Die türkische Rechtsanwältin Sida Yıldız, Mitglied der Vereinigung freiheitlicher Juristinnen und Juristen (ÖHD), äußert in einem Interview mit der Nachrichtenagentur ANF deutliche Kritik an den Plänen des türkischen Justizministeriums, eine obligatorische Mediation in Familiensachen – insbesondere bei Scheidungen – einzuführen. Sie warnt davor, dass diese Maßnahme Frauen in der Türkei strukturell benachteiligen und faktisch zum Schweigen bringen könnte.
Politischer Kontext und rechtliche Entwicklungen
Justizminister Yılmaz Tunç hatte angekündigt, durch die Einführung einer sogenannten „Familienmediation“ Scheidungsverfahren zu verkürzen und gerichtliche Belastungen zu reduzieren. Diese Initiative steht im Kontext einer breiteren Reformagenda, die bereits zur Ausweitung der Pflichtmediation auf Miet-, Nachbarschafts- und Erbschaftsstreitigkeiten geführt hat (vgl. Gesetz Nr. 6325 über Mediation in Zivilstreitigkeiten).
Parallel dazu sorgte die Generaldirektion für Religionsangelegenheiten (Diyanet) mit einer öffentlichkeitswirksamen Infragestellung des gesetzlichen Erbrechts von Frauen für Kritik. Yıldız sieht hierin eine besorgniserregende Tendenz zur Aushöhlung frauenrechtlicher Errungenschaften im türkischen Zivilrecht.
Kritikpunkte aus Sicht der juristischen Praxis
Yıldız betont, dass Mediation in Scheidungsfällen nicht als neutraler Raum wahrgenommen werden könne. Vielmehr bestehe die Gefahr, dass Frauen in einem strukturell unsicheren Setting unter Druck gesetzt würden, auf rechtlich zustehende Ansprüche – etwa auf Vermögensaufteilung oder Sorgerecht – zu verzichten. Sie berichtet aus ihrer beruflichen Praxis, dass Mandantinnen häufig beschämt oder sozial sanktioniert würden, wenn sie ihre Erbrechte geltend machen. Die vorgeschaltete Pflichtschlichtung in Erbsachen verstärke diesen Druck zusätzlich.
Besonders kritisch sieht Yıldız die Tatsache, dass Mediation in der Türkei bislang nicht durch ein flächendeckendes Schutzkonzept für vulnerable Parteien flankiert wird. Es fehle an qualifiziertem Fachpersonal mit gendersensibler Ausbildung, an Sicherheitsvorkehrungen in Sitzungen und an klaren Ausschlusskriterien bei Gewaltvorgeschichte. Sie verweist auf Fälle, in denen es während Mediationsverfahren zu schweren Übergriffen gekommen sei – bis hin zu Tötungsdelikten.
ADR-Fachliche Einordnung
Die geplante Einführung einer verpflichtenden Familienmediation in der Türkei wirft grundlegende Fragen zur Freiwilligkeit, Parität und Schutzbedürftigkeit im Mediationsverfahren auf. Während ADR-Mechanismen international als entlastende und versöhnliche Instrumente gelten, zeigt das Beispiel Türkei, dass ihre Implementierung ohne rechtsstaatliche und menschenrechtliche Standards kontraproduktiv wirken kann.
Yıldız fordert daher nicht nur eine Rückbesinnung auf die Stärkung der gerichtlichen Infrastruktur, sondern auch den Wiedereintritt der Türkei in die Istanbuler Konvention, die einen völkerrechtlichen Rahmen zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt bietet.
Quelle: https://deutsch.anf-news.com v. 27.08.2025
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