Anwaltsblog 12/2025: Wann ist die Ausübung des Verbraucherwiderrufsrechts gemäß § 355 Abs. 1, § 312g Abs. 1 BGB rechtsmissbräuchlich?

Der BGH hatte zu entscheiden, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit bei einem außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag der Widerruf des Verbrauchers rechtsmissbräuchlich ist (BGH, Urteil vom 20. Februar 2025 – VII ZR 133/24):

 

Die Klägerin begehrt vom Beklagten Werklohn für eine Verkehrsflächenreinigung. Durch den PKW des Beklagten kam es am 31. August 2020 auf der Bundesautobahn 5 im Bereich der Ausfahrt Karlsruhe zu einer Verunreinigung der Verkehrsfläche durch eine Ölspur. Der Beklagte beauftragte die Klägerin am selben Tag vor Ort schriftlich mit der Reinigung der Fahrbahn. Er unterzeichnete zudem ein ihm ausgehändigtes, gesondertes Blatt mit einer Widerrufsbelehrung. Diese enthielt weder einen Hinweis auf das Muster-Widerrufsformular noch wurde ihm ein solches ausgehändigt. Die Klägerin reinigte die Verkehrsfläche und rechnete hierfür 1.975,43 € brutto ab. Der Beklagte erklärte auf Anraten seines Haftpflichtversicherers mit Schreiben vom 20. Oktober 2020 den Widerruf des mit der Klägerin geschlossenen Vertrags.

Das Amtsgericht hat die auf Zahlung von 1.975,43 € gerichtete Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Klageforderung zuerkannt. Der Beklagte habe den Werkvertrag nicht wirksam widerrufen. Allerdings habe ihm aufgrund des außerhalb von Geschäftsräumen erfolgten Vertragsschlusses ein gesetzliches Widerrufsrecht gemäß § 355 Abs. 1, § 312g Abs. 1 BGB zugestanden. Der Beklagte sei jedoch nach Treu und Glauben gemäß § 242 BGB daran gehindert, sich auf sein Widerrufsrecht zu berufen. Bei Nassreinigungsarbeiten auf Straßen handele es sich um Arbeiten, die aufgrund des Gefährdungspotentials für andere Verkehrsteilnehmer mit Zeitdruck durchgeführt werden müssten. Bei diesen Arbeiten bestehe nur ein kurzes Zeitfenster – im Streitfall höchstens eineinhalb Stunden – in dem überhaupt ein Widerruf durchgeführt werden könne. Es komme hinzu, dass Nassreinigungsarbeiten üblicherweise vom Träger der Straßenbaulast beauftragt würden; dieser habe sodann gegen den Schädiger einen Anspruch auf Ersatz der Reinigungskosten. Bei einer Beauftragung des Reinigungsunternehmers durch den Träger der Straßenbaulast stehe diesem kein Widerrufsrecht zu. Es wäre daher eine ungerechtfertigte Bevorzugung des Beklagten, wenn seine Ersatzpflicht als Schädiger nur deshalb entfiele, weil er den Reinigungsunternehmer selbst beauftragt habe und er diesen Vertrag wegen eines kleinen Fehlers bei der Widerrufsbelehrung auch noch nach Ausführung der Leistung widerrufen könne.

Die Revision hat Erfolg und führt zur Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils. Die Annahme des Berufungsgerichts, die Ausübung des Widerrufsrechts durch den Beklagten sei rechtsmissbräuchlich, ist rechtsfehlerhaft. Allerdings ist es weder nach Unionsrecht noch nach nationalem Recht ausgeschlossen, der Ausübung des Verbraucherwiderrufsrechts gemäß § 355 Abs. 1 BGB im Einzelfall den Einwand des Rechtsmissbrauchs entgegenzuhalten. Das in § 242 BGB verankerte Prinzip von Treu und Glauben bildet eine allen Rechten immanente Inhaltsbegrenzung. Es setzt der Rechtsausübung dort Schranken, wo sie zu untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit offensichtlich unvereinbaren Ergebnissen führt. Insbesondere muss § 242 BGB dann in Betracht gezogen werden, wenn die Anwendung der gesetzlichen Vorschriften einen im Einzelfall bestehenden Interessenkonflikt nicht hinreichend zu erfassen vermag und für einen der Beteiligten ein unzumutbar unbilliges Ergebnis zur Folge hätte. Dagegen berechtigt § 242 BGB nicht zu einer reinen Billigkeitsjustiz. Gründe der Rechtssicherheit verbieten es vielmehr, Vorschriften des zwingenden Rechts unter Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben auch dort anzutasten, wo besondere gesetzliche Regelungen den Interessenkonflikten bereits Rechnung tragen. Hiervon ausgehend kommt ein Ausschluss des Verbraucherwiderrufsrechts wegen Rechtsmissbrauchs gemäß § 242 BGB nur ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt besonderer Schutzbedürftigkeit des Unternehmers, etwa bei arglistigem Verhalten des Verbrauchers gegenüber dem Unternehmer, in Betracht. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass bereits das gesetzliche Regelungsgefüge zum Verbraucherwiderrufsrecht die als schutzwürdig erkannten Interessen sowohl des Verbrauchers auf der einen als auch des Unternehmers auf der anderen Seite berücksichtigt. Die darin liegenden gesetzlichen Wertungen dürfen nicht durch die Anwendung von § 242 BGB umgangen werden.

