Grundsatz: Werkstattrisiko liegt beim Schädiger
Schon nach der bisherigen Rechtsprechung lag das Werkstattrisiko grundsätzlich beim Schädiger (BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 42/73, MDR 1975, 218). Der Geschädigte, der sein Fahrzeug nach einem Verkehrsunfall einer Werkstatt anvertraut, darf darauf vertrauen, dass die Reparatur ordnungsgemäß erfolgen wird. Dies galt nur dann nicht, wenn den Geschädigten ein Verschulden (v. a. bei der Auswahl oder der Überwachung der Werkstatt) traf oder die Reparaturen dem Unfall gar nicht mehr zuzurechnen waren. Etwaige Ansprüche gegen die Werkstatt muss der Geschädigte im Wege des Vorteilsausgleichs dem Schädiger abtreten (zum Ganzen Zwickel, in: Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl., Köln 2021, Rz. 27.47 m. w. N.).
Bei diesen Grundsätzen bleibt es. Am 16.1.2024 hat der BGH aber in gleich fünf Urteilen seine Rechtsprechung zum sog. Werkstattrisiko deutlich ausgebaut und präzisiert (Pressemitteilung Nr. 7/2024 zu den Urteilen v. 16.1.2024 – VI ZR 38/22, VI ZR 239/22, VI ZR 253/22, VI ZR 266/22 und VI ZR 51/23; Urteile derzeit noch nicht veröffentlicht!).
Präzisierung 1: Schädiger trägt auch das Risiko für Abrechnung gar nicht durchgeführter Arbeiten
Der Schädiger trägt nach der Entscheidung des BGH v. 16.1.2024 – VI ZR 253/22 auch dann das Werkstattrisiko, wenn gar nicht durchgeführte Arbeiten in Rechnung gestellt werden. Auch in diesem Fall erfolgt nämlich, so der BGH, die Reparatur außerhalb der Sphäre des Geschädigten.
Präzisierung 2: Auswahl- und Überwachungsverschulden des Geschädigten – Keine vorherige Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Werkstattauswahl erforderlich
Zudem schärft der BGH den Begriff des Auswahl- und Ãœberwachungsverschuldens nach. Auch dann, wenn der Geschädigte die Reparatur und die Auswahl des Sachverständigen vollständig der Werkstatt überlässt, liegt kein Auswahl- und Ãœberwachungsverschulden vor. Er ist nämlich nicht verpflichtet, ein Sachverständigengutachten zur Auswahl der Reparaturwerkstatt einzuholen (Urt. v. 16.1.2024 – VI ZR 51/23).
Präzisierung 3: Werkstattrisiko bei noch nicht beglichener Reparaturrechnung
Die Rechtsprechung zu den Sachverständigenkosten, deren Erforderlichkeit nur durch eine bezahlte Rechnung bewiesen werden kann, überträgt der BGH gerade nicht auf die Reparaturkosten. Vielmehr gelten die Grundsätze zum Werkstattrisiko auch im Falle einer nicht oder nur teilweise beglichenen Reparaturrechnung. Wer aber das Werkstattrisiko letztlich trägt, richtet sich dann nach dem Klageantrag:
- Hat der Geschädigte die Werkstattrechnung noch nicht oder noch nicht vollständig beglichen und verlangt er Zahlung an sich selbst, trägt er das Werkstattrisiko. Eine Abtretung der Ansprüche gegen die Werkstatt geht nämlich ins Leere, wenn der Geschädigte nach Erhalt der Schadensersatzzahlung vom Schädiger nicht an die Werkstatt zahlt.
- Vermeiden kann der Geschädigte das Werkstattrisiko, indem er nicht Zahlung an sich selbst, sondern an die Werkstatt verlangt. Er kann seinen Klageantrag auf Zahlung an die Werkstatt Zug um Zug gegen Abtretung der Ansprüche gegen die Werkstatt umstellen und fortan nicht mehr Zahlung an sich selbst verlangen (Urt. v. VI ZR 253/22, VI ZR 51/23). Er verlagert so das Werkstattrisiko auf die Reparaturwerkstatt, die sich darauf nie berufen kann.
- Verlangt der Geschädigte Befreiung von der Verbindlichkeit gegenüber der Werkstatt, trägt er im Ergebnis das Werkstattrisiko, weil es darauf ankommt, welcher Betrag nach Werkvertragsrecht geschuldet ist.
Präzisierung 4: Bei Abtretung profitiert der Abtretungsempfänger nicht von den Grundsätzen des Werkstattrisikos
Bei Abtretung (etwa an die Reparaturwerkstatt) trägt stets der Abtretungsempfänger (Zessionar), d. h. in vielen Fällen die Reparaturwerkstatt, das Werkstattrisiko, da der Geschädigte „ein besonders schützenswertes Interesse daran hat, dass der Geschädigte sein Gläubiger bleibt“ (Urt. v. VI ZR 38/22, VI ZR 239/22). Damit baut der BGH die im Urteil vom 26. 4.2022 -VI ZR 147/21 lediglich angedeutete Rechtsprechungslinie aus.
Fazit
Auch wenn derzeit die Urteilsgründe noch nicht veröffentlicht sind, überzeugen die Präzisierungen des BGH in ihren Grundlinien.
Der Geschädigte hat keinen Einblick in die Sphäre der Reparaturwerkstätten. Er kann sich daher stets auf das sog. Werkstattrisiko berufen. Der Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherung kann dann, auf Basis abgetretener Ansprüche aus dem Werkvertrag, gegen die Werkstatt vorgehen. Ob künftig massenhaft Prozesse zwischen Haftpflichtversicherungen und Werkstätten geführt werden, ist offen.
Rückt die Reparaturwerkstatt selbst nah an eine Gläubigerstellung heran (z. B. bei nicht bezahlter Rechnung und Klageantrag auf Zahlung an die Werkstatt) oder wird sie sogar selbst Gläubigerin (z. B. bei Abtretung), greifen Erwägungen, die den Geschädigten schützen sollen, nicht mehr Platz, denn die Reparaturwerkstatt kann sich selbstverständlich nicht auf das Werkstattrisiko berufen.
Hinweis: Eine genaue Einordnung/Analyse der Entscheidungen wird Gegenstand eines Aufsatzes in der MDR sein. Â