Otto Schmidt Verlag

FamRB-Blog

Unterhalt in der Krise oder die Krise im Unterhalt

Heinrich Schürmann  Heinrich Schürmann
VorsRiOLG a.D.

„Das Corona-Virus ist in aller Munde“ – sehr doppeldeutig beginnt das Merkblatt einer Arztpraxis zu den Verhaltensregeln anlässlich der Covid-19-Pandemie. Zum Glück gilt dies nur im übertragenen Sinn, betrifft aber längst nicht mehr nur medizinische Aspekte. Inzwischen hat ein mit bloßem Auge unsichtbares Virus alle Bereiche des öffentlichen Lebens fest im Griff und spart auch das Familienrecht nicht aus. Sehr plastisch führt uns die Schließung von Schulen und Kitas vor Augen, welch hohen Stellenwert gesicherte Betreuungsarrangements für Kinder im Alltag haben. Daran schließen sich sehr praktische Fragen an: Lässt sich ein getrennt lebender Elternteil in die Kinderbetreuung einbinden, ist ein Wechselmodell noch praktikabel oder welche Folgen hat die verordnete Einschränkung sozialer Kontakte auf einen vereinbarten Umgang? Sehr schnell spürbar wurden für viele Betroffene auch die wirtschaftlichen Folgen der Krise, die sich zugleich unmittelbar auf die Unterhaltspflichten auswirken. Längst erreichen die Jugendämter zahlreiche Anfragen – von Unterhaltspflichtigen, die den Unterhalt nicht mehr aufbringen können, ebenso wie von Alleinerziehenden, die dringend auf Unterstützung angewiesen sind.

Laufende Unterhaltspflichten werden regelmäßig aufgrund einer Prognose festgelegt, die an das in der Vergangenheit bezogene Einkommen anknüpft. Dahinter steht die unausgesprochene Erwartung, dass sich diese Verhältnisse im Wesentlichen unverändert fortsetzen. Nun stehen wir plötzlich vor der Situation, dass diese jahrzehntelang nicht unrealistische Erfahrung für große Gruppen der Bevölkerung nicht mehr zutrifft. Welches Einkommen kann ein Gastwirt erzielen, der seinen Betrieb zunächst noch für einige Stunden offen halten durfte und dem infolge der nächsten Schließungsverfügung von einem Tag auf den anderen auch die letzten Einnahmen wegbrechen. In vielen anderen Branchen – Dienstleistungen, Luftfahrt, Touristik, Kulturbetriebe bis hin zu sozialen Diensten und Einrichtungen – sieht es nicht besser aus. Eine große Zahl von Arbeitnehmern ist bereits in Kurzarbeit, anderen droht die Arbeitslosigkeit. Das Einkommen sinkt dadurch auf 60 % bzw. 67 % des früheren Nettoverdienstes, während viele Kosten wie Miete, Versicherungen und Kreditbelastungen unverändert weiterlaufen. Dieses Szenario ist längst real – für wen, in welcher Weise und zu welchem Zeitpunkt es sich wieder ändern wird, ist noch lange nicht abzusehen. Zwar bringt die Bundesregierung große Hilfspakete auf den Weg, um die Folgen für die unmittelbar Betroffenen abzumildern. Erleichterungen beim Bezug von Wohngeld, Kurzarbeitergeld, Kinderzuschlag sowie ALG II, Zuschüsse an Selbständige und ein erweiterter Kündigungsschutz von Wohnraum können die wirtschaftlichen Belastungen zwar abmildern, aber nicht alle Einkommenseinbußen kompensieren. In all diesen Fällen erweist sich urplötzlich eine den Unterhaltspflichten zugrunde liegende Einkommensprognose als unzutreffend. Sollen die bisherigen Unterhaltspflichten nicht zu einem weiteren Schuldenberg anwachsen, sind bestehende Titel an die veränderten Verhältnisse anzupassen.

Anders als bei vertraglich begründeten Zahlungspflichten ist die Leistungsfähigkeit des Pflichtigen eine notwendige Voraussetzung für den gesetzlichen Unterhaltsanspruch. Vermindert sich das verfügbare Einkommen, sinkt die Unterhaltspflicht oder entfällt vollständig. Den Maßstab dafür bilden nicht mehr unterhaltsrechtliche Formeln und Pauschalen, sondern die realen wirtschaftlichen Verhältnisse des einzelnen Betroffenen. Denn dieser hat sich mit seiner Lebensführung abhängig von der bestehenden Unterhaltspflicht eingerichtet. In einer breite Bevölkerungskreise unvorbereitet treffenden und vielfach als existenzbedrohend erlebten Krise sind keine kurzfristigen Änderungen im persönlichen Lebensumfeld zu erwarten. Vielmehr sind die vorgefundenen Verhältnisse als gegeben hinzunehmen und allen unterhaltsrechtlichen Beurteilungen zugrunde zu legen.

Aus der früheren Rechtsprechung (Brandenburgisches OLG v. 12.1.1995 – 9 UF 90/94, FamRZ 1995, 1220; OLG Dresden v. 25.11.1997 – 10 WF 455/97, FamRZ 1998, 767) genährte Ãœberlegungen, vorübergehende Einkommensrückgänge könnten in den ersten Monate einer Kurzarbeit überbrückt werden, sind ebenso realitätsfremd wie die Annahme, bei selbständiger Tätigkeit ließen sich mehrmonatige Umsatzeinbußen einige Monate später noch aufholen. Im Unterhalt gilt das Liquiditätsprinzip – d.h. die Zahlung muss aus dem laufenden Einkommen möglich sein. Ist dies nicht der Fall, sind auch kurzfristige Veränderungen zu beachten und können zu einem – möglicherweise auch nur vorübergehenden – Wegfall des Anspruchs führen.

Auch wenn alle hoffen, dass die Krise nicht allzu lange andauern möge, weiß noch niemand, wie sich Auftragslage und Arbeitsmarkt nach einer Rückkehr zum gesellschaftlichen Normalzustand entwickeln werden. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir derzeit eine weltweite Krisensituation durchleben, für die es keine Erfahrungswerte gibt und deren langfristigen Folgen sich nicht prognostizieren lassen. Daher folgt aus der Einkommenskrise des Einzelnen die notwendige Reaktion beim Unterhalt.

Aber auch für diese Anpassung gibt es keine unterhaltsrechtlich verlässlichen Erfahrungswerte. So werden derzeit eine ganze Reihe von Unterstützungsmaßnahmen installiert, die teils den betrieblichen Sektor, teils auch die private Lebenssituation betreffen und zudem Familien mit Kindern in besonderer Weise begünstigen sollen. Deren Wirkungen und Dauer lassen sich aktuell noch nicht überblicken, wie sich auch noch nicht absehen lässt, wann sich die Verhältnisse wieder stabilisieren werden. Bei diesem unsicheren Terrain ist es nicht zielführend, sich auf kleinteilige Unterhaltsberechnungen nach den bekannten unterhaltsrechtlichen Schemata einzulassen. Gefragt sind vielmehr Verständnis für die tatsächliche Lebenssituation der jeweils anderen Seite sowie die Bereitschaft, sich kreativ mit flexiblen Lösungen auseinanderzusetzen. Dabei lassen sich in einem – mit dem gebotenen Abstand geführte – persönlichen Gespräch schneller pragmatische, maßgeschneiderte Lösungen erreichen, als in einer ganzen Reihe gerichtlicher Abänderungsverfahren.

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