Düsseldorfer Tabelle 2023 (Erwiderung auf Schwamb v. 20.12.2022)

Schwamb greift in seinem Beitrag die zu den Kontroversen bekannten Argumente auf, vernachlässigt dabei aber, dass sich die strittigen Punkte deshalb ergeben, weil die gesetzlichen Grundlagen der einzelnen Berechnungen längst nicht mehr mit den aus den Anfangsjahren des Unterhaltsrechts stammenden Maßstäben vergleichbar sind. Die strukturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte erfordern es, dass die Rechtsprechung die bisher angewandten Methoden auf ihre Eignung hinterfragt und die gewonnenen Ergebnisse auf ihre Angemessenheit und Stimmigkeit im Gesamtsystem überprüft.

Der um die Differenz zwischen zweiter und dritter Altersstufe erhöhte Bedarf volljähriger Kinder war schon seit den 1980er Jahren gebräuchlich (vgl. Hammer Leitlinien, Ziff. 18, FamRZ 1988, 1017); die Rechtsprechung zur Bemessung des Wohnkostenanteils mit 20 % des Tabellenwerts reicht zumindest bis in die 1990er Jahren zurück (vgl. Münch. Leitlinien 1996 Ziff. 4.1, FamRZ 1995, 1551). In dieser Zeit galt für die Eingangsstufe der Düsseldorfer Tabelle der Regelbedarf (§ 1515f BGB), dessen Höhe letztlich nicht durch ein wie auch immer berechnetes Existenzminimum, sondern durch die Leistungsfähigkeit bei kleinen Einkommen geprägt war (instruktiv BR-Drucks. 271/70). Dieselben Erwägungen galten auch noch für das Kindesunterhaltsgesetz von 1998 (BT-Drucks. 13/7338, 22; BT-Drucks. 13/9596, 31). Einen Bezug zum Existenzminimum stellte erstmals das Änderungsgesetz vom 2.11.2000 mit der Neufassung des § 1612b Abs. 5 BGB her (BT-Drucks. 14/3781, 8). Das Unterhaltsänderungsgesetz von 2008 ersetzte schließlich die sachwidrige 135 %-Regelung des § 1612b Abs. 5 BGB (BVerfGE 108, 52 Rz. 54) durch den steuerlichen Kinderfreibetrag, um den Kindesunterhalt anhand einer bundeseinheitlich geltenden Pauschale zu bestimmen. Dieser Freibetrag beruhe – so die Gesetzesbegründung – auf konkreten Zahlen zum Lebensbedarf und den Wohnkosten, so dass die Vorgaben für die Unterhaltspflichtigen und -berechtigten unmittelbar einsichtig und nachvollziehbar seien (BT-Drucks. 16/1830, 27). Dies gilt ohne weiteres für den offen ausgewiesenen Teilbetrag der Wohnkosten. In der Summe entsprechen 100 % des Mindestunterhalts dem vom Gesetz angestrebten Ergebnis; hier nicht erfasste Bedarfe begründen ohnehin einen Zusatzbedarf. Allerdings ist es mehr als nur ein Schönheitsfehler, wenn die gesetzlich vorgegebene Spreizung des Mittelwerts die methodischen Mängel der früheren Regelung beibehält und so das angestrebte Normziel für die jüngeren und älteren Kinder verfehlt. Dies zu korrigieren ist indes Aufgabe des Gesetzgebers. Andererseits kommen die Gerichte nicht daran vorbei, ihrerseits zu prüfen, ob angesichts dieses Befunds für volljährige Kinder eine nochmals höhere Steigerungsrate sachgerecht ist und das auf diese Weise ermittelte Ergebnisse dem vom Gesetz angestrebten Ziel eines existenzsichernden Mindestbedarfs entspricht. Es befremdet in der Tat, wenn sich für volljährige Schüler ein geringerer Bedarf errechnet, als er für die nur etwas jüngeren Geschwister gelten soll. Insofern gibt es gute Gründe, nicht allein auf den sozialrechtlichen Mindestbedarf abzustellen, zumal der Gesetzgeber mit der Privilegierung des § 1603 Abs. 2 Satz 2 BGB von vergleichbaren Lebensverhältnissen der noch in der Schulausbildung befindlichen Kinder ausgegangen ist. Dies rechtfertigt es, an dem – ohnehin schon erhöhten – Bedarf der 3. Altersstufe festzuhalten. Wer aber ungeachtet der veränderten Bezugsgrößen die bisherige Praxis eines um nochmals 8 % erhöhten Tabellensatzes beibehalten will, muss schon begründen, weshalb erst diese Berechnung zum existenznotwendigen Barbedarf führt. Man kann der Meinung sein, dass Jugendliche und junge Erwachsene einen höheren Wohnbedarf haben als Kleinkinder und entsprechendes auch für den persönlichen Schulbedarf gelten solle. Persönliche Überzeugungen eignen sich jedoch ebenso wenig für eine sachbezogene Begründung wie der Verweis auf eine über allen Instanzen hinweg unverändert praktizierte Rechtsprechung. Vielmehr wären die einzelnen Positionen anhand empirisch belegter Werte konkret zu beziffern.

