Blog-Update Haftungsrecht: Ersatz von Desinfektionskosten unterliegt einer Plausibilitätskontrolle (BGH)

In seinem Urteil vom 23.4.2024 (Az. VI ZR 348/21) hatte sich der BGH erneut mit Desinfektionskosten in der Corona-Pandemie zu befassen.

Kurzzusammenfassung des Sachverhalts

Der PKW des Geschädigten (Kläger) wurde bei einem Verkehrsunfall mit einem bei der beklagten Haftpflichtversicherung versicherten Kfz beschädigt. Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach stand außer Streit. Die Werkstatt stellte dem Kläger für Corona-Schutzmaßnahmen insgesamt 157,99 € (inklusive 16 % Mehrwertsteuer) in Rechnung, die er an die Werkstatt zahlte. Die Beklagte hielt die Kosten nicht für ersatzfähig. Das AG Hamburg-Harburg hat der Klage in voller Höhe nebst Zinsen stattgegeben Das LG Hamburg kürzte im Berufungsverfahren den Betrag auf 33,18 € nebst Zinsen.

Bisherige Aussagen zur Ersatzfähigkeit von Desinfektionskosten

Auf Basis der bisherigen Rechtsprechung des BGH (BGH v. 12.12.2022 – VI ZR 324/21, sh. dazu Zwickel, MDR 2023, R92) wurde vielfach davon ausgegangen, Corona-Desinfektionskosten seien generell in der von der Werkstatt bzw. dem Sachverständigen berechneten Höhe ersatzfähig. Begründet wurde das vom BGH mit dem sog. Werkstattrisiko. Demnach sind objektiv nicht erforderliche Kosten zu ersetzen, wenn sich der Geschädigte auf die Grundsätze der Risikotragung berufen kann (sh. dazu ausführlich Zwickel, https://blog.otto-schmidt.de/mdr/2024/01/23/bgh-zum-werkstattrisiko-wer-zahlt-fuer-ueberhoehte-reparaturrechnungen/ und https://blog.otto-schmidt.de/mdr/2024/06/04/blog-update-haftungsrecht-werkstattrisiko-sachverstaendigenrisiko-bgh/, Stand: 19.6.2024). Die subjektbezogene Schadensbetrachtung gebietet es, den Schädiger das Risiko für überhöhte oder fehlerhafte Rechnungen tragen zu lassen. Der Schädiger hat auch für überhöhte Preise und für gar nicht erbrachte Leistungen Schadenersatz i. S. d. § 249 Abs. 2 S. 1 BGB zu zahlen. Im Gegenzug hat er einen Anspruch auf Abtretung der Ansprüche des Geschädigten gegen die Werkstatt bzw. den Sachverständigen Zug um Zug gegen seine Schadenersatzleistung.

Besondere Bedeutung der Plausibilitätskontrolle

Die vorliegende BGH-Entscheidung macht nun deutlich, dass Kosten auch bei Anwendung dieser Grundsätze der Risikotragung nicht in unbeschränkter Höhe ersatzfähig sind. Die Grundsätze des Werkstatt- bzw. Sachverständigenrisikos greifen nämlich dann nicht, wenn dem Geschädigten ein Auswahl- oder Überwachungsverschulden vorzuwerfen ist. Ein Auswahlverschulden liegt vor, wenn die Auswahl der Werkstatt bzw. des Sachverständigen unsorgfältig erfolgt, z. B. wenn zu vereinbarende Preise dem Geschädigten in keiner Weise erkennbar sind und er sich damit zufrieden gibt. Nach Vertragsschluss bleibt der Geschädigte zur Überwachung der Werkstatt bzw. des Sachverständigen verpflichtet. Es wird erwartet, dass er moniert, wenn die Werkstatt deutlich von den vereinbarten Preisen abweicht oder erkennbar überhohe Preise aufruft. Insbesondere ist der Geschädigte zu einer sog. Plausibilitätskontrolle der bei Vertragsschluss vereinbarten oder später berechneten Preise verpflichtet. Hätte der Geschädigte die Überhöhung bzw. Nichterbringung von Leistungen erkennen können, kann er sich nicht auf die Grundsätze des Werkstatt- bzw. Sachverständigenrisikos berufen. Einen solchen Fall des Auswahlverschuldens bejaht der BGH vorliegend. Er führt aus:

„Es [Das Berufungsgericht…] ist in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass sich der Klägerin im Rahmen der ihr obliegenden Plausibilitätskontrolle geradezu aufdrängen musste, dass diese Kosten für Desinfektionsmaßnahmen deutlich überhöht waren. Das Berufungsgericht hat das jedermann zur Verfügung stehende alltägliche Erfahrungswissen während der Pandemie als Grundlage der der Klägerin obliegenden Plausibilitätskontrolle herangezogen und angenommen, dass besondere Sachkunde für diese Prüfung nicht erforderlich war.“ (BGH v. 23.4.2024 – VI ZR 348/21)

Ersatzfähig sind in einem solchen Fall des Nichteingreifens der Grundsätze der Risikotragung nur die objektiv erforderlichen Kosten. Im Wege der Schadensschätzung (§ 287 ZPO) kam das Berufungsgericht zum Ergebnis, dass im Streitfall Desinfektionskosten nicht in Höhe der berechneten 157,99 € sondern von 33,18 € erforderlich waren.

