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Hervorstehendes Gehwegpflaster als Stein des Anstoßes: Das OLG Hamm zu den Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht gegenüber Fußgängern

Dr. Adolf Rebler  Dr. Adolf Rebler
Oberregierungsrat

Unebenes Pflaster als „Stolperfalle“: gar kein seltener Fall

Es ist wohl jedem schon passiert: man geht – oder schlendert – dahin, oft in Gedanken versunken, da stößt man mit den Fuß auf einen (mehr oder minder leicht) hervorstehenden Pflasterstein. Meist geht es ja gut (und man schimpft über sich selbst, weil man nicht besser auf den Weg geachtet hat). Tatsächlich scheint die Stolperfalle Pflaster gar nicht so selten aufgestellt zu sein: Recherchen im Internet ergeben jedenfalls ohne Aufwand pressewirksame Fälle  aus Lohr am Main (2013), Ebrach (2016), Ratingen (2016), Germering (2019) oder Meschede (2019).

OLG Hamm: Urt. v. 16.10.2019 – 11 U 72/19

Auch in einem jüngst vom OLG Hamm entschiedenen Fall wurde ein hervorstehender Pflasterstein einer Passantin zum Verhängnis. Die damals 64jährige Klägerin fiel im August 2017 auf dem Alten Markt in Bochum-Wattenscheid hin und brach sich dabei mehrfach den linken Oberarmknochen.

Sie warf der beklagten Stadt vor, ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt zu haben, weil sie einen 4 bis 5 cm über das Straßenniveau hinausragenden Pflasterstein, der nicht ohne weiteres erkennbar war, nicht beseitigt hat. Die Stadt dagegen berief sich darauf, dass sie die Pflasterung und den Plattenbelag auf dem Alten Markt regelmäßig (einmal pro Woche) durch geschultes Personal überprüfen lasse.

Das LG Bochum hatte die Klage mit Urt. v. 7.6.2019 – 5 O 338/18 abgewiesen und dies im Wesentlichen damit begründet, dass es nicht darauf ankomme, in welcher Höhe der Pflasterstein herausgestanden habe, weil die beklagte Stadt den Markplatz jedenfalls ausreichend kontrolliert habe.

Die Berufung der Klägerin gegen dieses Urteil war nicht erfolgreich. Zwar bestünden – so das OLG Hamm – keine Zweifel daran, dass die Klägerin zur angegebenen Zeit an der angegebenen Stelle über einen hochstehenden Pflasterstein gestolpert sei und sich durch den Sturz eine Fraktur des linken Oberarmknochens zugezogen habe. Auch sei klar, dass dieser Pflasterstein eine Gefahrenstelle dargestellt habe, die zu beseitigen gewesen sei. Dennoch hafte die beklagte Stadt nicht, weil sie ihre Kontrollpflicht nicht verletzt habe. Dabei müsse eine Stadt oder Gemeinde allerdings Straßen und Wege auf ihrem Gebiet überprüfen, um neue Schäden oder Gefahren zu erkennen und die erforderlichen Sicherungsmaßnahmen zu treffen. Hierzu gehöre es, die Straßen und Wege – in Abhängigkeit von ihrer Verkehrsbedeutung – regelmäßig zu beobachten und in angemessenen Zeitabschnitten zu befahren oder zu begehen. Nicht verlangt werden könne aber, dass eine Straße oder ein Weg ständig völlig frei von Mängeln und Gefahren sei, da sich ein solcher Zustand nicht erreichen lasse. Diesen Anforderungen habe die beklagte Stadt genügt, indem sie rund fünf Tage vor dem Unfall die spätere Unfallstelle bei einer ihrer wöchentlichen Kontrollen noch durch einen Straßenbegeher habe überprüfen lassen. Für eine nicht ausreichende Kontrolle der Wegstrecke bestünden keine Anhaltspunkte. Der Pflasterstein könne sich auch kurz vor dem Unfall der Klägerin gelockert haben. Die Ungewissheit bezüglich der Ursache und dem Zeitpunkt der Lockerung gehe zu Lasten der insoweit beweispflichtigen Klägerin.

