Straßburg locuta – causa finita (EuGH v. 17.9.2020 – C-5/18)

Im Elternunterhalt war unklar und streitig, ob der Sozialhilfeträger, der Sozialhilfeleistungen an eine pflegebedürftige Person erbringt, den ausschließlich im Ausland ansässigen Unterhaltspflichtigen auch vor dem Wohnsitzgericht der unterhaltsberechtigten Person im Inland auf Unterhalt in Anspruch nehmen kann oder ob am Wohnsitzgericht der unterhaltspflichtigen Person im Ausland Klage zu erheben sei.

Der EuGH hat diese Frage nun dahin gehend abschließend entschieden, dass auch ein Sozialhilfeträger den auf ihn übergegangenen Unterhaltsanspruch am Wohnsitzgericht der unterhaltsbedürftigen Person geltend machen kann, wenn die unterhaltspflichtige Person im Inland keinen Wohnsitz hat (EuGH v. 17.9.2020 – C-5/18).

Das ist eine schlechte Nachricht für all diejenigen, die hofften, die Sozialhilfeträger würden den Unterhaltsanspruch gegen sie im Ausland nicht geltend machen, weil sie die sprachlichen Hürden, die deutlich höheren Gebühren der Anwälte im Ausland und das Unverständnis der ausländischen Justiz gegenüber dem deutschen Recht scheuten.

Gut ist indessen, dass die Frage nunmehr entschieden ist.

Angehörigen-Entlastungsgesetz tritt zum 1.1.2020 in Kraft

Alle Kinder pflegebedürftiger Eltern können aufatmen. Der Bundesrat hat dem Angehörigen-Entlastungsgesetz zugestimmt. Die Konsequenzen sind erfreulich:

  • Es kommt zukünftig für die Heranziehung von Kindern zum Elternunterhalt weder auf deren Vermögen noch auf das Einkommen des Schwiegerkindes an.
  • Ab 1.1.2020 können alle Kinder, deren Jahreseinkommen unter 100.000 € brutto liegt, die Unterhaltszahlungen für ihre Eltern einstellen. Lediglich in den Fällen, in denen eine gerichtliche Entscheidung zur Zahlung laufenden Unterhalts ergangen ist, sollten die betroffenen Kinder dem Sozialhilfeträger die Einstellung der Zahlung schriftlich ankündigen und auf Bestätigung durch den Sozialhilfeträger beharren, keinen Unterhalt mehr zu schulden.
  • Lediglich in den Fällen, in denen ein Sozialhilfeträger aus einer erteilten Einkommensauskunft des unterhaltspflichtigen Kindes weiß, dass das Einkommen des Kindes über 100.000 € liegt, besteht die Unterhaltsverpflichtung eventuell fort.
    • Allerdings wird in diesen Fällen die Unterhaltsverpflichtung reduziert, weil die Leitlinienkonferenz der Oberlandesgerichte den Selbstbehalt bereits vor Verabschiedung dieses Gesetzes heraufgesetzt hat (statt wie bisher 1.800 €/ 3.240 €). Die Leitlinienkonferenz der Oberlandesgerichte konnte jedoch noch nicht das Inkrafttreten des Gesetzes berücksichtigen, weil zum Zeitpunkt der Sitzung der Leitlinienkonferenz das Inkrafttreten des Gesetzes zum 1.1.2020 noch ungewiss war.
    • Da aber der Gesetzgeber mit den Angehörigen-Entlastungsgesetz deutlich gemacht hat, dass er eine Heranziehung von Kindern zum Elternunterhalt dann für unangemessen hält, wenn das Einkommen des Kindes unter 100.000 € pro Jahr liegt, ist der unterhaltsrechtliche Selbstbehalt an diese Grenze ab 1.1.2020 anzupassen. Unterhaltsrechtlich ist das Nettoeinkommen maßgeblich. Es erscheint daher aus heutiger Betrachtung ein Selbstbehalt von 4.500 – 4.700 € für das Kind und von etwa 8.100 € bei Zusammenleben Verheirateter angemessen. Die Anhebung des unterhaltsrechtlichen Selbstbehalts auf dieses Niveau sichert, dass nicht nur sozialrechtlich eine 100.000 €-Grenze besteht, sondern diese Grenze angemessen unterhaltsrechtlich abgebildet wird.
  • Da das Gesetz eine gesetzliche Vermutung enthält, dass das Einkommen unterhaltspflichtiger Angehöriger die Grenze von 100.000 € nicht übersteigt, entfällt für die Zeit ab 1.1.2020 auch eine unterhaltsrechtliche und sozialrechtliche Auskunftsverpflichtung. In den Fällen, in denen ein Sozialhilfeträger aus einer vor 2020 erfolgten unterhaltsrechtlichen Auskunft keine positive Kenntnis über ein Überschreiten der Einkommensgrenze hat, können allenfalls „hinreichende Anhaltspunkte“ aus Presse, Funk und Fernsehen, der Angehörigkeit zu einer bestimmten einkommensstarken Berufsgruppe (Vorstandsvorsitzender eines DAX-Konzerns) für ein Überschreiten der Jahreseinkommensgrenze herangezogen werden. Lediglich in diesen Fällen wird das Kind noch Auskunft über die Höhe seines Einkommens zu erteilen haben.