Dies hat das Berufungsgericht verkannt. Es hat den Ausnahmecharakter des Einwands des Rechtsmissbrauchs nicht berücksichtigt und ist insoweit von einem unzutreffenden Wertungsmaßstab ausgegangen. Die Feststellungen des Berufungsgerichts tragen die Annahme eines Verstoßes gegen Treu und Glauben wegen Rechtsmissbrauchs nicht. Die Dringlichkeit der Reinigungsarbeiten aufgrund des mit der Ölspur verbundenen Gefährdungspotentials sowie die kurze Ausführungsdauer sind keine Umstände, die ausnahmsweise den Einwand rechtfertigen könnten, die Ausübung des Verbraucherwiderrufsrechts durch den Beklagten sei rechtsmissbräuchlich. Das Berufungsgericht verkennt insoweit, dass bereits das Gesetz in § 312g Abs. 2 Nr. 11 BGB (dringende Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten auf Aufforderung des Verbrauchers) und § 356 Abs. 4 BGB (Erlöschen des Widerrufsrechts bei vollständiger Leistungserbringung) derartige Umstände berücksichtigt und den Interessen des Unternehmers Rechnung trägt, indem es unter den dort geregelten Voraussetzungen ein Widerrufsrecht des Verbrauchers verneint. Liegen in diesen Fällen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Verneinung des Widerrufsrechts nicht vor, kann die darin liegende gesetzliche Wertung nicht durch den Rückgriff auf § 242 BGB umgangen werden. Es müssen dann vielmehr weitere Umstände hinzutreten, die den nur ausnahmsweise in Betracht kommenden Einwand des Rechtsmissbrauchs rechtfertigen können. Solche weiteren Umstände, die eine besondere Schutzbedürftigkeit des Unternehmers begründen, sind nicht erkennbar. Der Umstand, dass üblicherweise der Träger der Straßenbaulast Nassreinigungsarbeiten beauftragt, diesem kein Widerrufsrecht zusteht und er den Schädiger im Anschluss wegen der Kosten der Reinigung nach § 7 StVG oder § 823 BGB in Regress nehmen kann, kann den nur ausnahmsweise eingreifenden Einwand des Rechtsmissbrauchs ebenfalls nicht begründen. Das Berufungsgericht verkennt insoweit, dass sich die Klägerin dafür entschieden hat, die Nassreinigungsarbeiten nicht auf der Grundlage eines Vertrags mit dem Träger der Straßenbaulast durchzuführen, sondern hierüber einen Vertrag mit dem Beklagten als Verbraucher abzuschließen. Sie hat sich damit bewusst dem Regime des Verbrauchervertrags und damit dem Risiko einer Widerruflichkeit der Willenserklärung des Beklagten zu diesem Vertrag ausgesetzt.

Die Anforderungen an die gebotene Belehrung im Fall eines Widerrufsrechts des Verbrauchers gemäß § 355 Abs. 1, § 312g Abs. 1 BGB ergeben sich aus Art. 246a § 1 Abs. 2 EGBGB. Diese Vorschrift regelt den gesetzlichen Mindestinhalt einer Widerrufsbelehrung. Danach ist der Unternehmer verpflichtet, den Verbraucher über die Bedingungen, die Fristen und das Verfahren für die Ausübung des Widerrufsrechts sowie das Muster-Widerrufsformular aus der Anlage 2 zu Art. 246a § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EGBGB zu informieren. Die gesetzlichen Informationspflichten dienen dem vom nationalen Gesetzgeber in Übereinstimmung mit der Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU verfolgten Zweck, dem Verbraucher eine ungehinderte Ausübung des Widerrufsrechts zu ermöglichen. Der Verbraucher soll durch die Belehrung nicht nur von seinem Widerrufsrecht Kenntnis erlangen, sondern auch in die Lage versetzt werden, dieses ohne Schwierigkeiten wirksam auszuüben. Das Muster-Widerrufsformular bezweckt dabei unter anderem die Vereinfachung des Widerrufsverfahrens für den Verbraucher. Danach weist die Widerrufsbelehrung der Klägerin keinen nur geringfügigen Fehler auf, vielmehr hält sie die gesetzlichen Mindestvorgaben nicht ein. Denn die Klägerin hat in der Widerrufsbelehrung keinen Hinweis auf das Muster-Widerrufsformular erteilt und dieses dem Beklagten auch nicht ausgehändigt.

 

Fazit: Der Ausschluss des Verbraucherwiderrufsrechts gemäß § 355 Abs. 1, § 312g Abs. 1 BGB wegen Rechtsmissbrauchs kommt nur ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt besonderer Schutzbedürftigkeit des Unternehmers, etwa bei arglistigem Verhalten des Verbrauchers gegenüber dem Unternehmer, in Betracht. Das gesetzliche Regelungsgefüge zum Verbraucherwiderrufsrecht berücksichtigt bereits die als schutzwürdig erkannten Interessen sowohl des Verbrauchers auf der einen als auch des Unternehmers auf der anderen Seite. Die darin liegenden gesetzlichen Wertungen dürfen nicht durch die Anwendung von § 242 BGB umgangen werden.