Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Sorgfaltspflichten im Straßenverkehr.

Vorbeifahren an einem in zweiter Reihe stehenden Lkw
BGH, Urteil vom 4. Juni 2024 – VI ZR 374/23

Der VI. Zivilsenat klärt den Anwendungsbereich seiner so genannten Lückenrechtsprechung.

Der Kläger begehrt Ersatz von Sachschaden nach einem Verkehrsunfall. Der Beklage fuhr auf einer in beiden Fahrtrichtungen jeweils einspurigen Straße an einem Lkw vorbei, der unmittelbar vor der Ein- und Ausfahrt zu einem Unternehmensgelände in zweiter Reihe stand. Der Kläger hatte auf einem Parkplatz vor der Zufahrt geparkt und wollte auf die gegenüberliegende Seite umparken. Hierzu fuhr er rechts an dem Lkw vorbei in den Bereich der Zufahrt und von dort aus auf die Straße, wo es zur Kollision kam. Das LG hat dem Kläger 25 % des geltend gemachten Schadens zugesprochen. Das OLG wies die Klage insgesamt ab.

Die Revision des Klägers bleibt ohne Erfolg.

Zu Recht hat das OLG angenommen, dass der Kläger gegen die Pflichten aus § 9 Abs. 5 und § 10 Satz 1 StVO verstoßen hat. Nach diesen Vorschriften muss sich derjenige, der sein Fahrzeug wendet bzw. aus einem Grundstück oder einem anderen Straßenteil auf die Fahrbahn einfahren will, besonders sorgfältig verhalten.

Ebenfalls zu Recht hat das OLG eine besondere Sorgfaltspflicht des Beklagten verneint.

Konkrete Anzeichen für eine Vorfahrtsmissachtung durch den Kläger konnte das OLG nicht feststellen.

Die so genannte Lückenrechtsprechung ist im Streitfall nicht anwendbar. Sie besagt, dass ein vorfahrtsberechtigter Verkehrsteilnehmer, der an einer ins Stocken oder zum Stillstand gekommenen Fahrzeugkolonne vorbeifährt, bei Annäherung an eine Kreuzung oder Einmündung auf größere Lücken in der Kolonne achten und sich darauf einstellen muss, dass diese Lücken vom Querverkehr benutzt werden. In solchen Fällen bilden das Stocken der Kolonne und die Lückenbildung einen konkreten Anlass, besonders besonnen und rücksichtsvoll zu fahren. Der Umstand, dass ein einzelner Lkw in zweiter Reihe abgestellt ist, bildet kein vergleichbares Anzeichen.

Praxistipp: Die Verletzung des Vorfahrtsrechts indiziert nach den Regeln des Anscheinsbeweis ein schuldhaftes Verhalten. Die Beweislast dafür, dass konkrete Anzeichen vorlagen, die aus Sicht des Vorfahrtsberechtigten eine Vorfahrtsmissachtung nahelegten, liegt bei demjenigen, der das Vorfahrtsrecht verletzt hat.

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um eine seit langem etablierte Rechtsfigur des Straßenverkehrsrechts.

Verhalten eines Fußgängers beim Überqueren der Fahrbahn
BGH, Urteil vom 4. April 2023 – VI ZR 11/21

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit der Reichweite des Vertrauensgrundsatzes.

Der Kläger wurde als Fußgänger bei einem Verkehrsunfall mit einem vom Beklagten zu 1 gefahrenen und bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Fahrzeug verletzt. Als sich der Beklagte zu 1 der späteren Unfallstelle näherte, wollte der Kläger die zweispurige Fahrbahn aus Sicht des Beklagten zu 1 von links kommend überqueren. Die auf Ersatz der Hälfte der entstandenen Schäden gerichtete Klage blieb in den beiden ersten Instanzen erfolglos.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Das OLG ist im Ansatz zu Recht davon ausgegangen, dass ein Anspruch auf Schadensersatz auch gegenüber der unabhängig von Verschulden haftenden Beklagten zu 2 vollständig ausgeschlossen sein kann, wenn der Unfall durch ein grob verkehrswidriges Verhalten des Klägers verursacht worden ist. Für diese Abwägung ist von Bedeutung, ob dem Beklagten zu 1 ein für den Unfall ursächliches Verschulden zur Last fällt. Letzteres hat das OLG mit nicht tragfähiger Begründung verneint.

Nach dem Vertrauensgrundsatz darf ein Verkehrsteilnehmer, der sich verkehrsgemäß verhält, damit rechnen, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer den Verkehr nicht durch pflichtwidriges Verhalten gefährdet, solange die sichtbare Verkehrslage zu keiner anderen Beurteilung Anlass gibt. Ein Kraftfahrer muss danach grundsätzlich nicht damit rechnen, dass ein erwachsener Fußgänger versuchen wird, kurz vor seinem Fahrzeug die Fahrbahn zu betreten. Er muss auch nicht darauf gefasst sein, dass ein Fußgänger, der beim Überschreiten der Fahrbahn vor oder in der Mitte der Straße anhält, unerwartet weiter in seine Fahrbahn laufen wird.

Der BGH lässt offen, ob ein Kraftfahrer auch darauf vertrauen darf, dass ein Fußgänger, der sich auf der gegenüberliegenden Fahrbahn bewegt, in der Straßenmitte stehen bleiben wird. Ein solches Vertrauen ist jedenfalls nicht gerechtfertigt, wenn der Fußgänger über die Fahrbahn rennt und nicht in die Richtung des auf der anderen Fahrbahn herannahenden Fahrzeugs blickt. Einen solchen Sachverhalt hat das OLG im Streitfall aufgrund der Beweisaufnahme festgestellt.

Nach der Zurückverweisung wird das OLG unter anderem noch zu klären haben, ob die Sicht des Beklagten zu 1 durch ein entgegenkommendes Fahrzeug oder die A-Säule seines Fahrzeugs eingeschränkt war und er den Kläger deshalb nicht sehen konnte.

Praxistipp: Generell ist das Vertrauen auf verkehrsgerechtes Verhalten nicht gerechtfertigt, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände Anlass besteht, am verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zu zweifeln.