Wir haben uns in der Vergangenheit sehr intensiv mit dem Elternunterhalt auseinandergesetzt und dazu beigetragen, dass der Elternunterhalt von Sozialhilfeträgern und der Rechtsprechung halbwegs sozialverträglich ausgestaltet worden ist. Wir haben uns seit mehr als zwei Jahren intensiv darum bemüht, das jetzt vollzogene Gesetzesvorhaben zu unterstützen. Wir haben immer vertreten, dass es eine berechtigte Erwartungshaltung von Bürgern ist, dass ein Sozialstaat seine Bürger vor unverantworteten Risiken in Schutz nimmt. Niemand kann etwas für Behinderung und Krankheit von Angehörigen. Deshalb ist es gut, dass vor diesem – gesellschaftlich zu verantwortenden – Risiko dass Angehörigen-Entlastungsgesetz weitgehenden Schutz bietet. Lesen Sie zum Thema auch den Blog-Beitrag von VorsRiOLG a.D. Heinrich Schürmann, der auch die über den Elternunterhalt hinausreichenden Folgen im Sozialrecht beleuchtet.

Angehörigen-Entlastungsgesetz passiert Bundesrat

Im Koalitionsvertrag hatten die Regierungsparteien verabredet, von einem Rückgriff gegenüber Kindern von pflegebedürftigen Eltern bis zu einem Einkommen von 100.000 Euro abzusehen. Der erst im Sommer vorgelegte Gesetzesentwurf ist über dieses Ziel weit hinaus gegangen und erweitert den Regressausschluss auf alle Leistungen des SGB XII. Dass die Neuregelung zudem noch (ausgenommen sind nur die Hilfen zum Lebensunterhalt für minderjährige Kinder) alle Ansprüche auf Kindesunterhalt einschließt, ist besonders bemerkenswert. Die parlamentarische Beratung dauerte kaum mehr als zwei Monate. In dieser Zeit gab es in der Sache kaum einen Widerspruch. Dass das Anfang November mit großer Mehrheit angenommene Gesetz auch die Zustimmung des Bundesrates finden würde, war gleichwohl nicht sicher. Zwar hatte der Sozialausschuss die Zustimmung empfohlen, der Finanzausschuss sich hingegen für eine Anrufung des Vermittlungsausschusses ausgesprochen. Dies ist aufgrund der absehbaren Mehrbelastungen für die Landes- und Kommunalhaushalte verständlich. Umso erleichterter können die von der Neuregelung unmittelbar Betroffenen sein, dass der Bundesrat auf ein Vermittlungsverfahren verzichtet und mit einer Entschließung nur eine nochmalige Prüfung der allzu optimistischen Folgenabschätzung eingefordert hat.

In der Öffentlichkeit werden die praktischen Konsequenzen des Gesetzes vor allem unter dem Aspekt des Unterhalts für pflegebedürftige Eltern wahrgenommen (lesen Sie dazu den Blog-Beitrag von Rechtsanwalt Jörn Hauß). Es beseitigt endlich einen Wertungswiderspruch zwischen den Leistungen der sozialen Grundsicherung und den im Pflegefall erbrachten Hilfen, der den Betroffenen kaum zu vermitteln und bereits Gegenstand eines Petitionsverfahrens war. Seine Folgen reichen jedoch sehr viel weiter, da es vor allem auch die Eltern behinderter Kinder von zusätzlichen Verpflichtungen entlasten will. Das Gesetz verlagert ganz bewusst die finanzielle Verantwortung für Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung auf die staatliche Solidargemeinschaft. Obwohl sich am Wortlaut des § 2 SGB XII nichts ändert, gilt das Dogma vom Nachrang der Sozialhilfe künftig nicht mehr. Die angestrebte Entlastung von finanzieller Verantwortung erleichtert die Fortführung der in den Wechselfällen des Lebens aus persönlicher Verbundenheit praktizierten familiären Solidarität, ohne sie als rein finanzielle Leistung auch dann noch zu erzwingen, wenn vom Familienverband nicht mehr geblieben ist, als eine inhaltsleere Hülle.

