Kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche als Insolvenzforderungen nach § 38 InsO („Wirecard AG“)

Im Fall Wirecard hat das OLG München mit seiner Entscheidung vom 17.9.2024 der Anlegerseite in einem vom Gericht sog. „Pilotverfahren“ gegen den Insolvenzverwalter der Wirecard AG Recht gegeben und dabei den kreativen Weg eines Teil- und Zwischenurteils gewählt (Az.: 5 U 7318/22e, ZIP 2024, 2290). Laut Urteil haben derzeit 50.000 Aktionäre im Insolvenzverfahren Schadensersatzansprüche wegen täuschungsbedingten Aktienerwerbs im Volumen von 8,5 Milliarden EUR angemeldet. Sie können sich nun Hoffnung auf eine Beteiligung an der Insolvenzmasse im Umfang von aktuell 650 Millionen EUR machen – dies freilich zulasten der sonstigen Gläubiger, insbesondere der Banken und Anleiheinhaber.

Gegenstand des jetzigen Zwischenurteils ist nicht bereits die Begründetheit kapitalmarktrechtlicher und deliktischer Schadensersatzansprüche der Anleger gegen die insolvente Wirecard AG, sondern allein die Vorfrage, ob jene Ansprüche – ihr Bestehen unterstellt – von den getäuschten Anlegern (meist aktuelle oder ehemalige Aktionäre) gemeinsam mit allen anderen Gläubigerforderungen im Rang des § 38 InsO bei der Verteilung der Insolvenzmasse zu berücksichtigen sind. Um diese Frage war eine wahre „Gutachterschlacht“ entbrannt. Für den Insolvenzverwalter Jaffé, der die Ansprüche in den doppelten Nachrang des § 199 InsO verweisen wollte und dabei von der Mannheimer Kanzlei SZA vertreten wurde (vgl. – als Prozessvertreter – Liebscher/Rickelt, ZIP 2024, 717), waren Prof. Dr. Christoph Thole (ZIP 2020, 2533), RiBGH a.D. Prof. Dr. Markus Gehrlein (WM 2021, 763 und 805) und Prof. Dr. Stephan Madaus (ZIP 2023, 1273; zuvor schon ZRI 2022, 1) als Gutachter aufgetreten. Die Anlegerseite war mit Rechtsgutachten der Professoren Georg Bitter und Moritz Brinkmann ins Feld gezogen, die jeweils durch ihre Mitarbeiter unterstützt wurden und sich für ihre Ansicht – die Einordnung der Schadensersatzansprüche als Insolvenzforderungen i.S.v. § 38 InsO – auf die ganz herrschende Ansicht im Schrifttum stützen konnten (vgl. Bitter/Jochum, ZIP 2021, 653 und ZIP 2023, 277; Brinkmann/Richter, AG 2021, 489).

Das OLG München wählt einen pragmatischen Weg, wohlwissend, dass der Fall am Ende ohnehin in höherer Instanz entschieden wird. Es will sich ausweislich der Urteilsgründe aus der umfassenden wissenschaftlichen Debatte heraushalten, welche durch die Veröffentlichungen der o.g. Gutachten ausgelöst wurde und an der sich auch viele weitere Stimmen im Schrifttum beteiligt haben (vgl. – auf dem damaligen Stand – die Nachweise bei Bitter/Jochum, ZIP 2023, 277 f.). Das Gericht spricht allgemein aus, die Frage der richtigen Einordnung von Schadensersatzansprüchen getäuschter Anleger sei bislang höchstrichterlich nicht entschieden und in der Literatur umstritten. Zum Beleg werden nur zwei Fundstellen zum Meinungsstand benannt („Jungmann in Karsten Schmidt, InsO, 20. Auflage, 2023, Rn. 3 ff zu § 199; Baumert NZG 2023, 111, 113“). Die Vertreter/innen der verschiedenen Ansichten einschließlich aller o.g. Gutachter werden überhaupt nicht angeführt.

