Dass das Gericht die Vorlage des beA-Nachrichtenjournals eines Parteivertreters anordnen darf, wenn Zweifel an der Richtigkeit des in einem Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatums bestehen, hat das OLG München bereits entschieden (OLG München, Beschluss v. 26.04.2024 – 23 U 8369/21). Nunmehr hat das OLG die Verwerfung der Berufung wegen Nichtwahrung der Berufungsfrist angekündigt (OLG München, Beschluss v. 14.05.2024 – 23 U 8369/21):
Nach erneuter vorläufiger Bewertung des aktuellen Verfahrensstandes erwägt der Senat, die Berufung des Beklagten als unzulässig zu verwerfen, weil die Berufungsfrist nicht gewahrt wurde. Die Berufung ist am 22.11.2021 (Montag) beim OLG München eingegangen. Der Senat geht derzeit davon aus, dass die Berufungsfrist zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufen war, weil dem Beklagtenvertreter das Landgerichtsurteil schon deutlich früher, jedenfalls vor dem 20.10.2021 zugestellt wurde. Die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis (EB) ist gemäß § 174 Abs. 1 ZPO aF (heute: § 173 ZPO) dann als bewirkt anzusehen, wenn der Rechtsanwalt das ihm zugestellte Schriftstück mit dem Willen entgegengenommen hat, es als zugestellt gegen sich gelten zu lassen. Dabei beweist das EB grundsätzlich das in ihm angegebene Zustelldatum. Der Gegenbeweis ist zwar zulässig, setzt aber voraus, dass die Beweiswirkung vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des EB richtig sein können; die bloße Möglichkeit der Unrichtigkeit genügt nicht. Eine erhebliche zeitliche Diskrepanz zwischen dem Zeitpunkt der Übersendung des Dokuments und dem angegebenen Zustelldatum erbringt den Gegenbeweis der Unrichtigkeit des Datums für sich genommen noch nicht. Auch das Datum des Eingangs der elektronischen Nachricht ist insoweit nicht hinreichend aussagekräftig, da dies nicht mit dem Zustelldatum gleichgesetzt werden kann: Für letzteres bedarf es darüber hinausgehend der Kenntniserlangung und empfangsbereiten Entgegennahme seitens des Rechtsanwalts. Gleichzeitig dürfen indes an den Beweis der Unrichtigkeit des EB aufgrund der Beweisnot der beweisführenden Partei keine überspannten Anforderungen gestellt werden.
Nach diesen Grundsätzen könnte hier davon auszugehen sein, dass entgegen dem in dem EB des Beklagtenvertreters vermerkten Zustelldatum die Zustellung des Landgerichtsurteils an ihn bereits deutlich vor dem 22.10.2021 erfolgt ist. Hierfür sprechen die folgenden Aspekte: Der Beklagtenvertreter hat das beA-Nachrichtenjournal zu der Übersendung des Landgerichtsurteils nicht vorgelegt, ohne dies plausibel zu erläutern. Insoweit ist § 427 ZPO entsprechend zu beachten. Der Senat hatte das beA-Nachrichtenjournal angefordert, das ausweist, wann die Nachricht des Landgerichts eingegangen ist und wer sie wann zum ersten Mal geöffnet hat.. In diesem Journal ist danach u.a. gespeichert, wann eine empfangene Nachricht durch einen Benutzer erstmals geöffnet wurde („Gelesen von“-Vermerk). Das Handbuch ist im Internet abrufbar (https://handbuch.bea-brak.de) und wird damit vom Senat als offenkundig behandelt (§ 291 ZPO).
Das von dem Beklagtenvertreter vorgelegte Anlagekonvolut mit Dateiauszügen ist kein Ausdruck dieses beA-Nachrichtenjournals mit der Angabe, wann welcher Benutzer die Nachricht des Landgerichts erstmals geöffnet hat. Letztere Information lässt sich dem Konvolut, das lediglich dokumentiert, wann die Nachricht des Landgerichts vom System des Beklagtenvertreters empfangen wurde, nicht entnehmen. Der Beklagtenvertreter hat bislang nicht erläutert, wieso er dieses Nachrichtenjournal mit der geforderten Angabe auf die Anforderung des Gerichts hin nicht übersandt hat, sondern stattdessen lediglich einen sonstigen Dateiauszug. Das Journal ist für den Postfachinhaber, also den Beklagtenvertreter jederzeit ohne weiteres abrufbar.
Des Weiteren bestätigt der vom Beklagtenvertreter vorgelegte Dateiauszug, dass das am 07.10.2021 an den Beklagtenvertreter per beA übersandte Landgerichtsurteil am 07.10.2021 um 8:34 Uhr zugegangen ist und in der gleichen Minute noch empfangen wurde. Ausweislich des beA-Handbuchs (S. 130) bedeutet dabei Zugang, dass die Nachricht erfolgreich bei dem Intermediär des Empfängers abgelegt wurde. Empfang bedeutet weltergehend, dass das beA-System des Empfängers, hier also des Beklagtenvertreters, die Nachricht erhalten hat und ab da die Nachricht in seinem beA-Postfach sichtbar wird (beA-Handbuch S. 130). Es ist derzeit nicht erkennbar, wieso gleichwohl zwischen dieser Sichtbarkeit der Nachricht im Postfach des Beklagtenvertreters ab 07.10.2021, 8.34 Uhr und dem im EB angegebenen Zustelltag (22.10.2021) mehr als zwei Wochen liegen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass ein Rechtsanwalt gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 1 BRAO schon im Falle einer Verhinderung von mehr als einer Woche für seine Vertretung sorgen muss, die gemäß § 54 Abs. 2. Satz 2 BRAO auch zur Abgabe elektronischer Empfangsbekenntnisse befugt sein muss und also – gleich einem Zustellungsbevollmächtigten – für eine zeitnahe Entgegennahme und Bestätigung von Zustellungen Sorge zu tragen hat. Hinzu kommt, dass der Beklagtenvertreter – gleichfalls bislang ohne Erläuterung – das EB erst unter dem Datum 04.11.2021 gezeichnet und dann erst mit Fax vorn 19.11.2021 (9:41 Uhr) an das Landgericht übersandt hat. nachdem er zuvor bereits dreimal (am 21.10.21, am 4.11.21, am 17.11.21) vom Landgericht dazu gemahnt worden war.
Anmerkung: Die Abgabe des elektronischen Empfangsbekenntnisses setzt die Willensentscheidung des Empfängers voraus, das elektronische Dokument an dem einzutragenden Zustellungsdatum als zugestellt entgegenzunehmen; darin liegt die erforderliche Mitwirkung des Rechtsanwalts, ohne dessen aktives Zutun ein elektronisches Empfangsbekenntnis nicht ausgelöst wird (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2024 – VII ZB 22/23 –, MDR 2024, 519).Die Argumentation des OLG München kann daher nicht überzeugen. Denn dem Rechtsanwalt, dem die Angabe eines (zu späten) Zustelldatums vorgeworfen wird, verbleibt die Möglichkeit, sich darauf zu berufen, das übermittelte Dokument erst zu diesem Datum als zugestellt entgegengenommen zu haben. Der Verstoß gegen Berufspflichten ist zivilprozessrechtlich irrelevant (ausführlich zu der Problematik: Wagner/Ernst, Falsche oder verzögert abgegebene Empfangsbekenntnisse im elektronischen Rechtsverkehr, NJW 2021, 1564).