Welche weiteren Folgen eine so umfassende Umgestaltung des traditionellen Hilferechts auslösen wird, lässt sich noch nicht übersehen. Die unmittelbaren Auswirkungen für die vom Elternunterhalt bereits jetzt betroffenen Kinder liegen aber schon jetzt auf der Hand:

Liegt der Gesamtbetrag der Einkünfte unter 100.000 Euro, gehen die nach dem SGB XII erbrachten Sozialleistungen vom 1. Januar 2020 an nicht mehr auf den Leistungsträger über, während es bis zu diesem Zeitpunkt bei der bisherigen Rechtslage verbleibt. Zu beachten ist zudem, dass es künftig allein auf die Einkommensverhältnisse des unterhaltspflichtigen Kindes ankommt. Eigenes Vermögen und Einkommen des Ehegatten haben auf den Anspruchsübergang keinen Einfluss. Besteht bereits ein Titel über den laufenden Unterhalt, sollte der Leistungsträger zu einem Verzicht auf die Rechte aus diesem Titel aufgefordert werden.

Auch für die rund 5 % der Bevölkerung, die ein über dem Grenzbetrag liegendes Einkommen erreichen, wird sich einiges ändern – die bisherigen Maßstäbe des Unterhaltsrechts sind Makulatur. Denn der Zweck des Gesetzes, Familien wirksam zu entlasten und den Familienfrieden zu wahren, darf nicht dadurch in sein Gegenteil verkehrt werden, dass bei einem nur geringfügig höheren Einkommen ein geringerer Betrag für die eigene Lebensführung verbleibt, als einem Pflichtigen mit geringerem Einkommen zugestanden wird. Das Gesetz legt einen Bruttobetrag zugrunde, aus dem sehr unterschiedliche Nettoeinkommen folgen können. Der angemessene Eigenbedarf für einen Alleinstehenden dürfte jedoch nicht unter 4.500 Euro sinken – allerdings ohne dessen Verwendung im Regelfall zu überprüfen. Dies erspart die vielfach als unwürdig und unangebracht empfundene Kontrolle und Bewertung der Lebensführung des Unterhaltspflichtigen. Überlegungen, ob der Aufwand für das Auto zu hoch ausfällt, die Kosten einer Implantatversorgung noch angemessen sind oder die Haltung eines Reitpferds bereits den Luxusaufwendungen zuzurechnen sei, sollten daher der Vergangenheit angehören.

Wie sich die Rechtsprechung zu den wenigen verbliebenen Fällen des Elternunterhalts verhalten wird, lässt sich unter diesen weitreichenden Veränderungen nicht vorhersagen. Sicher ist aber, dass solche Veränderungen nicht in der Düsseldorfer Tabelle für 2020 berücksichtigt werden konnten und die Gesetzesänderungen im Angehörigen-Entlastungsgesetz die dort genannten Beträge überholt hat.

Das – weitgehende – Ende des Elternunterhalts

Manche Versprechen aus dem Koalitionsvertrag lösen die Koalitionsparteien und die Regierung ein: Mit Datum vom 12.6.2019 veröffentlicht das Arbeitsministerium (BMAS) den „Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung unterhaltsverpflichteter Angehöriger in der Sozialhilfe und in der Eingliederungshilfe“. Hinter dem – im Übrigen erstaunlich verständlichen – Titel verbirgt sich das „Ende des Elternunterhalts“ in seiner bisherigen Form.

Ab 1.1.2020 sollen Kinder nur noch zum Elternunterhalt herangezogen werden können, wenn ihr jährliches Gesamteinkommen 100.000 € brutto übersteigt. Damit wird der Elternunterhalt zum „Wohlhabendenprivileg“ und Millionen Angehörige können aufatmen. Da das Gesetz – wie auch bisher bereits bei der Grundsicherung – die gesetzliche Vermutung enthält, dass Einkünfte der Kinder die Einkommensgrenze nicht übersteigen, muss niemand mehr Auskunft über Einkommen und Vermögen erteilen, ohne dass „hinreichende Anhaltspunkte für ein Überschreiten der Jahreseinkommensgrenze“ vorliegen. Zwar können die Sozialhilfeträger vom bedürftigen Elternteil Angaben verlangen, die Rückschlüsse auf die Einkommensverhältnisse des Kindes erlauben, aber wessen demente Eltern wissen schon um die Einkommensverhältnisse ihrer Kinder. Adresse und Beruf geben nie hinreichende Anhaltspunkte, es sei denn es handelt sich um öffentlich bekannte Gutverdiener, allgemein bekannte hochdotierte Berufe oder der Internetauftritt der unterhaltspflichtigen Person enthält die Pose mit der Protzkarre.