Für den Bedarf minderjähriger Kinder bezieht sich das Gesetz explizit auf die Maßstäbe und Methoden des Existenzminimumberichts. Dieser entspricht sachlich den „sozialrechtlichen Grundsätzen“, auf die sich die Rechtsprechung auch ansonsten zur Bemessung von Mindestbedarf und Selbstbehalt stützt. Weshalb sollen diese Grundsätze allein beim Unterhalt für volljährige Kinder nicht gelten?

Alle Jahre wieder …

… kommt in der Vorweihnachtszeit die neue Düsseldorfer Tabelle. Dass die notwendigen Anpassungen regelmäßig in den Dezember fallen, folgt aus der Agenda des Gesetzgebers, der über wichtige Rahmendaten wie Existenzminimumbericht, Kinderfreibeträge und Regelbedarfe erst in den letzten Wochen des Jahres entscheidet. Zwar gab es schon einen Mindestunterhalt für 2023; die offensichtlich notwendige Korrektur der ein Jahr zuvor getroffenen Prognose folgte jedoch erst mit der 5. Änderungsverordnung v. 30.11.2022 (BGBl. I, 2130). Die Zeiten, in denen Tabellenwerte mehrere Jahre überdauerten, sind schon lange vorbei und die Überlegung des Gesetzgebers zur letzten Neufassung des § 1612a BGB, für jeweils zwei Jahre einen einheitlichen Mindestbedarf vorzugeben, haben sich von Anfang an als nicht praktikabel erwiesen.

Wer sich näher mit dem System der aktuellen Düsseldorfer Tabelle beschäftigt, kommt an der Erkenntnis nicht vorbei, dass diese durch die inflationäre Preisentwicklung des vergangenen Jahres an ihre Grenzen stößt. Der im Verhältnis zu den Vorjahren ungewöhnlich starke Anstieg des Kindesbedarfs und der Selbstbehaltssätze war angesichts der weit überproportional gestiegenen und noch weiter steigenden Lebenshaltungskosten keine Überraschung. Mit dem Kinderfreibetrag erhöhte sich der Mindestunterhalt um 10,3 %; die damit verbundene höhere Zahllast wird durch die Anhebung des Kindergeldes auf 250 € nur etwas gedämpft. Während diese Zahlen in etwa der Inflationsrate entsprechen, war beim notwendigen Selbstbehalt mit rund 18 % eine deutlich stärkere Anhebung zu verzeichnen. Hier wirken drei Faktoren zusammen: Neben dem allgemein höheren Lebensbedarf sind dies der nach 17 Jahren erstmals um 50 € (die lediglich den seither eingetretenen Kaufkraftverlust ausgleichen) angehobene Freibetrag für Erwerbstätige und die erheblich steigenden Wohnkosten. Der damit einhergehende sprunghafte Anstieg des Eigenbedarfs deckt auf, wie sehr sich die Gerichte in den letzten Jahren mit einer Anpassung der Selbstbehaltssätze zurückgehalten haben – oder anders ausgedrückt, die Unterhaltspflichtigen spürbare Einschränkungen in ihrer Lebensführung hinnehmen mussten. Für alle Beteiligten wäre es einfacher und überzeugender, wenn Unterhaltsbedarf und Eigenbedarf jeweils gleichzeitig und in kleineren Schritten an die sich ändernden Lebensumstände angepasst würden.

Nun gibt es nur ein Einkommen, aus dem die Bedarfe von Berechtigten und Verpflichteten aufgebracht werden müssen. Steigen diese, wird die Verteilungsmasse bei gleichbleibendem Einkommen kleiner. Dabei zeigen sich deutliche Risse in einer Tabellenstruktur, die immer noch davon ausgeht, sich am Bedarf für zwei Unterhaltsberechtigte zu orientieren. Wer nachrechnet, muss feststellen, dass er unter Wahrung des notwendigen Selbstbehalts der Mindestunterhalt nur aufgebracht werden kann, wenn für zwei Kinder der ersten Altersstufe ein Einkommen von wenigstens 2.000 € zur Verfügung steht und es 2.300 € sein müssen, sobald beide Kinder das 12. Lebensjahr erreicht haben. Dies alles fällt schon in den Bereich der zweiten Einkommensgruppe. Ein höherer Kindesbedarf kommt ohnehin erst dann in Betracht, wenn dem Pflichtigen selbst der angemessene Bedarf verbleibt (BGH v. 27.10.2021 – XII ZB 123/21, FamRB 2022, 51). Damit kann es selbst bei Einkommen aus der dritten Einkommensgruppe noch beim Mindestunterhalt verbleiben.

