Eine stets neue Herausforderung für die Medien ist die Auslotung der Veröffentlichungsschranken, die sich im Hinblick auf Texte Dritter aus den Bestimmungen des Urheberrechts ergeben. Ein prominenter Testfall für diese Problematik ist der Streit zwischen der Funke Mediengruppe und der Bundesregierung um die Veröffentlichung wöchentlich erscheinender Lageberichte der Bundesregierung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, die zur Unterrichtung des Parlaments als Verschlusssache der niedrigsten Geheimhaltungsstufe an einzelne Abgeordnete des Bundestags sowie an Referate des Bundesverteidigungsministeriums verschickt werden. Derartige Berichte wurden der Funke Mediengruppe zugespielt und von dieser unter der Bezeichnung Afghanistan-Papiere auf einem Internetportal ohne redaktionell-inhaltliche Auseinandersetzung, jedoch versehen mit einem Einleitungstext, weiterführenden Links und mit der Einladung zur interaktiven Partizipation auszugsweise veröffentlicht. Die Bundesregierung sah hierin einen Eingriff in die von ihr wahrgenommenen Urheberrechte der Verfasser und nahm den Verlag vor den Kölner Gerichten auf Unterlassung in Anspruch, die der Klage beiden Instanzen mit der Begründung stattgaben, die Texte seien urheberrechtlich geschützt und einer der Ausnahmetatbestände des § 51 UrhG liege nicht vor. Der von Funke Medien angerufene BGH hat den Fall im Weg des Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH verwiesen und diesem im Wesentlichen die Frage vorgelegt, ob die der Umsetzung von Art. 5 Abs. 2 c) und Abs. 3 der Richtlinie 2001/29/EG vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft dienenden §§ 50, 51 UrhG den deutschen Gerichten einen Umsetzungsspielraum belassen und ob und in welcher Weise die deutschen Gerichte bei der Bestimmung der Tragweite der die Ausschließlichkeitsrechte der Urheber einschränkenden Bestimmungen der §§ 50, 51 UrhG die Grundrechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und insbesondere deren der Sicherung der Meinungs- und Medienfreiheiten dienenden Art. 11 berücksichtigen können (BGH ZUM 2017, 753). Der BGH hat dabei unterstellt, dass die Texte der Afghanistan-Papiere urheberrechtlich geschützt sind und es für die Entscheidung darauf ankommt, ob ihre Veröffentlichung durch Funke Medien bei richtlinienkonformer Auslegung durch den Ausnahmetatbestand der Berichterstattung über Tagesereignisse gem. § 50 oder durch eines der Zitierrechte des § 51 UrhG gerechtfertigt sein kann.
Hierzu liegt nun mit Urteil v. 29.7.2019 (C-469/17) die Entscheidung des EuGH vor, mit der er, entsprechend dem Institut der Vorabentscheidung, zwar nicht in der Sache selbst entscheidet, wohl aber für das deutsche Urheberrecht wichtige Weichenstellungen vornimmt. Entsprechend der im deutschen Urheberrecht ohnehin geltenden Auffassung ist der Katalog der Ausnahmetatbestände vom Ausschließlichkeitsrecht des Urhebers in Art. 5 RL 2001/29/EG abschließend. Die Gerichte dürfen ihn nicht um zusätzliche, nicht im Gesetz vorgesehene Ausnahmen erweitern. Wo eine Berufung auf §§ 50, 51 UrhG nicht in Betracht kommt, können die Medien Eingriffe in Urheberrechte Dritter folglich nicht allein mit einer Berufung auf die Kommunikationsgrundrechte der Grundrechtecharta, des Art. 10 EMRK oder von Art. 5 Abs. 1 GG rechtfertigen.
Der EuGH nimmt dennoch zwei für die vorliegende Konstellation bedeutsame Weichenstellungen vor. Zum einen ist schon bei der Auslegung der §§ 2 Abs. 1, 5 Abs. 2 UrhG der Bedeutung der Kommunikationsgrundrechte angemessen Rechnung zu tragen. Hier stellt sich die Frage, ob es sich bei den von einer staatlichen Behörde ausschließlich zum Gebrauch durch Angehörige des Bundestags und andere staatliche Stellen erstellten Informationsschreiben um Sprachwerke i.S.v. § 2 UrhG handelt oder um gemeinfreie verschriftlichte Äußerungen im Anwendungsbereich von § 5 UrhG. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens hat sich auf den mangelnden Werkcharakter der Dokumente berufen, der BGH hat deren Werkeigenschaft unterstellt. Der EuGH entscheidet diese Frage nicht, da sie bei richtlinienkonformer Auslegung der urheberrechtlichen Bestimmungen nach nationalem Recht zu entscheiden ist. Er weist aber mehr als deutlich darauf hin, dass die als Afghanistan-Papiere veröffentlichten Dokumente nicht als eigene geistige Schöpfung des oder der Urheber anzusehen sein dürften. Die deutschen Gerichte werden dies unter Berücksichtigung der Ausführungen des EuGH neu zu bedenken und abschließend zu entscheiden haben. Es liegt m. E. mehr als nahe anzunehmen, dass die Klage der Bundesrepublik Deutschland am Ende schon an diesem Wegpunkt scheitern muss.
Wichtiger aber ist die zweite Weichenstellung im Urteil des EuGH. Selbst wenn man vom Werkcharakter der Dokumente auszugehen hätte, wären die Einschränkungen des Ausschließlichkeitsrechts des oder der Verfasser in §§ 50, 51 UrhG im Lichte der Kommunikationsgrundrechte des veröffentlichenden Verlags ihrerseits einschränkend zu interpretieren. Das Instrument der Abwägung zwischen den Kommunikationsgrundrechten und dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht eines von Medienberichterstattung Betroffenen, das das deutsche Äußerungsrecht seit langem prägt, hält mit dieser Entscheidung des EuGH Einzug nun auch ins Urheberrecht. Den Grundrechten der Meinungs- und Medienfreiheiten ist bei der Auslegung der Tatbestände der §§ 50, 51 UrhG angemessen Rechnung zu tragen, und der EuGH deutet, bezogen auf den Ausgangsfall, mit Recht an, dass es sich bei der Veröffentlichung der Afghanistan-Papiere in der vorliegenden Form um eine nach § 50 UrhG zulässige Nutzung im Rahmen einer Berichterstattung über Tagesereignisse handeln wird. Man darf gespannt sein, auf welcher Ebene der BGH den Ball aufnehmen wird, den ihm der EuGH in dieser wegweisenden Entscheidung zugespielt hat.