Mehr noch als die wirtschaftliche Entlastung wird diese Gesetzesänderung psychologisch wirken. Es kann mit dem Sozialstaat versöhnen, wenn die Bürger merken, dass dieser gesellschaftliche Risiken, wie Pflegebedürftigkeit im Alter, übernimmt. Mit der Krankenversicherung und der Grundsicherung im Alter ist das gesellschaftlicher Alltag. Nun zieht das Ministerium – und hoffentlich auch Regierung und Parlament – bei der Pflege nach und löst das Sozialstaatsversprechen ein, die Bürger vor unverantworteten Risiken zu schützen und diese solidarisch auf die Gesellschaft zu verteilen. Das ist gut so.

Gut ist auch, dass der Gesetzentwurf nunmehr sämtliche Leistungen des SGB XII der Rückgriffssperre der 100.000-Euro-Grenze unterwirft und diese in § 94 Abs. 1a SGB XII verankert. Damit ist nun auch die „Hilfe zum Lebensunterhalt für Volljährige“ und die „Blindenhilfe“, die „Hilfe zur Gesundheit“ und die „Eingliederungshilfe“ (§§ 53 ff. SGB XII) insoweit rückgriffsfrei, als das Einkommen der unterhaltspflichtigen Person die 100.000-Euro-Grenze nicht übersteigt.

Der Gesetzgeber sollte sich allerdings noch einen Ruck geben: Die 100.000-Euro-Grenze ist im Jahr 2005 eingeführt worden. Wollte man auf die durch diese Grenze markierte Kaufkraft abstellen, wäre die Anhebung auf ca. 125.000 € angezeigt.

Noch besser wäre es freilich, der Gesetzgeber striche den Elternunterhalt vollständig. Kinder sind für ihre Eltern, deren Gesundheitszustand, Einkommens- und Vermögenslage nicht verantwortlich. Ob allein die genetische Beziehung zwischen Eltern und Kindern den Eingriff in deren Einkommen und Vermögen rechtfertigt, erscheint mehr als fragwürdig. Aber dafür wäre nicht das BMAS zuständig, sondern das BMJV.

Das könnte allerdings auch mit einer „kleineren Lösung“ als der Abschaffung des Aszendentenunterhalts auf den „fahrenden Zug“ aufspringen und § 1611 BGB geringfügig verändern. Nach § 1611 Abs. 1 Satz 1 BGB ist die Verwirkung des Unterhaltsanspruch die Sanktion für „schuldhaftes Fehlverhalten der unterhaltsberechtigten gegenüber der unterhaltspflichtigen Person. Was aber, wenn es an „Schuld“ und „Verhalten“ der unterhaltsberechtigten Person fehlt, weil diese psychisch krank war und das Kind deswegen stets in Pflegefamilien und Heimen aufgewachsen ist und keinerlei Kontakt zum Elternteil hatte. Oder was ist mit dem Kind des „One-Night-Stands“, das seinen ihm verheimlichten Vater nie gesehen, aber unterhaltsrechtlich für ihn einzustehen hat? Man könnte ganz einfach den Gedanken von § 1611 Abs. 1 Satz 2 BGB in einen neuen Absatz 2 schreiben:

Eine Verpflichtung, Unterhalt zu zahlen, besteht nicht, wenn die Inanspruchnahme des Verpflichteten grob unbillig wäre.

Absatz 1 beträfe dann die Fälle schuldhaften Verhaltens der unterhaltsberechtigten Person, Absatz 2 löste die Verwirkung aus der Sanktionsfunktion und fokussierte die Situation der unterhaltspflichtigen Person. Rechtsprechung und Verwaltungen wüssten mit einer solchen Öffnung gut und verantwortungsvoll umzugehen.