Unter diesen Umständen eignet sich die Tabelle in ihrem Hauptanwendungsbereich der kleinen und mittleren Einkommen nicht mehr, um unmittelbar den nach der Lebensstellung angemessenen Kindesbedarf abzulesen. Die vorstehend skizzierten Probleme dürften sich im kommenden Jahr noch verschärfen, da mit weiter steigenden Bedarfssätzen zu rechnen ist. Wenn die Gerichte sich nicht zeitnah um eine Neustrukturierung der Tabelle und ihrer Anwendungsgrundsätze bemühen, laufen sie Gefahr, eines ihrer wichtigsten Werkzeuge aus der Hand zu geben.

Mindestunterhaltsverordnung zum Dritten

Ab heute ist es offiziell: Es gibt eine „Dritte Verordnung zur Änderung der Mindestunterhaltsverordnung“ (VO v. 3.11.2020, BGBl. I, 2344).

Es deutete sich schon im August mit der Bekanntgabe der (vorläufigen) neuen Regelbedarfe an, mit der Veröffentlichung des 13. Existenzminimumberichts wurde es dann im September offensichtlich: Die sozialrechtlichen Bedarfe für Kinder sind von einem Jahr zum nächsten sehr viel stärker gestiegen, als es bei der Festsetzung des Mindestunterhalts für 2021 prognostiziert worden war. Der Grund dafür sind die im Frühsommer publizierten Daten der jüngsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS 2018), die dann noch einmal gemäß der Lohn- und Preisentwicklung fortgeschrieben werden mussten.

Das Ergebnis ist ein für Kinder steuerfrei zu stellendendes Existenzminimum von 5.412 Euro in 2021, also 541 Euro im Monat und damit 17 Euro mehr als in der zweiten Änderungsverordnung festgesetzt worden war. Eine so hohe Abweichung forderte eine Reaktion des Gesetzgebers heraus, der den Mindestunterhalt außerhalb des durch § 1612a Abs. 4 BGB vorgegeben Turnus an diese aktuelle Entwicklung angepasst hat. Der Mindestunterhalt wird sich daher ab Januar 2021 auf 393/451/528 Euro belaufen. Bei einem um mehr als 6% höheren Unterhalt handelt es sich um eine erhebliche Steigerung in einer Zeit, in der nicht wenige Arbeitnehmer mit den Folgen der Pandemie belastet sind. Daher ist es nur ein schwacher Trost, dass es zum Januar eine mit 15 Euro ebenfalls überproportionale Erhöhung des Kindergeldes geben wird. Diese genügt nicht, um den erhöhten Bedarf vollständig zu decken. Statt wie erwartet nahezu gleichbleibender Zahlbeträge ist beim Mindestunterhalt mit einer um 16,50 bis 23,50 Euro höheren Zahllast zu rechnen.

Neben diesen unterhaltsrechtlichen Folgen gibt es noch einen weiteren bemerkenswerten Gesichtspunkt. Der Anstieg der Regelbedarfe erfolgt keineswegs gleichförmig über alle Altersstufen. Vielmehr bleibt der Bedarf bei den 6 bis 13 Jahre alten Kindern praktisch unverändert, während bei den jüngeren und älteren Kindern (Regelbedarfsstufen 4 und 6) ein sprunghafter Anstieg von jeweils mehr als 13% zu verzeichnen ist. Daraus ergibt sich das paradoxe Ergebnis, dass der Bedarf von Jugendlichen noch über dem Bedarf der jungen Erwachsenen liegt, die als Schüler weiterhin im Elternhaus leben. Solche unerklärlichen Abweichungen sind geeignet, erneut Zweifel an einer sachgerechten Bemessung der existenznotwendigen Regelbedarfe zu nähren. Immerhin hat das BVerfG schon 2014 Bedenken hinsichtlich der Stichhaltigkeit der festgesetzten Beträge geäußert und auf die Gefahr einer Unterdeckung hingewiesen (BVerfG v. 23.7.2014 – 1 BvL 10/12, FamRZ 2014, 1765). Der Ruf nach grundlegenden Korrekturen dürfte lauter werden.

Corona-Krise zum Zweiten …

… nein, nicht die befürchtete zweite Infektionswelle rollt auf uns zu, sondern das 2. Paket steuerlicher Hilfsmaßnahmen durchläuft im Eiltempo das Gesetzgebungsverfahren. Nachdem der Regierungsentwurf am 12. Juni auf den Weg gebracht wurde, soll das Gesetz in Sondersitzungen von Bundestag und Bundesrat am 29. Juni beschlossen werden, um am 1. Juli 2020 in Kraft zu treten.