In der Sache folgt das Gericht freilich in weiten Zügen der von Bitter/Jochum entwickelten Argumentation, dass die Rechtsfrage bereits durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs vorentschieden ist. Hingewiesen wird insbesondere auf die Entscheidung des BGH im Fall EM.TV (ZIP 2005, 1270) und die daran anknüpfenden Beschlüsse des II. Zivilsenats des BGH vom 29.06.2006 – II ZR 334/05 (unveröffentlicht) sowie des IX. Zivilsenats des BGH vom 19.05.2022 – IX ZR 67/21 (ZIP 2022, 1932), ferner auf die Rechtssache Hirmann des EuGH (ZIP 2014, 121). Aus jenen Urteilen lässt sich eine recht klare Position des BGH wie auch des EuGH ablesen, die nun auch das OLG München im Fall Wirecard einnimmt: Mit ihren kapitalmarktrechtlichen und deliktischen Schadensersatzansprüchen stehen die Anleger der Wirecard AG ebenso als „Drittgläubiger“ gegenüber wie alle anderen Insolvenzgläubiger auch. Soweit sich die Anleger als Aktionäre beteiligt haben, machen sie in der Insolvenz der Wirecard AG nämlich nicht ihren Anspruch auf Rückzahlung der Einlage geltend, der erst im doppelten Nachrang des § 199 InsO nach Befriedigung aller Insolvenzgläubiger – auch der gemäß § 39 InsO nachrangigen – zu bedienen wäre, sondern sie machen gerade geltend, bei zutreffender Information des Kapitalmarktes keine Anlage in Aktien oder eine sonstige Transaktion (z.B. den Erwerb eines Derivates) getätigt zu haben. Derartige Schadensersatzansprüche sind – wie das OLG München in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der ganz herrschenden Meinung in der Literatur – zutreffend feststellt, nicht ebenfalls in den doppelten Nachrang des § 199 InsO verwiesen, weil es dafür an einer gesetzlichen Anordnung fehlt. In der zu Beginn des Jahrtausends ausführlich geführten Debatte um diese Frage waren entsprechende rechtspolitische Forderungen zwar erhoben worden, ohne dass sie der Gesetzgeber aufgegriffen hätte (vgl. dazu Bitter/Jochum, ZIP 2021, 653, 655 ff.). Deshalb sind die Schadensersatzansprüche der Anleger wegen fehlerhafter Kapitalmarktinformation in gleicher Weise wie andere Drittgläubigeransprüche bei der Verteilung der Insolvenzmasse im Rang des § 38 InsO zu berücksichtigen.

Die gegen jene klare, bis zum Reichsgericht zurückreichende Rechtsprechung vorgebrachten Einwände des Insolvenzverwalters werden vom OLG München knapp, aber überzeugend zurückgewiesen. Die Revision zum BGH hat das OLG zugelassen und damit den Weg in die höchste deutsche zivilrechtliche Instanz eröffnet. Die 50.000 Aktionäre werden sich deshalb noch einige Zeit gedulden müssen, zumal das Bestehen von Schadensersatzansprüchen in diesem „Pilotverfahren“ – wie ausgeführt – noch nicht festgestellt wurde.

Prof. Dr. Peter O. Mülbert, Prof. Dr. Andreas Früh und Dr. Thorsten Seyfried im Interview zu aktuellen Entwicklungen im Bankrecht und im Kapitalmarktrecht

Im Bankrecht und im Kapitalmarktrecht immer auf dem neuesten Stand zu bleiben, ist selbst für Experten eine Herausforderung. Aktuell müssen sich Berater insbesondere mit neuen Entwicklungen bei den Bankprodukten und den bankrechtlichen Rahmenbedingungen, dem im Frühjahr verabschiedeten sog. Banking Reform Package sowie mit zahlreichen Neuerungen im Commercial Banking auseinandersetzen. Ich habe mit den Herausgebern des Handbuchs zum Bank- und Kapitalmarktrecht, Prof. Dr. Peter O. Mülbert[1], Prof. Dr. Andreas Früh[2] und Dr. Thorsten Seyfried[3], über die wichtigsten Veränderungen und deren Aufbereitung im neuen „Kümpel“ gesprochen.

Peters: Zum Einstieg würde ich gerne wissen, ob es wichtige allgemeine Tendenzen im Bank- und Kapitalmarktrecht gibt, die man unabhängig von einzelnen Bankdienstleistungen gewissermaßen „vor die Klammer ziehen“ könnte?

Mülbert: Ja, die gibt es und einige davon haben wir im „Kümpel“ in der Tat in der Einführung „vor die Klammer gezogen“: Zunächst ist zu nennen die Internationalisierung und dabei vor allem die weitere Europäisierung des Bankrechts. Diese geht im Übrigen einher mit einer weiteren Tendenz, nämlich der zunehmenden Auflösung der Grenzen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bankrecht – ganz einfach, weil das europäische Recht diese Unterscheidung so nicht kennt, sondern in Zielen denkt. Und schließlich driftet das verbraucherschützende Element des Bankrechts immer mehr in die Richtung eines paternalistischen Konzeptes eine Entwicklung, die so gar nicht zur Grundidee des BGB passen will.