 

Auf Tuchfühlung mit „Emma“ beim 10. Seniorenrechtstag in Berlin

Am 9. und 10. Mai feiert der Seniorenrechtstag ein kleines Jubiläum – die Kooperationsveranstaltung der ARGE Sozialrecht und der DeutschenAnwaltAkademie findet in diesem Jahr bereits zum 10. Mal statt. Als besonderes Highlight bekommt die Veranstaltung zum Einstieg Besuch aus der Zukunft: Am Donnerstagabend ist u. a. die Gentrorobotik Thema. In diesem Zuge wird der Roboter „Emma“ vorgestellt – in Kleingruppen kann sogar auf Tuchfühlung gegangen werden.

Ein abwechslungsreiches Vortragsprogramm bietet auch der Freitag. Neben Referierenden aus dem rechtlichen Bereich wird es auch ein Grußwort von Monika Paulat geben, der Präsidentin des Deutschen Sozialgerichtstages. Außerdem freuen wir uns über einen spannenden Vortrag zum Thema „Der alte Mensch und das Strafrecht“, den Kriminaloberkommissarin des LKA Berlin Annett Mau halten wird.

Weitere Informationen finden Sie hier.

Schenk dich reich – oder: Verzichte nie auf dein Wohnrecht! (zu BGH v. 17.4.2018 – X ZR 65/17)

Der Sachverhalt ist alltäglich: Im Jahr 1995 übertragen die Eltern ihr Eigenheim an ihre Tochter und behalten sich daran ein lebenslanges Wohnungsrecht vor. 2003 verzichten die Eltern auf das Wohnungsrecht, das im Grundbuch gelöscht wird. Die Tochter vermietet die Wohnung nach dem Tod des Vaters für monatlich 340 € an die Mutter, die im Jahr 2012 in eine Pflegeeinrichtung wechseln muss und seitdem sozialhilfebedürftig ist. Der Sozialhilfeträger macht gegen die Tochter den Rückforderungsanspruch aus § 528 Abs. 1 Satz 1 BGB geltend und verlangt von der Tochter bis zum Tod der Mutter im Jahr 2015 aufgebrachte Sozialhilfeleistungen i.H.v. 22.000 €.

Da zwischen der Schenkung der Immobilie und der Entstehung der Bedürftigkeit der Mutter mehr als zehn Jahre vergangen waren, kommt diese Schenkung als Ansatz für den Rückforderungsanspruch nicht in Betracht (§ 529 Abs. 1 Alt. 2 BGB).

Ansatzpunkt für das Begehren des Sozialhilfeträgers kann daher zunächst nur die im Jahr 2003 erfolgte Löschung des Wohnungsrechts sein. Diese wird von der Rechtsprechung – sofern sie unentgeltlich erfolgt – zu Recht als Schenkung i.S.v. § 516 BGB angesehen. Ihr Wert wird an der Höhe der Wertsteigerung der Immobilie durch Wegfall der dinglichen Belastung bemessen (BGH v. 26.10.1999 – X ZR 69/97, NJW 2000, 728 = MDR 2000, 873; OLG Nürnberg v. 22.7.2013 – 4 U 1571/12, ZEV 2014, 38 = MDR 2014, 22 = ErbStB 2014, 97; Koch in MünchKomm/BGB, 7. Aufl., § 528 Rz. 5 Fn. 26).

Um den Anspruch des Sozialhilfeträgers abzuwehren, könnte man nun auf den Gedanken kommen, die Schenkung herauszugeben, also das Wohnrecht wieder einzuräumen. Dies scheitert indessen daran, dass der Rückforderungsanspruch des verarmten Schenkers lediglich „soweit“ besteht, als er außerstande ist, seinen angemessenen Unterhalt zu bestreiten. D.h. im Umfang des monatlichen Fehlbetrags. Dieser wird durch Wiedereinräumung des Wohnungsrechts indessen nicht realisiert. Das Schenkungsrecht verweist in § 528 Abs. 1 Satz 1 BGB auf das Bereicherungsrecht. Danach hat der Beschenkte, wenn die Herausgabe des Geschenks wegen der Beschaffenheit des Erlangten nicht möglich ist, Wertersatz zu leisten (§ 818 Abs. 2 BGB). Dieser Wertersatzanspruch ist in seiner Höhe begrenzt auf die Höhe der durch die Schenkung verursachten Bereicherung (§ 818 Abs. 3 BGB).