Der Kontext der Entscheidung

Wer sein Grundstück der Öffentlichkeit zugänglich macht, muss auch dafür sorgen, dass die Benutzung ohne Gefahren möglich ist – er hat eine Verkehrssicherungspflicht. Ausgangspunkt für die Anerkennung von Verkehrssicherungspflichten ist die Überlegung, dass ein Geschädigter grundsätzlich nur dann Ansprüche hat, wenn seine Rechtsgüter aktiv durch Handlungen eines Anderen verletzt wurden. Nur in Ausnahmefällen kann ein Unterlassen zum Schadensersatz verpflichten, nämlich dann, wenn eine Pflicht zum Handeln bestand. Eine solche (Verkehrssicherungs-)Pflicht ergibt sich daraus, dass der Verfügungsberechtigte seine Gefahrenquelle beherrscht und deshalb auch entsprechende Vorkehrungen für eine (möglichst) gefahrlose Benutzung zu sorgen hat.

Die praktisch völlige Gefahrlosigkeit von Straßen oder Plätzen kann allerdings mit zumutbaren Mitteln nicht erreicht und deshalb vom Verkehrssicherungspflichtigen nicht verlangt werden. Die Verkehrssicherungspflicht geht deshalb auch nicht weiter, als dass der Verpflichtete in geeigneter und zumutbarer Weise diejenigen Gefahren auszuräumen hat oder gegebenenfalls vor ihnen warnen muss, die der „normale“ Verkehrsteilnehmer nicht erkennen kann und auf die er sich auch nicht einstellen muss. Es werden also nur die Vorkehrungen geschuldet, die im Rahmen der berechtigten Sicherheitserwartungen des in Betracht kommenden Verkehrs im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren geeignet sind, Gefahren von den Verkehrsteilnehmern abzuwehren.

Die Rechtsprechung zu „Stolperfallen“

Fußgänger etwa müssen kleinere Mängel des Pflasters in Form von Unebenheiten hinnehmen, weil sie sich durch eine entsprechende Gehweise darauf einrichten können. Sind die Unebenheiten vom Fußgänger nicht mehr zu beherrschen, muß der Verkehrssicherungspflichtige sie beseitigen (OLG Thüringen, Urt. v. 29.7.1997 – 3 U 1464/96, juris). Eine Erhebung von lediglich 1,2 cm hat der BGH nicht als Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht angesehen (BGH, Urt. v. 13.7.1989 – III ZR 122/88, MDR 1989, 1084). Unter Berücksichtigung des Gesamtbilds wurde bei einem Gehweg eine Unebenheit von 2 cm als hinnehmbar angesehen (OLG Hamm v. 2208.1989 – 9 U 318/88, VersR 1991, 1415). Allgemein kann einem Fußgänger, wenn keine besonderen Umstände hinzukommen, eine Unebenheit von 2 cm zugemutet werden (OLG Celle, Urt. v. 23.12.1997 – 9 U 120/97, MDR 1998, 1031). Ein Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht liegt aber vor, wenn ein Pflasterstein auf von Fußgängern benutzten Verkehrsräumen mehr als 4 cm über das sonstige Niveau hinausragt (OLG Karlsruhe, Urt. v. 22.12.1989 – 14 U 159/88,  MDR 1990, 722). Bei scharfkantigen Unebenheiten können bereits Höhenunterschiede von mehr als 2 cm vom Verkehrssicherungspflichtigen die Beseitigung dieses Zustands verlangen (OLG Hamm v. 18.7.1986 – 9 U 328/85, VersR 1988, 467 f.; OLG Hamm v. 7.5.1993 – 9 U 227/921, VersR 1993, 1030; ebenso OLG Köln v. 21.11.1991 – 7 U 52/91, VersR 1992, 355, für eine 2,5 cm hohe Aufkantung). Besteht die Gefahr einer Ablenkung durch Schaufenster kann bereits eine Vertiefung von 1,5 cm für den Fußgänger unzumutbar sein (BGH v. 27.10.1966 – III ZR 132/65, MDR 1967, 387).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Verkehrssicherungspflichtige gehalten ist, Straßen und Wege in einem Zustand zu erhalten, der verhindert, dass durch Schadstellen Verkehrsteilnehmer gefährdet werden. Dieser Pflicht trägt die Gemeinde Rechnung, indem sie Straßen, Wege und Gehwege regelmäßigen Kontrollen unterzieht und Schadstellen ausbessert (zum Ganzen: LG Essen, Urt. v. 12.05.2005 – 4 O 370/04, juris)

Mehr zum Autor: Dr. Adolf Rebler ist Regierungsrat der Regierung der Oberpfalz in Regensburg. Er gehört zum festen Autorenteam der MDR.

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