Anwaltsblog 36/2024: Keine Erweiterung des gesetzlichen Rechtsmittelzuges durch Meistbegünstigungsgrundsatz!

Welche Auswirkungen es auf den Zugang zur Revisionsinstanz hat, wenn Land- wie Oberlandesgericht eine Familiensache als allgemeine Zivilsache behandelt haben, hatte der XII. Zivilsenat zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 10. Juli 2024 – XII ZR 63/23):

 

Die Klägerin ist die geschiedene Ehefrau des Beklagten, den sie nach Veräußerung eines im Miteigentum beider stehenden Grundstücks auf Rückzahlung eines von ihr behaupteten Darlehens in Höhe von 60.000 € in Anspruch nimmt. Während ihrer 2014 geschiedenen Ehe erwarben die Ehegatten zu hälftigem Miteigentum ein Grundstück, das in erster Linie dem Landwirtschaftsbetrieb des Beklagten diente. Zuletzt lasteten darauf zur Absicherung verschiedener Bankkredite, für die auch die Klägerin haftete, Grundschulden von insgesamt 210.000 €. Nach ihrer Trennung im Jahr 2009 verkauften die Parteien 2010 das Grundstück für 120.000 €. Mit dem Verkaufserlös wurden die gemeinschaftlichen Verbindlichkeiten vollständig abgelöst. Die Klägerin wurde aus der Mithaftung und aus einer übernommenen Bürgschaft entlassen. Sie behauptet, mit dem Verkauf zur Entschuldung einverstanden gewesen zu sein, aber darauf bestanden zu haben, „ihren“ Erlösanteil von 60.000 € zu einem späteren Zeitpunkt vom Beklagten ausgezahlt zu erhalten. Einstweilen sollte der Betrag als Darlehen gewährt werden. Nachdem sie vom Finanzamt aufgefordert wurde, Steuern auf ihren Anteil am Gewinn aus dem Grundstücksverkauf zu zahlen, kündigte sie den Darlehensvertrag. Das Landgericht hat den Beklagten verurteilt, an die Klägerin 60.000 € nebst Zinsen zu zahlen. Das OLG hat die Berufung durch Beschluss zurückgewiesen.

Der BGH verwirft die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten als nicht statthaft. Die Vorinstanzen haben die Sache zu Unrecht als allgemeine Zivilsache und nicht als Familiensache behandelt. In Familiensachen ist ein Rechtsmittel gegen die zweitinstanzliche Entscheidung nur gegeben, wenn es – was hier nicht der Fall ist – in dieser Entscheidung zugelassen worden ist (§ 70 Abs. 1 FamFG). Eine Nichtzulassungsbeschwerde sieht das Gesetz nicht vor. Bei dem bisher als allgemeine Zivilsache behandelten Verfahren handelt es sich um eine sonstige Familiensache nach § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG. Danach sind sonstige Familiensachen Verfahren, die Ansprüche zwischen miteinander verheirateten oder ehemals miteinander verheirateten Personen oder zwischen einer solchen und einem Elternteil im Zusammenhang mit Trennung, Scheidung oder Aufhebung der Ehe betreffen. Mit § 266 FamFG hat der Gesetzgeber den Zuständigkeitsbereich der Familiengerichte deutlich erweitert („Großes Familiengericht“). Damit sollten bestimmte Zivilrechtsstreitigkeiten, die eine besondere Nähe zu familienrechtlich geregelten Rechtsverhältnissen aufweisen oder die in engem Zusammenhang mit der Auflösung eines solchen Rechtsverhältnisses stehen, ebenfalls Familiensachen werden. In den Fällen des § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG muss ein Zusammenhang mit Trennung, Scheidung oder Aufhebung der Ehe bestehen. Ein inhaltlicher Zusammenhang liegt vor, wenn das Verfahren vor allem die wirtschaftliche Entflechtung der (vormaligen) Ehegatten betrifft. Bei dieser Prüfung sind nicht nur die tatsächlichen und rechtlichen Verbindungen, sondern ist auch der zeitliche Ablauf zu berücksichtigen. Dabei ist im Hinblick auf die gewünschte möglichst umfassende Zuständigkeit der Familiengerichte für die Beurteilung, ob ein Zusammenhang mit der Beendigung der ehelichen Gemeinschaft besteht, generell ein großzügiger Maßstab anzulegen.