Da die Wiedereinräumung des Wohnungsrechts aus den oben dargestellten Gründen zur Abwehr des Zahlungsanspruchs des Sozialhilfeträgers nicht in Betracht kommt, kommt es auf die Höhe der durch die Löschung des Wohnungsrechts eingetretenen Bereicherung der Tochter an. Das OLG Hamm als Vorinstanz hatte angenommen, die Bereicherung der Tochter werde durch die ihr zukommenden Einkünfte aus Vermietung der Wohnung markiert, da die Tochter die Immobilie nicht veräußert und damit die durch den Wegfall des Wohnungsrechts eingetretene Steigerung des Marktwerts der Immobilie nicht realisiert habe (OLG Hamm v. 17.5.2017 – I-30 U 117/16). Dies hat der BGH nicht gelten lassen. Er stellt vielmehr darauf ab, dass der durch den Wegfall der dinglichen Wohnrechtsbelastung entstehende Wertzuwachs der Immobilie die vermögensrechtliche Bereicherung der Tochter darstellt, die gegebenenfalls von dieser herauszugeben ist.

Damit befindet sich der BGH in völliger Übereinstimmung mit seiner bisherigen Rechtsprechung, die für den Wert einer Schenkung auf die Bereicherung des Beschenkten abstellt und nicht etwa auf den Wert des Geschenks für den Schenker. Beide Werte können massiv differieren. Während das lebenslange Wohnrecht für eine 70-jährige Frau an einer Eigentumswohnung deren Verkehrswert auf Null reduzieren wird, weil bei Annahme einer 18-jährigen Restlebensdauer (nach Generationensterbetafeln des Statistischen Bundesamts DESTATIS) sich für eine solche Wohnung kein Käufer finden wird, kann der Gebrauchsvorteil des Wohnrechts für die berechtigte Person einen beachtlichen Vermögenswert darstellen (bei Annahme eines Rechnungszinses von 4 % und einem monatlichen Gebrauchsvorteil von 500 € wären dies ca. 77.000 €, bei Bewertung nach § 14 Abs. 1 Satz 4 BewG i.V.m. der Tabelle des BMF v. 4.11.2016 – IV C 7 – S 3104/09/10001 DOK 2016/101267, die auch für Bewertungsstichtage ab dem 1.1.2018 anzuwenden ist, ergäbe sich ein Betrag i.H.v. 66.492 €).

Das schwer zu vermittelnde Paradoxon der Entscheidung des BGH besteht nun darin, dass die Mutter durch Aufgabe eines für sie im Zeitpunkt des Eintritts ihrer Bedürftigkeit wertlosen Wohnungsrechts, ihre unterhaltsrechtliche Position deutlich verbessert hat, weil der Grundstückswert durch diesen Wegfall der Belastung einen enormen Anstieg erlebt haben kann, der deutlich oberhalb des Werts des Wohnungsrechts liegen wird. Die unterhaltsbedürftige Person verbessert daher durch Aufgabe eines vermögenswerten Rechts im Wege der Schenkung ihre unterhaltsrechtliche Position deutlich. Der inkongruente Verkehrswert des Wohnrechts für den Berechtigten und den Eigentümer bewirkt eine Besserstellung des Schenkers gegenüber der Situation vor der Schenkung. Es besteht nämlich völlige Einigkeit darüber, dass eine pflegebedürftige Person, die Inhaberin eines Wohnungsrechts ist, dieses aber infolge ihrer Pflegebedürftigkeit nicht ausüben kann, keinen Anspruch auf Zahlung in Höhe des fiktiven Mietzinses hat, weil das Wohnrecht unveräußerbar ist (BGH v.13.7.2012 – V ZR 206/11, FamRZ 2012, 1708).

Der BGH hat die Sache zur Entscheidung an das OLG Hamm zurückverwiesen. Dort kann sich nun die beschenkte Tochter darauf berufen, den Wertersatzanspruch der Mutter nur im Rahmen ihrer unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit erfüllen zu können (§ 529 Abs. 2 BGB). Anstelle des altertümlichen Wörtchens „standesgemäß“ ist nach einhelliger Auffassung „angemessen“ zu lesen. Angemessen ist grundsätzlich der entsprechend familienrechtlich zu berechnende Unterhalt nach elternunterhaltsrechtlichen Gesichtspunkten (Palandt/Weidenkaff, 77. Aufl., § 529 BGB Rz. 3). Ob die unterhaltspflichtige Tochter den Wertersatzanspruch aus Ihrem Vermögen zu erfüllen hat, ist bislang nicht entschieden. Da im Elternunterhalt den Unterhaltspflichtigen ein hohes Altersvorsorgeschonvermögen ein geräumt wird (BGH v. 30.8.2006 – XII ZR 98/04, FamRZ 2006, 1511), scheitert der Zahlungsanspruch des Sozialhilfeträgers möglicherweise an der Notbedarfseinrede der Tochter.

