Ko-Autor:
Ludwig Bull, LL.B. (Cambridge)
CourtQuant
Der Einsatz künstlicher Intelligenz zur Ermittlung von Entscheidungsfaktoren der Konfliktlösung
Ein Gespenst geht um in der Voraussage des Ausgangs rechtlicher Konflikte. In den letzten zwanzig Jahren haben verschiedene Studien belegt, dass es möglich ist, das Ergebnis rechtlicher Konfliktlösungsverfahren anhand statistischer Muster vorauszusagen. In den Jahren 2002 bis 2003 schlug eine relativ einfach programmierte künstliche Intelligenz einige der besten US-amerikanischen Rechtsexperten in der Voraussage von Urteilen des US Supreme Court. Der Computer sagte 75 % der Entscheidungen richtig voraus, während die Rechtsexperten nur in 59,1 % der Fälle richtiglagen. Im Jahr 2017 erzielte die künstliche Intelligenz in einem Experiment, an dem beide Autoren beteiligt waren, die bisher höchste Voraussagegenauigkeit. Für die menschlichen Berater wiederholte sich jedoch das Debakel in dem in London ausgerichteten öffentlichen Wettbewerb. Bei der Voraussage von Entscheidungen der Ombudsstelle für Finanzdienstleistungen erzielten mehr als 100 Wirtschaftsanwälte nur eine Trefferquote von 62,3 %, während die künstliche Intelligenz mit einer Genauigkeit von 86,6 % triumphierte. Es ist bemerkenswert, dass die künstliche Intelligenz in beiden Wettbewerben keine Informationen über das anwendbare Recht hatte. Zwei weitere Studien, eine zu Voraussagen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2016, eine weitere zur Prognose von Urteilen des US Supreme Court aus dem Jahr 2017, untermauerten die Stärke der künstlichen Intelligenz in der Fallvoraussage.
In unserem, in der Oktober-Ausgabe der ZKM (5/2018, 165 ff.) erscheinenden Beitrag unternehmen wir eine systematische Einordnung dieser Experimente und erläutern ihre Implikationen für die Theorie der Konfliktlösung. Wir entwickeln die These, dass zwei verschiedene Falltypen bzw. Datensets zu unterscheiden sind. Bei der ersten Gruppe handelt es sich um eher technische Fälle mit einer rechtlich eindeutigen Antwort. Hier gelingt es Rechtsexperten, die Ergebnisse genau zu prognostizieren. Die künstliche Intelligenz kann hier (mindestens) mithalten, jedoch nur, wenn genügend ähnliche Fälle in großer Zahl zur Analyse bereitstehen. Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um eher komplexe Fälle mit unklarem rechtlichen Ausgang. Hier kommen Rechtsexperten nicht zu einer eindeutigen Prognose, weil sich das Ergebnis nicht mit hinreichender Klarheit aus den Tatsachen und dem anwendbaren Recht ergibt. Die künstliche Intelligenz ist hier besonders prognosestark. Dafür spielt unserer Meinung nach der Umstand eine Rolle, dass der Ausgang solch komplexer Fälle in stärkerem Maße von Umständen beeinflusst wird, die nicht rechtlich-technischer Art sind. Das sind insbesondere Präferenzen der Entscheidungsträger, die sich etwa aus politischen Anschauungen, Sozialisierung und individueller Rechtskonzeption ergeben. Eine künstliche Intelligenz kann solche Präferenzen sehr gut analysieren und voraussagen. Den Rechtsexperten fällt dies eher schwer.
Dieser differenzierende Ansatz, der zwischen technischen und komplexen Falltypen unterscheidet, erlaubt eine konsistente Interpretation der vorliegenden Studien. Der Ansatz gibt außerdem einige Denkanstöße zur Beantwortung der durch die Studien aufgeworfenen Fragen. Davon sei nur eine genannt: Wie ist es mit unserem Rechtsverständnis zu vereinbaren, dass eine Maschine die Ergebnisse komplexer Rechtsstreitigkeiten ohne Kenntnis des anwendbaren Rechts besser voraussagt als hoch spezialisierte menschliche Experten? Nicht zuletzt wollen wir mit unserem Beitrag eine Diskussion darüber anregen, wie der Erfolg künstlicher Intelligenz bei der Voraussage der Ergebnisse rechtlicher Konfliktlösung einzuschätzen ist und wie künstliche Intelligenz zur Analyse der Entscheidungsfaktoren eingesetzt werden kann.