Peters: Auch in der 5. Auflage stellt der „Kümpel“ der Darstellung der einzelnen Produkte des Commercial und des Investment Banking einen Teil zum Bankaufsichtsrecht voran. Was ist denn hier an Neuerungen besonders hervorzuheben?

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 Früh: Richtig, uns war es wichtig, den bankaufsichtsrechtlichen Rahmen systematisch gegliedert, mit bewusster Schwerpunktsetzung voranzustellen, wohingegen der Leser die Besprechung einzelner Vorschriften richtigerweise in Kommentaren suchen wird; ähnliches haben wir mit den Grundzügen des Kapitalmarktrechts vor dem Investment Banking gemacht. Als ganz aktuelles Thema ist sicherlich das sog. Banking Reform Package zu nennen, das erst am 16. April vom Europäischen Parlament verabschiedet wurde; wir sind daher froh, dass dieses dennoch bereits in die Neuauflage Eingang finden konnte. Hier wird es eine Vielzahl von Neuerungen in den Bereichen Eigenkapital, Liquidität und Verschuldung, sowie beim SREP-Prozess und im Meldewesen geben, die mit entsprechenden Befugnissen der Bankenaufsicht sowie Änderungen bei der Bankenabwicklung einhergehen. Dabei geht es letztlich darum, den Weg insbesondere für ein Einheitliches Europäisches Einlagensicherungssystem (EDIS) zu ebnen und damit die Europäische Bankenunion „zu vollenden“.

Peters: Welche Entwicklungen waren denn im Commercial Banking vor allem zu berücksichtigen?

Seyfried: Wirklich unzählige, da Gesetzgeber, Gerichte und Aufsichtsbehörden außerordentlich aktiv waren und sind. Insofern können wir hier nur einige wenige nennen: Bei den übergreifenden Themen wurden vor allem die Aufklärungspflichten der Banken deutlich ausgebaut und die von den Banken vereinnahmten Entgelte einer immer kritischeren Würdigung unterzogen. Im Zahlungsverkehr gibt es nicht nur eine Vielzahl technisch bedingter neuer Produkte und Haftungsfragen, sondern zugleich neue rechtliche Rahmenbedingungen. Im Einlagengeschäft sowie – spiegelbildlich – im Kreditgeschäft macht es das sog. Negativzinsumfeld notwendig, zu überlegen, wie man dieser Entwicklung rechtlich Rechnung tragen kann. Ganz generell sollen viele Produkte en-to-end digitalisiert werden; insbesondere das BGB ist hierauf noch nicht ausgerichtet.

Peters: Um noch einmal auf den „Kümpel“ zurückzukommen: Der ist ja gerade unter dem neuen Herausgeberteam erschienen. Ist die 5. Auflage im Wesentlichen eine Aktualisierung des Werkes oder gibt es neben den bereits genannten noch weitere Neuerungen?

Früh: Wir haben versucht, zunächst alle Stärken – und davon gibt es viele dieser von Siegfried Kümpel begründeten Gesamtdarstellung des Bankrechts und des Kapitalmarktrechts zu erhalten. Gleichzeitig wollten wir eine Reihe von Ideen umsetzen: Mit der noch konsequenteren Ausrichtung der Darstellung auf die Produkte und Dienstleistungen (und weniger auf die Rechtsgebiete) soll das Werk noch praxisbezogener sein. Auch das neue Autorenteam schafft eine Verbreiterung der Bankpraxis. Gleichzeitig soll durch die neuen Herausgeber und die Autoren eine Verbindung zur Wissenschaft und damit ein Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs gewährleistet werden. Den neuen Entwicklungen bei den Bankprodukten und den bankrechtlichen Rahmenbedingungen trägt eine behutsame Anpassung der Schwerpunktsetzung Rechnung.

 

[1] Prof. Dr. Peter O. Mülbert ist Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Bankrecht, Universität Mainz, und Direktor des Instituts für deutsches und internationales Recht des Spar-, Giro- und Kreditwesens.

[2] Prof. Dr. Andreas Früh ist Rechtsanwalt, Syndikusrechtsanwalt und Honorarprofessor an der Universität Augsburg.

[3] Dr. Thorsten Seyfried ist General Counsel Germany & EMEA, General Counsel Wealth Management & PCC Int. und Managing Director bei der Deutschen Bank.

Das Interview hat Dr. Birgitta Peters, Geschäftsbereichsleiterin Recht im Verlag Dr. Otto Schmidt, geführt.