Für die anwaltliche Praxis und die beschenkten Kinder ist indessen als Grundsatz festzuhalten, dass die Aufgabe eines Wohnungsrechts an einer Immobilie zum Bumerang werden kann, wenn die wohnberechtigte Person innerhalb der Revokationsfrist von zehn Jahren sozialhilfe- und damit unterhaltsbedürftig wird.

Blick über den Zaun: Sperrzeit & Liebe (zu LSG Nds.-Bremen v. 12.12.2017 – L 7 AL 36/16)

Familienrecht wird nicht nur durch das Bundesverfassungsgericht und die Familiengerichtsbarkeit beeinflusst. Familienrecht ist überall und deshalb auch im Sozialrecht.

Lovestory:

Die 58-jährige F arbeitet mit einer Wochenarbeitszeit von 20 Stunden als Verkäuferin. Ihr Lebensgefährte, mit dem sie seit zwei Jahren zusammen und seit einem Jahr verlobt ist, wohnt 175 km von ihrem Wohnort entfernt. Aus diesem Grund verbringen die beiden lediglich Wochenenden, Freizeit und Urlaub gemeinsam und versorgen sich bei Krankheit wechselseitig. Um mit ihrem Partner zusammenzuleben, kündigt F ihren Arbeitsvertrag und zieht zu ihm. Zuvor hat sie sich intensiv am Wohnort ihres Freundes – wenn auch vergeblich – um Arbeit bemüht.

Verwaltungsstory:

Die Arbeitsverwaltung reagiert bürokratisch und verhängt gegen sie eine zwölfwöchige Sperrfrist nach § 159 SGB III, da die Begründung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft kein „wichtiger Grund“ zur Kündigung eines bestehenden Arbeitsverhältnisses sei; ein solcher sei aber erforderlich, um von der zwölfwöchigen Sperrung des Arbeitslosengeldes abzusehen. Die Arbeitsverwaltung stellt sich auf den Standpunkt, ein Sperrzeitenschutz der nicht ehelichen Lebensgemeinschaft bestehe erst, wenn ein auf Dauer angelegtes gemeinsames Wohnen mit dem Lebenspartner gegeben sei, weil erst dadurch die Ernsthaftigkeit der Beziehung dokumentiert werde (BSG v. 17.10.2007 – B 11a/7a AL 52/06 R).

Gerichtsstory:

Das Sozialgericht Hannover und das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen folgen diesem moralischen Rigorismus nicht. Der unbestimmte Rechtsbegriff des „wichtigen Grundes“ sei ausgehend von Sinn und Zweck der Vorschrift unter Beachtung der systematischen Einordnung im gesamten Gesetzeswerk inhaltlich auszufüllen. An erster Stelle des Abwägungsvorgangs müsse die Erkenntnis stehen, das die Sperrzeit weder eine Strafvorschrift noch ein Instrument zur Disziplinierung und Durchsetzung von gesellschaftlichen, religiösen oder moralischen Vorstellungen darstelle, sondern nur dem Schutz der Versichertengemeinschaft vor einer Manipulation des versicherten Risikos der Arbeitslosigkeit diene. Vor diesem Hintergrund erscheine es nicht mehr zeitgemäß, sondern zweifelhaft, die Anwendung der Sperrzeitvorschrift bei Arbeitsaufgabe wegen Umzugs bereits im Ansatz an einen familienrechtlichen Status anzuknüpfen. Als wichtige Gründe seien auch andere nicht statusabhängige Gründe anerkannt (gesundheitliche Gründe, Lage am Wohnungsmarkt, Schwangerschaft, Scheidung). Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, die einen Zusammenzug Nichtverheirateter als sperrzeitvermeidenden wichtigen Grund nicht akzeptiere, habe sich überlebt. Die Förderung von Ehe und Familie können nicht mehr durch sozialrechtliche Diskriminierung anderer Lebensentwürfe erfolgen. Zwar habe das Bundessozialgericht entschieden, ein ‚wichtiger Grund‘, der ein Absehen von der Sperrfrist ermögliche, sei die Aufrechterhaltung einer verfestigten nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Diese Rechtsprechung sei jedoch nicht mehr zeitgemäß. Dem statusrechtlich bedeutsamen Verlöbnis sei kein sozialrechtliches Gewicht beizumessen. Entscheidend sei allein, ob die Partnerschaft nach außen erkennbar eine solche Dauerhaftigkeit und Kontinuität zeige, die von einem gegenseitigen Verantwortungsbewusstsein geprägt sei, dass diese in der Abwägung gegenüber den Interessen der Versichertengemeinschaft Vorrang genieße. Ein vorheriges gemeinsames Wohnen sei kein unerlässliches Kriterium.