Neben einer Reihe steuerrechtlicher Detailfragen sind es vor allem drei Gesetzesänderungen, die Familien aufhorchen lassen. Diese betreffen

  • die angekündigte Senkung der Umsatzsteuer von 19 % auf 16 % sowie von 7 % auf 5 % beim ermäßigten Satz. Die Umsatzsteuer wird befristet vom 1. Juli 2020 bis zum 31. Dezember 2020 gesenkt. Davon verspricht sich die Regierung einen kräftigen Impuls bei den Konsumausgaben. Die Hoffnung ist nicht ganz unberechtigt, weil die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen diese Mittel in der Regel vollständig für den laufenden Lebensunterhalt verbrauchen und sie daher durch Verbrauchssteuern überproportional belastet sind. Ob sich der gewünschte Erfolg wirklich einstellt, hängt aber nicht allein vom Verbrauchsverhalten ab, sondern auch davon, ob sich die Senkung des Steuersatzes in entsprechend ermäßigten Preisen niederschlägt.
  • den sog. Kinderbonus von 300 €, der in zwei Raten von jeweils 150 € im September und Oktober 2020 ausgezahlt werden soll, sofern im September 2020 ein Anspruch auf Kindergeld besteht. Die Leistung wird aber auch dann erbracht, wenn die Anspruchsvoraussetzungen zumindest in einem Monat des Jahres 2020 vorgelegen haben – nur erfolgt die Auszahlung dann möglicherweise verzögert und in einem Betrag. Auch von dieser Leistung verspricht sich die Regierung einen mit der Steuersenkung vergleichbaren Effekt. Für die unterhaltsrechtlichen Folgen ist wesentlich, dass es sich bei diesen Zahlungen um ein erhöhtes Kindergeld handelt und diese auch steuerlich so behandelt werden. Die Bezeichnung als Kinderbonus oder Einmalbetrag ändert hieran nichts. Denn die Regelung findet sich in der Vorschrift zur Höhe des Kindergeldes (§ 66 Abs. 1 Satz 2 EStG bzw. § 6 Abs. 3 BKGG), weshalb § 1612b Abs. 1 BGB unmittelbar anzuwenden ist. Besondere Vorschriften zur Nichtberücksichtigung gibt es lediglich bei mehreren Sozialleistungen und beim Unterhaltsvorschuss. Insofern ist die Rechtslage mit dem 2009 ausgezahlten Kinderbonus vergleichbar (s. AG Offenburg FamRZ 2009, 2014; Diehl, FamRZ 2009, 932).
  • den für zwei Jahre (2020, 2021) um 2.100 € erhöhte Entlastungsbetrag für Alleinerziehende (§ 24b EStG). Dieser bewirkt abhängig von dem individuellen Steuersatz eine zusätzliche steuerliche Entlastung zwischen 35 € und 75 € und ein entsprechend höheres Monatseinkommen. Die Erhöhungsbetrag von jeweils 240 € für das zweite und weitere Kinder bleibt unverändert erhalten.

Bei den schrittweise eingeführten Lockerungen beginnt sich allmählich ein Gefühl von Normalität einzustellen. Gleichwohl sollten wir nicht vergessen, dass sich die Welt unverändert im Krisenmodus befindet und wir von einem „Normalzustand“ noch weit entfernt sind. Daher hat das Motto „gemeinsam schaffen wir es“ auch im Familienrecht weiterhin seine Berechtigung. Die aktuellen Gesetzesänderungen mögen nicht ohne Folgen für den Unterhalt sein; an die Stelle streng schematischer Berechnungen sollte daher gleichwohl die Suche nach maßgeschneiderten Modellen treten, die den tatsächlichen Lebensverhältnissen aller Beteiligten gerecht werden.

Hier kommen Sie zum Regierungsentwurf: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Gesetzestexte/Gesetze_Gesetzesvorhaben/Abteilungen/Abteilung_IV/19_Legislaturperiode/Gesetze_Verordnungen/2020-06-12-Zweites-Corona-Steuerhilfegesetz/0-Gesetz.html

