Anwaltsblog: Kann in der Berufungsinstanz Gegenvortrag auf zulässigen neuen Vortrag der anderen Partei als verspätet zurückgewiesen werden?

Der BGH hatte zu entscheiden, ob in der Berufungsinstanz Vortrag einer Partei als verspätet zurückgewiesen werden kann, den diese in Erwiderung zu neuem Vortrag gehalten hat, den die in I. Instanz siegreiche Partei nach einem Hinweis des Gerichts vorgebracht hatte:

 

Die Klägerin hatte sich verpflichtet, als „Expertin für Performance Marketing“ (Optimierung von Webseiten) die Beklagte, ein „Legal Tech – Start-Up“, im „Umfang von in Summe 96 Arbeitstagen“ auf dem Themenfeld „Marketing“ unterstützen. Die zum jeweiligen Monatsende fällige Vergütung betrug 1.500 € pro Tag. Nach Unstimmigkeiten kündigte die Klägerin den Vertrag und klagte Restvergütung ein. Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 66.187,50 € nebst Zinsen verurteilt. Es hat die Vergütung mit pro Tag 1.500 € und nicht, wie von der Klägerin abgerechnet, mit pro Tag 1.500 € zuzüglich Umsatzsteuer als vereinbart angesehen. Des Weiteren hat es einige Positionen vom geltend gemachten Anspruch abgesetzt. Das Bestreiten der anderen von der Klägerin angeführten Rechnungspositionen durch die Beklagte mit Nichtwissen hat es als unzulässig und insoweit das Vorbringen der Klägerin als zugestanden angesehen. Das Berufungsgericht hat die Parteien auf Folgendes hingewiesen: „Die Beklagte hat die Leistungen bestritten; zu einzelnen Tagen hat sie konkrete Beanstandungen vorgebracht (Anlage B 1), im Übrigen die Leistungserbringung mit Nichtwissen bestritten. Es ist in der Tat zweifelhaft, ob die Klägerin hinreichend vorgetragen hat. Sie hat kein einziges Detail dargelegt, weder Ort, noch Zeit, noch Gegenstand, noch Person bei der Beklagten, der gegenüber die ‚Beratung‘ erfolgt sein soll. Andererseits ist aber auch fraglich, ob die Beklagte die Leistungen mit Nichtwissen bestreiten darf nach § 138 Abs. 4 ZPO. Denn es könnte ihr zumutbar sein zu prüfen, ob sie oder in ihrem Verantwortungsbereich tätige Personen an den abgerechneten Tagen eine ‚Beratung‘ der Klägerin erhalten haben. Um Stellungnahme binnen drei Wochen wird gebeten. “ Mit Schriftsatz vom 17. August 2022 hat die Klägerin „zur Detaillierung der Klageforderung“ erstmals die Anlage K 6 vorgelegt, mit der die ihrem Vortrag zufolge erbrachten Leistungen konkretisiert wurden; mit Schriftsatz vom 19. August 2022 hat die Beklagte erstmals die abgerechneten Leistungen der Klägerin detailliert bestritten. Die Berufung der Beklagten hat nur in geringfügigem Umfang Erfolg gehabt; in der Hauptsache hat das Berufungsgericht den Verurteilungsbetrag auf 63.468,75 € herabgesetzt. Die Klägerin habe die Entstehung der abgerechneten Vergütung für Beratungsleistungen hinreichend dargelegt. Hingegen sei das Bestreiten der Leistungserbringung durch die Beklagte prozessual ungenügend. Eine Erklärung mit Nichtwissen sei gemäß § 138 Abs. 4 ZPO nur über Tatsachen zulässig, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen seien. Die Klägerin habe bereits in der Klageschrift unerwidert vorgetragen, sie habe der Beklagten mit der Rechnung vom 28. Januar 2019 die im Berufungsverfahren als Anlage K 6 eingereichte Übersicht mit weiteren Details über die erbrachten Leistungen übersandt. Dies habe die Beklagte erstinstanzlich nicht bestritten, im Berufungsverfahren habe ihr Geschäftsführer erklärt, er wisse nicht mehr, wann er diese Übersicht erstmals gesehen habe. Sofern hierin ein Bestreiten der vorgerichtlichen Kenntnis von der Übersicht liegen sollte, wäre es im Berufungsverfahren jedenfalls nicht zuzulassen, da kein Grund für die Zulassung dieses neuen Verteidigungsmittels gemäß § 531 Abs. 2 ZPO vorgetragen oder sonst ersichtlich wäre. Wenn der Beklagten aber die Übersicht mit den weiteren Details insbesondere hinsichtlich der Rechnung vom 20. November 2018 vorgerichtlich bekannt gewesen sei, wäre ein Vortrag, der über ein Bestreiten mit Nichtwissen hinausgehe, tatsächlich unschwer möglich und prozessual auch gemäß § 138 Abs. 2 ZPO erforderlich gewesen. Das erstmals im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 19. August 2022 erfolgte detaillierte Bestreiten der abgerechneten Leistungen seitens der Beklagten sei als neues Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz gemäß § 531 Abs. 2 ZPO unbeachtlich.