Kann bald der inländischen Verbraucher seinen deutschen Reiseveranstalter an seinem Firmensitz verklagen?

Das Landgericht Mainz hat am 16. Juli 2020 in der Rechtssache C-317/20, BeckEuRS 2020, 652467 ein Vorabentscheidungsersuchen zum EuGH eingereicht mit der Frage, ob Artikel 18 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Brüssel Ia-VO) dahingehend auszulegen sei, dass die Vorschrift neben der Regelung der internationalen Zuständigkeit auch eine durch das entscheidende Gericht zu beachtende Regelung über die örtliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte in Reisevertragssachen trifft, wenn sowohl der Verbraucher als Reisender als auch sein Vertragspartner, der Reiseveranstalter, ihren Sitz im gleichen Mitgliedsstaat haben, das Reiseziel aber nicht in diesem Mitgliedsstaat, sondern im Ausland liegt (sog. „unechte Inlandsfälle“), mit der Folge, dass der Verbraucher vertragliche Ansprüche gegen den Reiseveranstalter in Ergänzung nationaler Zuständigkeitsvorschriften an seinem Wohnsitzgericht einklagen könne?

Möglicherweise steht den Reiseveranstaltern ein Paradigmenwechsel hinsichtlich des Gerichtsstandes bevor. Der für die Anwendung der Zuständigkeitsregeln der Brüssel Ia-VO notwendige Auslandsbezug könne sich möglicherweise auch aus dem Erfüllungsort einer Pauschalreise im ausländischen Mitgliedsstaat oder Drittstaat ergeben. Wenn also z. B. ein Pauschalreisender aus München bei seinem Reiseveranstalter mit Sitz in Hannover eine Reisepreisminderung einklagen möchte, will das LG Mainz geklärt haben, ob der Verbraucher seine vertraglichen Ansprüche gegen seinen Reiseveranstalter sowohl am Sitz in Hannover als auch an seinem Wohnsitz in München einklagen könne.

Die EU-Kommission schlägt in ihrer Stellungnahme vom 8.12.2020 vor, diese Frage zu bejahen, obwohl die bisher ganz herrschende Meinung in der Rechtsprechung und der reiserechtlichen Literatur einen solchen Verbrauchergerichtsstand am Wohnort des Reisenden abgelehnt hat (vgl. Führich, Reiserecht, 7. Aufl. 2015, § 4 Rn. 9, ff. 11 m.w. Nachw. Die Kommission ist der Auffassung, dass sich der Gerichtsstand bei solchen unechten Inlandsfällen „ausschließlich“ nach der Brüssel Ia-VO richte und die nationalen Zuständigkeitsvorschriften der §§ 12 ff. ZPO auch nicht subsidiär gelten, sondern durch das vorrangige EU-Recht verdrängt würden. Werde also ein Pauschalreisevertrag zwischen zwei inländischen Vertragspartnern grenzüberschreitend erfüllt mit z.B. einem Flug nach Mallorca und einem dortigen Hotelaufenthalt oder einer Kreuzfahrt mit verschiedenen ausländischen Hafenanlandungen sei die Brüssel Ia-VO vorrangig heranzuziehen (so bisher Staudinger in Führich/Staudinger, Reiserecht, 8. Aufl. 2019, § 4 Rn. 2 m.w.Nachw.).

Ich habe nach wie vor erhebliche Zweifel, ob die Internationalität einer Pauschalreise durch eine ausländische Destination als Zielgebiet ausreicht, den für die Brüssel Ia-VO notwendigen Auslandsbezug zu schaffen, außer das anwendbare Kollisionsrecht beruft selbst das ausländische Recht oder den Gerichtsstand wie z. B. bei der Miete eines Ferienhauses in der EU nach Art. 24 Nr. 1 Brüssel Ia-VO. Ein normrelevanter Auslandsbezug ist m. E. abzulehnen, wenn ein Reiseveranstalter Teile seiner Reiseleistungen im Ausland zu erbringen hat. Reisevertraglich werden damit keine Rechtsnormen des Zielgebiets angewendet. Auch eine deliktische Handlung im Zielgebiet ist als mögliche Verkehrsicherungspflichtverletzung nicht im Ausland begangen, da es nicht auf den Erfolgsort der Pflichtverletzung ankommt. Eine mögliche Pflichtverletzung eines deutschen Veranstalters ist dem inländischen Management zuzurechnen. Letztlich hat auch der deutsche Gesetzgeber einen zusätzlichen Verbrauchergerichtsstand nach Art. 18 der Brüssel Ia-VO nicht gewollt. Würde man Art. 18 der VO derartig erweiternd auslegen, würde in unzulässiger Weise in die Kompetenz des nationalen Gesetzgebers in Berlin eingegriffen werden. Die ZPO kennt bis heute keinen allgemeinen Verbrauchergerichtsstand. Eine Ausnahme ist nur Art. 225 VVG mit einem Verbrauchergerichtsstand in Versicherungssachen (Führich in Führich/Staudinger, Reiserecht, § 30 Rn. 27). Mit einer solchen Auslegung des Art. 18 der Brüssel Ia-VO würden fast alle deutschen Regelungen des Gerichtsstands der §§ 12 ff. ZPO ihres Anwendungsbereichs beraubt (Führich, Reiserecht, 7. Aufl. 2015, § 4 Rn. 11 m. w. Nachw.).

Prof. Dr. Ernst Führich

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