Innerhalb weniger Wochen mussten sich zwei Zivilsenate des BGH mit der Frage befassen, ob fristgemäß einzureichende Anwaltsschriftsätze das (korrekte) Aktenzeichen des Gerichts aufweisen müssen (BGH, Beschluss vom 20. Februar 2024 – VIII ZR 238/22 -, MDR 2024, 592; BGH, Beschluss vom 12. März 2024 – VI ZR 166/22 –, juris):
Im ersten Fall war das Berufungsverfahren der Beklagten zunächst beim 7. Zivilsenat des OLG geführt und sodann dem 9. Zivilsenat desselben Gerichts übertragen worden. Dieser wies darauf hin, dass er die Zurückweisung der Berufung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO beabsichtige, und setzte der Beklagten eine Frist zur Stellungnahme bis zum 7. Oktober 2022. Mit einem am 6. Oktober 2022 eingegangenen Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten mit der Begründung, aufgrund einer kurzen Auslandsreise des Sachbearbeiters habe die notwendige Erörterung mit der Beklagten noch nicht stattfinden können, um Verlängerung der Stellungnahmefrist um zwei Wochen gebeten. Der Schriftsatz enthält irrtümlich das Aktenzeichen des vormals zuständigen 7. Zivilsenats. Eine Entscheidung über den Fristverlängerungsantrag ist nicht ergangen, sondern das Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 17. Oktober 2022 die Berufung zurückgewiesen. In dem Beschluss heißt es, dass die Beklagte innerhalb der eingeräumten Frist keine Stellungnahme abgegeben habe (BGH, Beschluss vom 20. Februar 2024 – VIII ZR 238/22 -, MDR 2024, 592).
Auch im zweiten Fall hat das OLG die Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 BGB zurückgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es auf den Inhalt seines Hinweisbeschlusses vom 30. März 2022 verwiesen, zu dem sich die Klägerin trotz antragsgemäß verlängerter Frist nicht mehr geäußert habe. Jedoch war am letzten Tag der Frist (5. Mai 2022) ein Schriftsatz der Klägervertreter beim Berufungsgericht eingegangen, der eine Stellungnahme zum Hinweisbeschluss enthält. Dieser wurde allerdings aufgrund eines Schreibversehens bei der Angabe des Aktenzeichens („99 U 25/22“ statt „9 U 25/22“) auf Geschäftsstellenebene zunächst dem falschen Senat (Eingangssenat) zugeordnet und dem Berichterstatter des Berufungssenats erst nach Versendung des Zurückweisungsbeschlusses vom 6. Mai 2022 vorgelegt (BGH, Beschluss vom 12. März 2024 – VI ZR 166/22 –, juris).
In beiden Fällen hat der BGH eines Verstoß des Berufungsgerichts gegen seine aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Pflicht festgestellt, die Ausführungen eines Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, die in einem ordnungsgemäß bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vorgetragen werden. Grundsätzlich verstößt das Gericht gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn es einen ordnungsgemäß eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt, wobei es auf ein Verschulden des Gerichts nicht ankommt. Im Hinblick auf eine einzuhaltende Frist ist für den Eingang des Schriftsatzes und daher für die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch das Gericht allein entscheidend, ob der Schriftsatz vor Ablauf der Frist an das zur Entscheidung berufende Gericht gelangt ist. Unerheblich ist dagegen, ob der Schriftsatz innerhalb der Frist in die für die Sache bereits angelegte Akte eingeordnet worden ist. Da der Rechtsuchende keinen Einfluss darauf hat, welche Richter im Einzelnen durch die Geschäftsverteilung zur Bearbeitung der Sache bestimmt worden sind, braucht er keine Sorge dafür zu treffen, dass seine Eingabe innerhalb des angerufenen Gerichts unverzüglich in die richtige Akte gelangt. Demgemäß schreibt das Gesetz in den § 129 Abs. 1, § 130 ZPO die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor. Die Angabe eines Aktenzeichens soll die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen. Es handelt sich um eine Ordnungsmaßnahme, die für die Sachentscheidung ohne Bedeutung ist. Dem Schriftsatz muss jedoch zweifelsfrei zu entnehmen sein, zu welchem Verfahren er eingereicht werden soll. Dies ist der Fall, wenn die Parteien des Rechtsstreits im Schriftsatz korrekt angegeben waren und zudem durch die Bezugnahme auf einen Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts deutlich wird, welchem Verfahren die Ausführungen zuzuordnen waren.
Fazit: Für den fristgerechten Eingang eines Schreibens bei Gericht ist es grundsätzlich nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet oder der betreffenden Geschäftsstelle übergeben wird. Das Gesetz schreibt die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor. Diese soll lediglich die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen. Für den fristgerechten Eingang eines Schriftsatzes ist deshalb allein entscheidend, dass dieser vor Ablauf der gesetzten Frist in den Machtbereich des Gerichts gelangt (BGH, Beschluss vom 8. November 2023 – VIII ZB 59/23 –, MDR 2024, 395).
Anmerkung: Der in ihrem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzten Partei verbleibt nur das zulässige Rechtsmittel, sofern die angefochtene Entscheidung auf dem Gehörsverstoß beruht. Der einfachere und kostengünstigere Weg der Gehörsrüge nach § 321a ZPO ist nicht eröffnet, da diese subsidiären Charakter hat. Voraussetzung für die Gehörsrüge ist nach § 312a Abs. 1 Nr. 1 ZPO, dass ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist. Der Gesetzgeber sollte de lege ferenda dieses missliche Rechtsdefizit beenden, um eine schnelle und kostengünstige Reparatur der sog. Pannenfälle (G. Vollkommer in: Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 321a Rn. 8 mwN.) zu ermöglichen.