Gemessen daran ist hier vom Vorliegen einer sonstigen Familiensache iSd. § 266 Abs. 1 Nr. 3 FamFG auszugehen, weil der notwendige Zusammenhang zur Trennung und Scheidung der Beteiligten besteht. Das Grundstück, an dessen Verkaufserlös die Klägerin einen Anteil beansprucht, wurde von den Beteiligten während der Ehe zu hälftigem Miteigentum erworben. Der Verkauf des Grundstücks erfolgte kurze Zeit nach der Trennung der Beteiligten. Der Verkaufserlös wurde sogleich von den Beteiligten verwendet, um Verbindlichkeiten zurückzuführen, die sie während der Ehe gemeinschaftlich eingegangen sind. Streitigkeiten wegen eines Gesamtschuldnerausgleichs zwischen Eheleuten im Zusammenhang mit der Trennung oder Scheidung einschließlich möglicher Freistellungsansprüche zählen zu den Verfahren, die typischerweise als sonstige Familiensache zu qualifizieren sind, weil sie regelmäßig die wirtschaftliche Entflechtung der (vormaligen) Ehegatten betreffen. Der notwendige Zusammenhang fehlt auch nicht deshalb, weil die Klägerin den behaupteten Darlehensrückzahlungsanspruch erst im Jahr 2021 geltend gemacht hat, obwohl die Beteiligten sich bereits im Jahr 2009 getrennt haben und ihre Ehe im Jahr 2014 geschieden wurde. Eine feste zeitliche Grenze, ab der ein solcher Zusammenhang nicht mehr besteht, gibt es nicht. Jedenfalls steht die von der Antragstellerin behauptete Darlehensgewährung im Zusammenhang mit der Trennung der Parteien. Das Verfahren dient somit der wirtschaftlichen Entflechtung der mittlerweile geschiedenen Eheleute, so dass eine Entscheidung durch das Familiengericht nicht sachfremd erscheint.

Allerdings dürfen die Verfahrensbeteiligten dadurch, dass das Gericht seine Entscheidung in einer falschen Form erlassen hat, keinen Rechtsnachteil erleiden. Ihnen steht deshalb grundsätzlich sowohl das Rechtsmittel zu, das nach der Art der tatsächlich ergangenen Entscheidung statthaft ist, als auch das Rechtsmittel, das bei einer in der richtigen Form erlassenen Entscheidung zulässig wäre. Der Grundsatz der Meistbegünstigung findet in gleicher Weise Anwendung, wenn – wie hier – das Gericht nach dem von ihm angewandten Verfahrensrecht die Entscheidungsform zwar zutreffend gewählt hat, der Fehler jedoch in der Anwendung eines falschen Verfahrensrechts besteht. Der Schutzgedanke der Meistbegünstigung gebietet es indessen nicht, dass das Rechtsmittel auf dem vom vorinstanzlichen Gericht eingeschlagenen falschen Weg weitergehen müsste; vielmehr hat das Rechtsmittelgericht das Verfahren so weiter zu betreiben, wie dies im Falle einer formell richtigen Entscheidung durch die Vorinstanz und dem danach gegebenen Rechtsmittel geschehen wäre. Aus dem Meistbegünstigungsgrundsatz lässt sich daher nicht herleiten, dass gegen eine inkorrekte Entscheidung auch noch dann ein ihrer äußeren Form entsprechendes Rechtsmittel (hier: die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 544 ZPO) zum BGH statthaft ist, wenn gegen eine korrekte Entscheidung die Anrufung des BGH aus besonderen Gründen des jeweiligen Verfahrens (hier: wegen des Fehlens einer positiven Zulassungsentscheidung nach § 70 Abs. 1 FamFG) nicht statthaft wäre. Gemessen hieran ist ein Rechtsmittel zum BGH nicht statthaft. Formell richtig wäre es gewesen, wenn erstinstanzlich das Familiengericht durch Beschluss entschieden hätte und in zweiter Instanz ein Senat für Familiensachen des OLG als Beschwerdegericht. Im Beschwerdebeschluss hätte das OLG gemäß § 70 FamFG zwar auch darüber entscheiden müssen, ob es die Rechtsbeschwerde zulässt. Ohne eine solche Zulassung wäre aber ein weiteres Rechtsmittel, insbesondere eine Nichtzulassungsbeschwerde, nicht gegeben. Würde man also im vorliegenden Fall, in dem der Rechtsstreit fälschlich als Zivilsache behandelt und entschieden wurde, eine Nichtzulassungsbeschwerde für zulässig erachten, so würde man dem Beschwerdeführer ein Rechtsmittel eröffnen, das ihm bei richtiger Sachbehandlung nicht zustünde.

 

Fazit: Der Meistbegünstigungsgrundsatz rechtfertigt keine Erweiterung des gesetzlichen Rechtsmittelzuges. Das der tatsächlichen (inkorrekten) Entscheidungsform entsprechende Rechtsmittel ist daher nur dann statthaft, wenn gegen eine formell richtige Entscheidung ein Rechtsmittel gegeben wäre (BGH, Beschluss vom 21. Februar 2024 – XII ZR 41/22 –, MDR 2024, 796 juris Rn.11).