist aber mit den genannten Verfahrensgrundsätzen nach der klaren Vorgabe des BVerfG eben nicht vereinbar, wenn ein Gericht einem Antragsteller telefonisch Bedenken gegen einen ihm vorliegenden Antrag mitteilt und ihm Gelegenheit gibt, diese Bedenken, etwa durch eine Änderung des Verfahrensantrags oder ergänzenden Sachvortrag in nachgereichten Schriftsätzen, auszuräumen, ohne dass der Antragsgegner darüber unterrichtet wird. Ein kurzer handschriftlicher Vermerk des Richters in der Akte reicht eben nicht aus, wenn er nicht dem Antragsgegner mitgeteilt und ihm auf diese Weise Gelegenheit gegeben wird, dem Gericht auch seine Sicht der Dinge vorzutragen. Und es ist eben nicht zulässig, auf die gebotene mündliche Verhandlung zu verzichten, wenn nicht der Antragsgegner vor Einleitung des Verfahrens abgemahnt wurde und / oder wenn die folgende Antragsschrift im gerichtlichen Verfahren mit der Begründung der Abmahnung nicht identisch ist – sei es aufgrund eigener Erkenntnisse des Antragstellers betreffend die Notwendigkeit einer vertiefenden Begründung, sei es, weil das Gericht in dem von ihm praktizierten einseitigen Verfahren den Antragsteller auf die Notwendigkeit von Ergänzungen oder auch einer Änderung seines Antrags hingewiesen hat.

Das alles scheint aus den genannten Beschlüssen vom 30.09.2018 so klar hervorzugehen, dass es nicht verständlich ist, worüber das BVerfG in seinem jüngsten Beschluss zu dieser Thematik zu befinden hatte: Das LG Berlin hatte über einen Verfügungsantrag zu entscheiden, dem zwar die Abmahnung und die vorprozessuale Erwiderung des Antragsgegners beigefügt waren, in dem der Antragsteller dem Gericht aber die Anlagen zur Erwiderung nicht vorlegt, seine Begründung im Hinblick auf den Inhalt der Erwiderung ausgebaut und in einem nachgereichten Schriftsatz auch noch den Verfahrensantrag geändert hatte; das alles ohne Kenntnis des Antragsgegners. Das hat – Richter sind störrisch wie die Maulesel – das LG Berlin nicht daran gehindert, das Verfahren im einseitigen Dialog mit dem Antragsteller zu gestalten und die einstweilige Verfügung ohne Anhörung des Gegners zu erlassen. Das BVerfG hat dies dem Landgericht auch in diesem Fall nicht durchgehen lassen. Es ist eine erfreuliche Entscheidung. Erfreulich, weil es den verfassungsrechtlich fundierten Verfahrensprinzipien der Waffengleichheit und der Unverzichtbarkeit des rechtlichen Gehörs erneut Geltung verschafft. Erfreulich aber vor allem, weil es dem veröffentlichten Beschluss mit seinen fünf Leitsätzen einen Leitfaden für die rechtsstaatliche Gestaltung von Verfahren der einstweiligen Verfügung voranstellt, an dem – so sollte man hoffen – nun auch der “störrischste“ Richter nicht nicht mehr vorbeikommen wird, und der ungeduldigen Parteivertretern mit unübersehbarer Deutlichkeit aufzeigt, worauf sie sich in dieser Art von Verfahren einzustellen haben. Die Lektüre und Verinnerlichung jedenfalls der Leitsätze des Beschlusses vom 03.06.2020 sei jedem in diesem Rechtsgebiet aktiven Praktiker nur wärmstens empfohlen.

Zu der hier angesprochenen Praxis der „einseitigen“ Verfahren der einstweiligen Verfügung vgl. auch die 6. Auflage unseres „Presserecht“ in Rz. 30.34 f.

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