Unterhalt in der Krise oder die Krise im Unterhalt

„Das Corona-Virus ist in aller Munde“ – sehr doppeldeutig beginnt das Merkblatt einer Arztpraxis zu den Verhaltensregeln anlässlich der Covid-19-Pandemie. Zum Glück gilt dies nur im übertragenen Sinn, betrifft aber längst nicht mehr nur medizinische Aspekte. Inzwischen hat ein mit bloßem Auge unsichtbares Virus alle Bereiche des öffentlichen Lebens fest im Griff und spart auch das Familienrecht nicht aus. Sehr plastisch führt uns die Schließung von Schulen und Kitas vor Augen, welch hohen Stellenwert gesicherte Betreuungsarrangements für Kinder im Alltag haben. Daran schließen sich sehr praktische Fragen an: Lässt sich ein getrennt lebender Elternteil in die Kinderbetreuung einbinden, ist ein Wechselmodell noch praktikabel oder welche Folgen hat die verordnete Einschränkung sozialer Kontakte auf einen vereinbarten Umgang? Sehr schnell spürbar wurden für viele Betroffene auch die wirtschaftlichen Folgen der Krise, die sich zugleich unmittelbar auf die Unterhaltspflichten auswirken. Längst erreichen die Jugendämter zahlreiche Anfragen – von Unterhaltspflichtigen, die den Unterhalt nicht mehr aufbringen können, ebenso wie von Alleinerziehenden, die dringend auf Unterstützung angewiesen sind.

Laufende Unterhaltspflichten werden regelmäßig aufgrund einer Prognose festgelegt, die an das in der Vergangenheit bezogene Einkommen anknüpft. Dahinter steht die unausgesprochene Erwartung, dass sich diese Verhältnisse im Wesentlichen unverändert fortsetzen. Nun stehen wir plötzlich vor der Situation, dass diese jahrzehntelang nicht unrealistische Erfahrung für große Gruppen der Bevölkerung nicht mehr zutrifft. Welches Einkommen kann ein Gastwirt erzielen, der seinen Betrieb zunächst noch für einige Stunden offen halten durfte und dem infolge der nächsten Schließungsverfügung von einem Tag auf den anderen auch die letzten Einnahmen wegbrechen. In vielen anderen Branchen – Dienstleistungen, Luftfahrt, Touristik, Kulturbetriebe bis hin zu sozialen Diensten und Einrichtungen – sieht es nicht besser aus. Eine große Zahl von Arbeitnehmern ist bereits in Kurzarbeit, anderen droht die Arbeitslosigkeit. Das Einkommen sinkt dadurch auf 60 % bzw. 67 % des früheren Nettoverdienstes, während viele Kosten wie Miete, Versicherungen und Kreditbelastungen unverändert weiterlaufen. Dieses Szenario ist längst real – für wen, in welcher Weise und zu welchem Zeitpunkt es sich wieder ändern wird, ist noch lange nicht abzusehen. Zwar bringt die Bundesregierung große Hilfspakete auf den Weg, um die Folgen für die unmittelbar Betroffenen abzumildern. Erleichterungen beim Bezug von Wohngeld, Kurzarbeitergeld, Kinderzuschlag sowie ALG II, Zuschüsse an Selbständige und ein erweiterter Kündigungsschutz von Wohnraum können die wirtschaftlichen Belastungen zwar abmildern, aber nicht alle Einkommenseinbußen kompensieren. In all diesen Fällen erweist sich urplötzlich eine den Unterhaltspflichten zugrunde liegende Einkommensprognose als unzutreffend. Sollen die bisherigen Unterhaltspflichten nicht zu einem weiteren Schuldenberg anwachsen, sind bestehende Titel an die veränderten Verhältnisse anzupassen.

Anders als bei vertraglich begründeten Zahlungspflichten ist die Leistungsfähigkeit des Pflichtigen eine notwendige Voraussetzung für den gesetzlichen Unterhaltsanspruch. Vermindert sich das verfügbare Einkommen, sinkt die Unterhaltspflicht oder entfällt vollständig. Den Maßstab dafür bilden nicht mehr unterhaltsrechtliche Formeln und Pauschalen, sondern die realen wirtschaftlichen Verhältnisse des einzelnen Betroffenen. Denn dieser hat sich mit seiner Lebensführung abhängig von der bestehenden Unterhaltspflicht eingerichtet. In einer breite Bevölkerungskreise unvorbereitet treffenden und vielfach als existenzbedrohend erlebten Krise sind keine kurzfristigen Änderungen im persönlichen Lebensumfeld zu erwarten. Vielmehr sind die vorgefundenen Verhältnisse als gegeben hinzunehmen und allen unterhaltsrechtlichen Beurteilungen zugrunde zu legen.

Aus der früheren Rechtsprechung (Brandenburgisches OLG v. 12.1.1995 – 9 UF 90/94, FamRZ 1995, 1220; OLG Dresden v. 25.11.1997 – 10 WF 455/97, FamRZ 1998, 767) genährte Überlegungen, vorübergehende Einkommensrückgänge könnten in den ersten Monate einer Kurzarbeit überbrückt werden, sind ebenso realitätsfremd wie die Annahme, bei selbständiger Tätigkeit ließen sich mehrmonatige Umsatzeinbußen einige Monate später noch aufholen. Im Unterhalt gilt das Liquiditätsprinzip – d.h. die Zahlung muss aus dem laufenden Einkommen möglich sein. Ist dies nicht der Fall, sind auch kurzfristige Veränderungen zu beachten und können zu einem – möglicherweise auch nur vorübergehenden – Wegfall des Anspruchs führen.