Fazit

Der Entscheidung des BGH ist uneingeschränkt zuzustimmen. Auch die Grundsätze des Werkstatt- bzw. Sachverständigenrisikos können nicht dazu führen, dass überhöhte Rechnungen oder gar nicht durchgeführte Arbeiten stets vollumfänglich zu zahlen sind. Dadurch würde das dem Geschädigten obliegende Wirtschaftlichkeitsgebot ad absurdum geführt werden. Zu Recht misst daher der BGH der einer Anwendung der Grundsätze zum Werkstatt- bzw. Sachverständigenrisiko gedanklich vorgeschalteten Frage nach einer vom Geschädigten durchzuführenden Plausibilitätskontrolle besondere Bedeutung zu.

Mit anderen Worten: Die Geister eines sehr weitgehenden Ersatzes objektiv nicht nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB erforderlicher Kosten, die der BGH unter dem Gesichtspunkt des Werkstatt- bzw. Sachverständigenrisikos gerufen hat, wird er jetzt auf dem Weg einer dem Geschädigten obliegenden Plausibilitätskontrolle z.T. wieder los. Dadurch gewinnen Aspekte der objektiven Erforderlichkeit doch wieder an Bedeutung (sh. dazu schon Zwickel, MDR 2023, R92). Zu ersetzen ist dann nämlich nur der objektiv erforderliche Betrag.

Für Ersatzbegehren von Desinfektionskosten gilt nach dem BGH-Urteil demnach:

Grundsätzlich sind Desinfektionskosten ersatzfähig. Bei Anwendbarkeit der Grundsätze zum Werkstatt- und Sachverständigenrisiko gilt dies auch für überhöhte Kosten.

Dem Geschädigten sind aber überhöhte Desinfektionskosten bei einer Plausibilitätskontrolle regelmäßig erkennbar, da eine Desinfektion während der Corona-Pandemie in fast allen Bereichen üblich war. In einem solchen Fall sind nur die objektiv erforderlichen Kosten der Hygienemaßnahmen zu ersetzen.

Blog Update Haftungsrecht: Werkstattrisiko = Sachverständigenrisiko (BGH)

Die neue BGH-Rechtsprechung

Im Januar 2024 hatte der BGH in mehreren Urteilen seine Rechtsprechung zum sogenannten Werkstattrisiko ausgebaut und präzisiert (siehe dazu https://blog.otto-schmidt.de/mdr/2024/01/23/bgh-zum-werkstattrisiko-wer-zahlt-fuer-ueberhoehte-reparaturrechnungen/).

In einer Entscheidung vom 12. März 2024, Az. VI ZR 280/22 übertrug der BGH nun die neuen Grundsätze zum Werkstattrisiko auch auf den Sachverständigen.

Grundsätze zum Werkstattrisiko

Um welche Grundsätze geht es?

Das Werkstattrisiko liegt grundsätzlich beim Schädiger. Der Geschädigte darf darauf vertrauen, dass die Reparatur in der Werkstatt ordnungsgemäß erfolgen wird. Auch überhöhte Rechnungen hat der Schädiger also zu bezahlen, es sei denn, den Geschädigten traf ein Verschulden (v.a. bei der Auswahl oder der Überwachung der Werkstatt; zum Ganzen Zwickel, in: Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl., Köln 2021, Rz. 27.47 m. w. N.).

Dies gilt auch, wenn die Rechnung noch nicht bezahlt ist. Will in einem solchen Fall der Geschädigte das Risiko überhöhter Rechnungen nicht tragen, kann er nur Zahlung an die Werkstatt verlangen. Hat sich die Werkstatt die Forderung abtreten lassen, hat sie die Erforderlichkeit der Reparaturkosten darzulegen und zu beweisen.

Übertragung dieser Grundsätze auf den Sachverständigen

Diese Grundsätze gelten in identischer Form für Sachverständigenkosten. Dies begründet der BGH damit, dass auch beim Sachverständigen der Geschädigte nur sehr eingeschränkte Erkenntnis-, Einwirkungs- und Aufklärungsmöglichkeiten hat.

