Warum nutzen Unternehmen in Deutschland bislang kaum die Wirtschaftsmediation?

Dr. Alexander Steinbrecher, LL.M. (Tulane)  Dr. Alexander Steinbrecher, LL.M. (Tulane)
RA und Mediator, Bombardier Transportation Group

Für diese Woche hatte das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz eine Fachkonferenz geplant, um – laut eigener Pressemitteilung – „acht Jahre nach dem Inkrafttreten des Mediationsgesetzes eine umfassende Bestandsaufnahme vorzunehmen.“ Die Konferenz wurde zwischenzeitlich – mit unveränderter Ankündigung – aufs Frühjahr 2021 verschoben. Anlass genug, die Mediationsentwicklungen einmal aus Nutzerperspektive zu beleuchten, wozu ich in der aktuellen Ausgabe der ZKM (3/2020, 107 ff.) eingeladen war.

Beginnen wir mit einer statistischen Bestandsaufnahme: Im Jahr 2018 wurden mehr als 338.000 Zivilklagen zu den Landgerichten erhoben. Die Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) verzeichnete im selben Jahr 116 DIS-Schiedsverfahren und zwei Mediationsverfahren. Das ist die Realität der Streitkultur in der deutschen Wirtschaft. Es gibt in Deutschland tausende von ausgebildeten Mediatoren. Aber kaum ein Unternehmen nutzt die Mediation. Warum ist das so?

Zuerst die simple Antwort: „Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht“, sagt der deutsche Volksmund. „Was ich nicht kenne, empfehle ich meinem Mandanten nicht“, würde wohl die überwiegende Mehrzahl der in Deutschland zugelassenen (Syndikus-)Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen sagen, die primär Unternehmen beraten. Nur wenige Unternehmerinnen und Unternehmer kennen das Mediationsgesetz. Noch weniger nutzen die Mediation zur Beilegung ihrer Streitigkeiten.

So simpel ist es natürlich nicht. Die Einflussfaktoren für das Nicht-Stattfinden von Wirtschaftsmediation in deutschen Unternehmen sind vielschichtiger:

  1. Unternehmen und die sie beratenden Unternehmensjuristen und Rechtsanwälte verkennen, dass Wirtschaftskonflikte keine Entscheidungs-, sondern Gestaltungsgegenstände sind. Streitigkeiten zwischen Unternehmen brauchen selten gerichtliche Entscheidungen. Sie brauchen Lösungen. Lösungen lassen sich auf unterschiedliche Art und Weise gestalten. Unternehmen können und sollten Rechtsstreitigkeiten deshalb als Gestaltungsgegenstände betrachten und behandeln.
  2. Unternehmen und die sie beratenden Unternehmensjuristen und Rechtsanwälte ignorieren, dass Schieds- und Gerichtsverfahren häufig unökonomisch sind. Eine Mediation und andere Verfahren der außergerichtlichen Streitbeilegung kosten vergleichsweise nur einen Bruchteil. Ein Mediationsverfahren dauert – je nach Art und Umfang der klärungsbedürftigen Streitfragen – einen bis mehrere Monate. Ein Gerichts- oder Schiedsverfahren dauert ein bis mehrere Jahre. Es sei jedem Geschäftsführer oder Vorständin deshalb dringend geraten, auf eine fundierte Prozessrisikoanalyse und eine präzise Kostenprogose zu bestehen, bevor das Unternehmen entscheidet, welches Streitbeilegungsverfahren im konkreten Streitfall außergerichtlich oder gerichtlich durchgeführt wird.
  3. Mediation hat bislang fast nur der Justiz, Anwaltschaft und Mediationsverbänden genutzt statt Unternehmen. Nicht erst seit dem Gesetzgebungsverfahren des Mediationsgesetzes wurden Anwaltschaft und Mediationsverbände mehr gehört als Unternehmen und Verbraucher. Die Nutzerperspektive der Parteien ist sehenden Auges vernachlässigt worden. Das Produkt „Mediation“ wurde an der Zielgruppe vorbei von Politik und Verbänden entwickelt und vermarktet. Wenn ernsthaft und aufrichtig das politische Interesse besteht, die Streitkultur von Unternehmen zu verändern, dann sollten zwei Dinge geschehen: Erstens muss die Rechtspolitik die gesetzgeberischen und sonstigen politischen Maßnahmen in anderen Ländern evaluieren, die nachweislich Anreize geschaffen haben, Rechtsstreitigkeiten zuvorderst außergerichtlich beizulegen, damit die (schieds-)gerichtliche Streitentscheidung nicht nur theoretisch, sondern praktisch die Ultima Ratio ist. Zweitens müssen die Ergebnisse dieser ländervergleichenden Evaluierung aus der Perspektive der Streitparteien bewertet werden. Der Fokus sollte dabei auf der praktischen Anwendungshäufigkeit von Mediation in kleinen und mittleren Unternehmen liegen. Denn sie machen die breite Masse der 3,5 Millionen Unternehmen in Deutschland aus.
  4. Die Politik hat die Wirtschaftsmediation bislang nur mit Worten statt mit Taten gefördert. Die Bundesrepublik sollte mit gutem Beispiel vorangehen und die Wirtschaftsmediation in das Standard-Repertoire der eigenen Streitbeilegung aufnehmen. Der Bund ist nämlich an mehr als 100 Wirtschaftsunternehmen unmittelbar beteiligt. Überträgt man diese Signalwirkung und Vorreiterrolle auf die Bundesländer und Kommunen, dann sprechen wir über tausende von Unternehmen, die Gerichtsstands- oder Schiedsklauseln in ihren Verträgen durch mehrstufige Streitbeilegungsklauseln ersetzen können.
  5. Nicht Mediations-, sondern Wirtschaftsverbände übernehmen das Heft des Handelns, wenn es um Mediation und Streitbeilegung in der Wirtschaft geht. Bestimmte Branchenverbände sind geradezu prädestiniert, im Interesse ihrer Mitgliedsunternehmen die Art und Weise der Beilegung von Streitigkeiten zwischen Unternehmen auf Endkunden-, Hersteller-, Zuliefer- und Dienstleisterseite konsensual zu gestalten und dabei auch, aber nicht nur auf die Wirtschaftsmediation zu setzen. Denken Sie nur an den Bundesverband der Deutschen Industrie, den Verband der deutschen Automobilindustrie, den Verband der deutschen Bahnindustrie oder an Bitkom, den Digitalverband Deutschlands.
  6. Anwälte haben es in den vergangenen Jahren häufig unterlassen, Unternehmen über Mediation und ADR-Verfahren aufzuklären. Anwälte sollten berufsrechtlich verpflichtet werden, ihre Mandanten umfassend über Mediation und andere außergerichtliche Verfahren der Streitbeilegung zu informieren, über ihre jeweiligen Vor- und Nachteile im konkreten Fall aufzuklären und sie verfahrenskompetent bei der Auswahl und Durchführung dieser außergerichtlichen Verfahren zu beraten und zu vertreten. Mit einer diesbezüglichen berufsrechtlichen Regelung würde auch der Streit entfallen, ob eine anwaltliche Pflicht zur Beratung über Verfahrensalternativen bereits aufgrund des § 1 Abs. 3 BORA besteht oder nicht. § 253 Abs. 3 Nr. 1 ZPO ist jedenfalls ein „zahnloser Tiger“, der nur ein sanktionsloses Erklärungsgebot des Rechtsanwalts enthält.

Ausführlich setze ich mich mit der Problematik in der aktuellen Ausgabe der ZKM auseinander, nachzulesen in ZKM 2020, 107 ff.

 

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