Auch wenn alle hoffen, dass die Krise nicht allzu lange andauern möge, weiß noch niemand, wie sich Auftragslage und Arbeitsmarkt nach einer Rückkehr zum gesellschaftlichen Normalzustand entwickeln werden. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir derzeit eine weltweite Krisensituation durchleben, für die es keine Erfahrungswerte gibt und deren langfristigen Folgen sich nicht prognostizieren lassen. Daher folgt aus der Einkommenskrise des Einzelnen die notwendige Reaktion beim Unterhalt.

Aber auch für diese Anpassung gibt es keine unterhaltsrechtlich verlässlichen Erfahrungswerte. So werden derzeit eine ganze Reihe von Unterstützungsmaßnahmen installiert, die teils den betrieblichen Sektor, teils auch die private Lebenssituation betreffen und zudem Familien mit Kindern in besonderer Weise begünstigen sollen. Deren Wirkungen und Dauer lassen sich aktuell noch nicht überblicken, wie sich auch noch nicht absehen lässt, wann sich die Verhältnisse wieder stabilisieren werden. Bei diesem unsicheren Terrain ist es nicht zielführend, sich auf kleinteilige Unterhaltsberechnungen nach den bekannten unterhaltsrechtlichen Schemata einzulassen. Gefragt sind vielmehr Verständnis für die tatsächliche Lebenssituation der jeweils anderen Seite sowie die Bereitschaft, sich kreativ mit flexiblen Lösungen auseinanderzusetzen. Dabei lassen sich in einem – mit dem gebotenen Abstand geführte – persönlichen Gespräch schneller pragmatische, maßgeschneiderte Lösungen erreichen, als in einer ganzen Reihe gerichtlicher Abänderungsverfahren.

Angehörigen-Entlastungsgesetz passiert Bundesrat

Im Koalitionsvertrag hatten die Regierungsparteien verabredet, von einem Rückgriff gegenüber Kindern von pflegebedürftigen Eltern bis zu einem Einkommen von 100.000 Euro abzusehen. Der erst im Sommer vorgelegte Gesetzesentwurf ist über dieses Ziel weit hinaus gegangen und erweitert den Regressausschluss auf alle Leistungen des SGB XII. Dass die Neuregelung zudem noch (ausgenommen sind nur die Hilfen zum Lebensunterhalt für minderjährige Kinder) alle Ansprüche auf Kindesunterhalt einschließt, ist besonders bemerkenswert. Die parlamentarische Beratung dauerte kaum mehr als zwei Monate. In dieser Zeit gab es in der Sache kaum einen Widerspruch. Dass das Anfang November mit großer Mehrheit angenommene Gesetz auch die Zustimmung des Bundesrates finden würde, war gleichwohl nicht sicher. Zwar hatte der Sozialausschuss die Zustimmung empfohlen, der Finanzausschuss sich hingegen für eine Anrufung des Vermittlungsausschusses ausgesprochen. Dies ist aufgrund der absehbaren Mehrbelastungen für die Landes- und Kommunalhaushalte verständlich. Umso erleichterter können die von der Neuregelung unmittelbar Betroffenen sein, dass der Bundesrat auf ein Vermittlungsverfahren verzichtet und mit einer Entschließung nur eine nochmalige Prüfung der allzu optimistischen Folgenabschätzung eingefordert hat.

In der Öffentlichkeit werden die praktischen Konsequenzen des Gesetzes vor allem unter dem Aspekt des Unterhalts für pflegebedürftige Eltern wahrgenommen (lesen Sie dazu den Blog-Beitrag von Rechtsanwalt Jörn Hauß). Es beseitigt endlich einen Wertungswiderspruch zwischen den Leistungen der sozialen Grundsicherung und den im Pflegefall erbrachten Hilfen, der den Betroffenen kaum zu vermitteln und bereits Gegenstand eines Petitionsverfahrens war. Seine Folgen reichen jedoch sehr viel weiter, da es vor allem auch die Eltern behinderter Kinder von zusätzlichen Verpflichtungen entlasten will. Das Gesetz verlagert ganz bewusst die finanzielle Verantwortung für Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung auf die staatliche Solidargemeinschaft. Obwohl sich am Wortlaut des § 2 SGB XII nichts ändert, gilt das Dogma vom Nachrang der Sozialhilfe künftig nicht mehr. Die angestrebte Entlastung von finanzieller Verantwortung erleichtert die Fortführung der in den Wechselfällen des Lebens aus persönlicher Verbundenheit praktizierten familiären Solidarität, ohne sie als rein finanzielle Leistung auch dann noch zu erzwingen, wenn vom Familienverband nicht mehr geblieben ist, als eine inhaltsleere Hülle.

