Die Diskussionen um eine Digitalisierung der Ziviljustiz werden, angestoßen insbesondere durch ein Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ mit Vehemenz geführt. Mit Ideen für eine digitale Strukturierung von Schriftsätzen (elektronisches Basisdokument), zur Ausgestaltung eines Justizportals, zur Schaffung eines beschleunigten Onlineverfahrens für bestimmte „Massenstreitigkeiten“ und zum vermehrten Einsatz von Videokonferenztechnologie im Zivilprozess liegen bahnbrechende Vorschläge auf dem Tisch, die zu einem grundsätzlichen Überdenken des Zivilprozesses vor dem Hintergrund der Digitalisierung führen könnten.
Einige Vorteile digitaler Technik
Digitaltechnik bietet für den juristischen Bereich unter anderem folgende Vorteile:
- Information: Wir alle suchen tagtäglich im Internet nach Informationen und besuchen Webseiten, die uns zu den relevanten Wissenselementen hinlenken können. Rechercheergebnisse und Informationen sind uns dabei deutlich besser zugänglich als wir es aus der analogen Welt gewohnt sind.
- Kommunikation: Kommunikationsprozesse verlaufen digital oft deutlich niedrigschwelliger als im analogen Bereich. Mittlerweile wird oft per Instant Messaging „getextet“, wo früher Briefe geschrieben wurden oder (nach entsprechender Vereinbarung) telefoniert wurde. Man denke nur an den Austausch per WhatsApp.
- Struktur: Digitaltechnik ist in der Lage, Prozesse und Daten zu strukturieren. Kaufen wir beispielsweise in einem Online-Shop ein, steuert uns das digitale System (für uns oft unbewusst) durch verschiedene, getrennte Phasen des Bestellprozesses (Suchen eines Artikels, Legen in den Warenkorb, Weg zu Kasse, Eingabe von Rechnungs- und Lieferadresse, Zahlungsabwicklung, Bestellbestätigung). Digitale Technik gibt also die Verfahrensschritte vor.
Als Beispiel für die Strukturierung bzw. Segmentierung von Datensätzen selbst sei das ELSTER-Verfahren genannt, in dem mit intelligenten elektronischen Formularen Daten so strukturiert werden, dass die IT erkennen kann, was die jeweilige Information bedeutet, sodass sogar ein „digitalisierter Erlass von Steuerbescheiden“ möglich ist.
Nutzung dieser Vorteile für die Lösung von Zivilkonflikten
Die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ darf sich das Verdienst zuschreiben, den analogen Zivilprozess nicht nur digital abbilden zu wollen, sondern diesen – unter Wahrung der geltenden Prozessmaximen – für Zeiten fortschreitender Digitalisierung neu zu denken. Es ist aber angezeigt, ein solches Neudenken nicht nur für das zivilprozessuale Erkenntnis- und Zwangsvollstreckungsverfahren, sondern auch für die einvernehmliche Streitbeilegung zu wagen und ein digitales, mehrstufiges Zivilkonfliktlösungsverfahren anzustreben. Warum das?
- Nach Erkenntnissen aus der Konflikttheorie funktioniert eine Streitbeilegung besonders gut, wenn flexibel das richtige Konfliktlösungsverfahren gewählt werden kann (Flexibilität bei der Verfahrenswahl). Digitale Technik kann, etwa als Teil eines Justizportals, dabei behilflich sein, das richtige Streitbeilegungsverfahren zu wählen. Denkbar wäre dafür etwa ein digitaler Konfliktlotse, wie er unter https://rechtohnestreit.de/ derzeit erprobt wird.
- Zudem belegen Erkenntnisse aus der Konflikttheorie, dass es besonders wichtig ist, mit einer Streitbeilegung auf niedriger Eskalationsstufe zu beginnen und für eine (Wieder-)Herstellung der im Laufe des Konflikts „verloren gegangenen“ Kommunikation zu sorgen (Ansetzen auf niedriger Eskalationsstufe). Auch dabei können digitale Tools, etwa durch Abfangen des Konflikts in niederschwelligen Online-Konfliktanlaufstellen oder durch Bereitstellung von Tools zu informeller Kommunikation, helfen.
- Schließlich lassen sich in ein digital strukturiertes Verfahren Elemente der einvernehmlichen Streitbeilegung ganz unproblematisch integrieren und sei es nur durch eine zwischengeschaltete Information über dieselbe. Beispielgebend ist für einen solchen vollständigen digitalen Konfliktlösungsprozess sicher das Verfahren vor dem Civil Resolution Tribunal in der kanadischen Provinz British Columbia.
Idee eines digitalisierten Zivilkonfliktlösungsnetzes
Auch wenn die einvernehmliche Streitbeilegung vielfach keine große Rolle zu spielen scheint, vergibt sich auch die Justiz nichts, wenn zumindest versucht wird, die ADR in die Digitalisierungsbemühungen einzubeziehen. Ideen für eine Digitalisierung der Schnittstellen des Zivilprozesses zur alternativen Streitbeilegung gibt es zuhauf, wie der Beitrag in ZKM 2022, 44 ff. („Die einvernehmliche Streitbelegung im digitalen Zivilprozess der Zukunft“) deutlich machen soll.
Nachdenken sollten wir daher nicht nur über die wichtige Digitalisierung des staatlichen Zivilprozesses, sondern darüber hinaus auch über die Digitalisierung der Zivilkonfliktlösung als „engmaschiges Konfliktlösungsnetz“.