Happy End:

Der auch im Familienrecht diskutierte Gedanke, die Förderung von Familie nicht an den Status der Ehe zu binden, beginnt auch im Sozialrecht Fuß zu fassen. Der Staat hat Lebensentwürfe seiner Bürger unabhängig von ihrem rechtlichen Status zu fördern und jegliche Diskriminierung zu unterlassen. Schließlich geht es um die Wahrung der persönlichen Bindungen der Bürger, völlig unabhängig davon, wie diese Bindungen und Beziehungen verrechtlicht sind. Wenn nichteheliche Lebensgemeinschaften niemandem schaden, können sie auch gefördert werden. Nur sollte man sie nicht übereifrig verrechtlichen. Viele Lebensgemeinschaften entstünden dann gar nicht erst.

Neuauflage: Schürmann, Sozialrecht für die familienrechtliche Praxis

Schürmann, Sozialrecht für die familienrechtliche Praxis, Gieseking 2016, FamRZ-Buch 42, ca. 450 Seiten, 59 €, ISBN: 978-3-7694-1165-2.

Der Flug von Boston nach Düsseldorf dauert alles in allem 7 Stunden. Normalerweise schlafe ich im Flugzeug. Diesmal nicht. Das Buch von Heinrich Schürmann hält mich wach und beunruhigt mich, weil es gravierende Lücken meiner sozialrechtlichen Kenntnisse aufdeckt und fast im gleichen Moment schließt. Auf rund 450 Seiten stellt Schürmann das für den Familienrechtlicher erforderliche sozialrechtliche Handwerkszeug zusammen.

Ich bewundere stets Profihandwerker, die ohne einen 3-maligen Ausflug in den Baumarkt eine Steckdose montieren können und das dazu erforderliche Handwerkszeug übersichtlich in einem kleinen Beautykoffer bereithalten. So ist es auch bei Schürmann. In fünf großen Kapiteln behandelt er die Leistungen des Sozialstaates zur Sozialversicherung (Arbeitsförderung, Kranken- und Pflegeversicherung, Renten- und Unfallversicherung), zur Familienförderung (Mutterschafts-, Eltern- und Kindergeld, Jugendhilfe, Wohngeld, Ausbildungsförderung, Unterhaltsvorschuss und Entschädigungsrecht), zur Existenzsicherung (Grundsicherung für Arbeitssuchende, Kinderzuschlag, Sozialhilfe) sowie den Regress des Sozialhilfeträgers. Für Familienrechtler bleibt keine Lücke.

Sorgfältig wird die Darstellung der einzelnen Leistungen mit einer historischen Vorstellung, der Angabe von Rechtsgrundlagen und Zuständigkeiten und weiterführenden Literaturangaben eingeleitet. Teilweise wird auch der Text einer Leistungsnorm wiedergegeben. Der Autor weiß, dass Juristen zwar Normen anwenden, sie aber ungern lesen.

Heinrich Schürmann ist Praktiker. Deshalb wird die Lektüre nicht langweilig. Leistungen und deren Voraussetzungen sind oft in übersichtlichen Tabellen zusammengestellt, das beschleunigt den Zugriff. Da die Übersichten aber nicht allein stehen, sondern durch Texte und teilweise Berechnungsbeispiele erläutert werden, liegt es in der Hand des Lesers, die Kenntnis eines Wertes abzugreifen oder das System einer Leistung verstehen zu wollen. Wenn letzteres der Fall ist, wird ihm der Text gefallen, da er juristisch exakt, aber auch dem eiligen Leser zugängig ist.

Im Zeitalter elektronischer Medien ist dem Buch, besonders dem Fachbuch, oft ein elender Tod vorausgesagt worden. Im Printmedium wird der durch die Verlinkung entstehende Vorteil des elektronischen Mediums durch Index und Querverweise kompensiert. Beides bietet das Buch in Premiumqualität. Man vermisst die elektronische Buchversion daher nicht. Des Lesers Wunsch ist allerdings des Autors Fluch. Bei der elektronischen Version erwartet der Konsument eine immerwährende Aktualität. Diese zu liefern ist für einen Autor quälend. Deswegen hoffe ich als Leser, dass das Buch regelmäßig neu aufgelegt und dadurch aktualisiert wird, auch ganz ohne Elektronik. Zusammengefasst: 5 „Likes“ für das Buch, das jedem Familienrechtler Pflichtlektüre sein müsste.