Welche weiteren Folgen eine so umfassende Umgestaltung des traditionellen Hilferechts auslösen wird, lässt sich noch nicht übersehen. Die unmittelbaren Auswirkungen für die vom Elternunterhalt bereits jetzt betroffenen Kinder liegen aber schon jetzt auf der Hand:

Liegt der Gesamtbetrag der Einkünfte unter 100.000 Euro, gehen die nach dem SGB XII erbrachten Sozialleistungen vom 1. Januar 2020 an nicht mehr auf den Leistungsträger über, während es bis zu diesem Zeitpunkt bei der bisherigen Rechtslage verbleibt. Zu beachten ist zudem, dass es künftig allein auf die Einkommensverhältnisse des unterhaltspflichtigen Kindes ankommt. Eigenes Vermögen und Einkommen des Ehegatten haben auf den Anspruchsübergang keinen Einfluss. Besteht bereits ein Titel über den laufenden Unterhalt, sollte der Leistungsträger zu einem Verzicht auf die Rechte aus diesem Titel aufgefordert werden.

Auch für die rund 5 % der Bevölkerung, die ein über dem Grenzbetrag liegendes Einkommen erreichen, wird sich einiges ändern – die bisherigen Maßstäbe des Unterhaltsrechts sind Makulatur. Denn der Zweck des Gesetzes, Familien wirksam zu entlasten und den Familienfrieden zu wahren, darf nicht dadurch in sein Gegenteil verkehrt werden, dass bei einem nur geringfügig höheren Einkommen ein geringerer Betrag für die eigene Lebensführung verbleibt, als einem Pflichtigen mit geringerem Einkommen zugestanden wird. Das Gesetz legt einen Bruttobetrag zugrunde, aus dem sehr unterschiedliche Nettoeinkommen folgen können. Der angemessene Eigenbedarf für einen Alleinstehenden dürfte jedoch nicht unter 4.500 Euro sinken – allerdings ohne dessen Verwendung im Regelfall zu überprüfen. Dies erspart die vielfach als unwürdig und unangebracht empfundene Kontrolle und Bewertung der Lebensführung des Unterhaltspflichtigen. Überlegungen, ob der Aufwand für das Auto zu hoch ausfällt, die Kosten einer Implantatversorgung noch angemessen sind oder die Haltung eines Reitpferds bereits den Luxusaufwendungen zuzurechnen sei, sollten daher der Vergangenheit angehören.

Wie sich die Rechtsprechung zu den wenigen verbliebenen Fällen des Elternunterhalts verhalten wird, lässt sich unter diesen weitreichenden Veränderungen nicht vorhersagen. Sicher ist aber, dass solche Veränderungen nicht in der Düsseldorfer Tabelle für 2020 berücksichtigt werden konnten und die Gesetzesänderungen im Angehörigen-Entlastungsgesetz die dort genannten Beträge überholt hat.

23. Deutscher Familiengerichtstag beendet

Am 21. September 2019 endete der 23. Deutsche Familiengerichtstag. Weil die Tagung aufgrund fehlender Kapazitäten nicht in der seit Jahrzehnten vertraut nüchternen Atmosphäre der Hochschule des Bundes stattfinden konnte, musste nach einer anderen Tagungsstätte gesucht werden. Diese fand der Familiengerichtstag in der farbenfrohen, lebhaften Welt des Phantasialandes. Es ist der zentrale Anziehungspunkt für Familien in Brühl und erwies sich auch unter diesem Aspekt als ein guter Ort für die Veranstaltung.

Etliche Attraktionen des Parks führen die Besucher an Grenzerfahrungen heran und zwingen sie immer wieder, vermeintlich Vertrautes auch aus anderen Perspektiven zu betrachten. Daraus ergeben sich ganz zwanglos vielfältige Assoziationen zum Familienrecht, wie sie uns die Vorsitzende des Deutschen Familiengerichtstags, VorsRi’inOLG Prof. Dr. Isabell Götz, in ihrem kurzweiligen Eröffnungsantrag vorgestellt hat. Wie ein Leitfaden zog sich durch diesen Vortrag ihr Petitum für die in vielen Bereichen des Familienrechts notwendigen Reformen, die weit über bloße Randkorrekturen hinausreichen müssen. Hieran schloss sich der fulminante Festvortrag von Prof. Dr. Anne Sanders an. Unter dem Titel „Woher – Wohin? Familien(recht) im Wandel“ stellte sie uns die Geschichte einer Familie vor, anhand derer sie die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten 100 Jahre sehr plastisch nachzeichnete, um dann zum Abschluss einen Blick in die Glaskugel auf zukünftige Veränderungen zu wagen. So ergab sich ein gelungener Auftakt zu einer durchgehend in guter Stimmung verlaufenden Tagung.