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hat Erfolg. Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise dadurch verletzt, dass es ihr erstmals im Berufungsverfahren erfolgtes detailliertes Bestreiten der von der Klägerin abgerechneten Leistungen zu Unrecht nach § 531 Abs. 2, §§ 530, 296 Abs. 1 ZPO nicht zugelassen hat, obgleich deren entsprechender (Gegen-)Vortrag seinerseits – nach einem Hinweis des Gerichts – erst in der Berufungsinstanz weiter konkretisiert worden war. Eine in erster Instanz siegreiche Partei – hier die Klägerin – darf darauf vertrauen, dass das Berufungsgericht ihr rechtzeitig einen Hinweis erteilt, wenn es in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und aufgrund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält. Außer zur Hinweiserteilung ist das Berufungsgericht in einem solchen Fall auch verpflichtet, der betroffenen Partei Gelegenheit zu geben, auf den Hinweis zu reagieren und ihren Tatsachenvortrag zu ergänzen sowie gegebenenfalls auch Beweis anzutreten. Schon zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist neues Vorbringen des Berufungsbeklagten, das auf einen solchen Hinweis des Berufungsgerichts erfolgt ist und den Prozessverlust wegen einer von der ersten Instanz abweichenden rechtlichen oder tatsächlichen Beurteilung durch das Berufungsgericht vermeiden soll, zuzulassen, ohne dass es darauf ankommt, ob es schon in erster Instanz hätte vorgebracht werden können. Die Hinweispflicht des Berufungsgerichts und die Berücksichtigung neuen Vorbringens gehören insoweit zusammen, woran auch die Vorschrift des § 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO, die die Zulässigkeit neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel in der Berufungsinstanz einschränkt, nichts geändert hat. Das Gericht darf allerdings nur solche Tatsachen und Beweise verwerten, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten. Ist in einem nach Erteilung eines richterlichen Hinweises eingegangenen Schriftsatz des Berufungsbeklagten neuer entscheidungserheblicher Prozessstoff enthalten, ist der Schriftsatz dem Berufungskläger mitzuteilen und ihm ebenfalls rechtliches Gehör zu gewähren. Tritt dieser dem neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittel des Berufungsbeklagten entgegen, ist sein Vorbringen gleichfalls zu berücksichtigen.    Diesen Anforderungen ist das Berufungsgericht nicht in vollem Umfang gerecht geworden. Den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör verletzt es, dass das Berufungsgericht das mit Schriftsatz vom 19. August 2022 „erfolgte detaillierte Bestreiten“ des Inhalts dieser Liste für prozessual unbeachtlich erklärt hat. Zwar ist dieser Sachvortrag erstmals im Berufungsrechtszug gehalten worden. Konkret veranlasst worden ist der neue Vortrag jedoch durch den Hinweis des Berufungsgerichts vom 20. Juli 2022 und die sich daran anschließende erstmalige Vorlage der Liste im Prozess mit Schriftsatz der Klägerin vom 17. August 2022. Aus besonderen in der Verfahrensordnung angelegten Gründen – § 531 ZPO – durfte der neue Vortrag daher nicht unberücksichtigt bleiben.

(BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2023 – III ZR 184/22)

 

Fazit: Bringt eine Partei auf einen richterlichen Hinweis ein neues entscheidungserhebliches Angriffs- oder Verteidigungsmittel vor, ist dies der anderen Partei mitzuteilen und das Vorbringen, mit dem diese dem neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittel entgegentritt, gleichfalls zu berücksichtigen.