Die folgenden Fachvorträge von Prof. Dr. Eva Möhler zu „§ 1631b BGB in der Kinder- und Jugendpsychiatrie“ und DirAG Andreas Frank über „Verwirkung im Familienrecht“ schlossen die beiden folgenden, arbeitsintensiven Tage ab. Den Schlusspunkt der Tagung bildete der Vortrag von PD Dr. Martin Rettenberger, der die Teilnehmer am Samstagvormittag mit den schwierigen Problemen einer „Risikoeinschätzung beim Kindesmissbrauch“ vertraut machte und sehr anschaulich die Möglichkeiten und Grenzen statistisch fundierter Aussagen vor Augen führte.

Wie gewohnt hatten sich zuvor 24 Arbeitskreise intensiv mit den unterschiedlichsten Themen des Familienrechts befasst und Thesen zu notwendigen Entwicklungen in der Rechtspraxis sowie gesetzlichen Veränderungen erarbeitet. Diese Arbeitsergebnisse sind bereits auf der Homepage des DFGT  veröffentlicht. Die Thesen der Arbeitskreise bilden wiederum die Grundlage für die Empfehlungen des Vorstandes für Rechtsprechung, Verwaltung und Gesetzgebung, die dieser demnächst erarbeiten wird. Alle Vorträge und Arbeitsergebnisse werden zudem im Tagungsband, den Brühler Schriften zum Familienrecht, veröffentlicht. Dieser wird voraussichtlich im 1. Quartal 2020 im Gieseking Verlag erscheinen.

Der 24. Deutsche Familiengerichtstag wird 2021 stattfinden. Allerdings sind Ort und Datum bis auf weiteres noch ungewiss. Die Ankündigung wird sobald wie möglich auf der Homepage des DFGT bekannt gegeben. Termin und Programm des 24. DFGT werden auch rechtzeitig im FamRB veröffentlicht.

22. Deutscher Familiengerichtstag beendet

Am 1. Juli endete der 22. Deutsche Familiengerichtstag. Es war eine besondere Tagung zu einem ungewohnten Sommertermin, der mit dem 40. Jahrestag des 1977 in Kraft getretenen 1. Eherechtsreformgesetzes zusammenfiel. Am 30. Juni passierte auch das Gesetz über die „Ehe für Alle“ den Bundestag – ein Ereignis, welches zum Wochenbeginn noch niemand so erwartet hatte. Die musikalisch durch Hits aus vier Jahrzehnten aufgelockerte Eröffnungsveranstaltung mit vier kurzen Beiträgen von Prof. Siegfried Willutzki, Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Schwab, Prof. Dr. Katharina Hilbig-Lugani und Rechtsanwältin Eva Becker zu Vergangenheit und Zukunft des Familienrechts und den abschließenden Statements von vier Kindern zu ihrem ganz eigenen Familienbild war ein gelungener Auftakt zu einer durchgehend in guter Stimmung verlaufenden Tagung.

Zwei weitere hochkarätige Vorträge von Prof. Dr. Michael Coester über „Konflikte von Erziehungsleitbildern“ und von Prof. Dr. Mathias Rohe zur „Paralleljustiz im Familienrecht“ schlossen die beiden folgenden, arbeitsintensiven Tage ab. Den Schlusspunkt der Tagung bildete der fulminante Vortrag des Leiters der Kölner Rechtsmedizin, Prof. Dr. Markus Rothschild, der die Teilnehmer am Samstagvormittag auf sehr lebhafte, unterhaltsame Weise über „Die Familie im Blick der Rechtsmedizin“ informierte.

Wie gewohnt hatten sich zuvor 24 Arbeitskreise intensiv mit den unterschiedlichsten Themen des Familienrechts befasst und Lösungsvorschläge erarbeitet. Diese Arbeitsergebnisse sind bereits auf der Homepage des DFGT veröffentlicht. Diese Thesen bilden die Grundlage für die Empfehlungen des Vorstandes für Rechtsprechung, Verwaltung und Gesetzgebung, die dieser demnächst erarbeiten wird. Alle Vorträge und Arbeitsergebnisse werden zudem im Tagungsband, den Brühler Schriften zum Familienrecht, veröffentlicht. Dieser wird voraussichtlich im 1. Quartal 2018 erscheinen.

Der 23. Deutsche Familiengerichtstag wird 2019 wieder in Brühl stattfinden. Sobald der genaue Termin feststeht, wird dieser unverzüglich auf der Homepage des DFGT bekannt gegeben. Termin und Programm des 23. DFGT werden auch rechtzeitig im FamRB veröffentlicht.