Der Schädiger hat also grundsätzlich auch überhöhte Sachverständigenkosten zu begleichen. Er kann im Gegenzug vom Geschädigten die Abtretung von dessen Ansprüchen gegen den Sachverständigen verlangen. Dies gilt aber nicht in allen Fällen. Vielmehr gelten folgende Maßgaben:

  • Bei bezahlter Rechnung gelten die o. g. Grundsätze uneingeschränkt, d. h. der Schädiger trägt stets das Sachverständigenrisiko.
  • Bei nicht bezahlter Rechnung über die Sachverständigenkosten kann der Geschädigte, will er das Sachverständigenrisiko nicht tragen, nur Zahlung an den Sachverständigen Zug um Zug gegen Abtretung etwaiger Ansprüche des Geschädigten gegen den Sachverständigen verlangen.
  • Bei Abtretung der Ansprüche an den Sachverständigen kann sich der Sachverständige als Zessionar nicht auf die Grundsätze des Sachverständigenrisikos berufen.

Prüfungsschema in vier Schritten

Die Sachverständigen- und die Werkstattkosten sind daher in folgenden Schritten zu prüfen (für die Rechtslage vor dem hier besprochenen Urteil sh. Zwickel in Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl., Köln 2021, Rz. 29.7):

  • Schritt 1: Grundsatz: Der Schädiger trägt das Risiko überhöhter Kosten.
    Der Geschädigte ist nicht zur Marktforschung verpflichtet.
  • Schritt 2: Ausnahme: Auswahl-/Überwachungsverschulden des Geschädigten?
    Geschädigter hat eine Plausibilitätskontrolle vorzunehmen.
  • Schritt 3: Beglichene Rechnung?
    • Schritt 3.1: Ja?
      (Überhöhte) Kosten sind ersatzfähig.
    • Schritt 3.2: Nein?
      • Schritt 3.2.1: Geschädigter verlangt Zahlung an sich selbst?
        Geschädigter hat Durchführung und Erforderlichkeit der Maßnahmen dazulegen und zu beweisen.
      • Schritt 3.2.2: Geschädigter verlangt Zahlung an den Sachverständigen/an die Werkstatt Zug um Zug gegen Abtretung der eigenen Ansprüche gegen den Sachverständigen/die Werkstatt?
        (Überhöhte) Kosten sind ersatzfähig.
      • Schritt 3.2.3.: Geschädigter verlangt Befreiung von der Verbindlichkeit gegenüber dem Sachverständigen/der Werkstatt?
        Geschädigter hat Durchführung und Erforderlichkeit der Maßnahmen darzulegen und zu beweisen.
    • Schritt 4: Abtretung an den Sachverständigen/an die Werkstatt?
      Sachverständiger/Werkstatt hat Durchführung und Erforderlichkeit der Maßnahmen darzulegen und zu beweisen.

Fazit

Die Übertragung der neuen Rechtsprechung zum Werkstattrisiko auch auf Sachverständige ist stimmig, weil die Situation in der der Geschädigte sein beschädigtes Fahrzeug dem Sachverständigen zur Begutachtung übergibt, derjenigen entspricht, in der er es einer Reparaturwerkstatt überlässt. In beiden Fällen hat der Geschädigte keinen Einblick in die Sphäre des Sachverständigen bzw. der Werkstatt.

Im Bereich der Sachverständigenkosten führt das Urteil zu einer Aufgabe der bisherigen BGH-Rechtsprechung. Früher stellte die beglichene Sachverständigenrechnung ein wichtiges Indiz für die Erforderlichkeit der Kosten dar. Jetzt kann der Geschädigte, wenn er die Rechnung gezahlt hat oder Zahlung an den Sachverständigen/die Werkstatt Zug um Zug gegen Abtretung der entsprechenden Ansprüche fordert, auch nicht erforderliche, überhöhte Kosten ersetzt verlangen. Der Streit über die Erforderlichkeit der Kosten wird dann auf den Regressweg zwischen Schädiger und Sachverständigem verwiesen.

Die anwaltliche Beratung könnte sich künftig vom Rat an den Geschädigten zur Bezahlung der Rechnung an den Sachverständigen bzw. die Werkstatt hin zu einem bloßen Verlangen an den Versicherer, die Zahlung direkt an den Sachverständigen bzw. die Werkstatt vorzunehmen, verschieben. In diesem vom BGH ins Spiel gebrachten, letztgenannten Fall ist der Geschädigte freilich darauf angewiesen, dass sich der Sachverständige bzw. die Werkstatt auf diese Abwicklung einlässt.

Hinweis: Eine genaue Einordnung/Analyse der Entscheidung wird Gegenstand eines Aufsatzes in der MDR sein.

Blog Update Haftungsrecht: BGH zum Werkstattrisiko – Wer zahlt für überhöhte Reparaturrechnungen?

Grundsatz: Werkstattrisiko liegt beim Schädiger

Schon nach der bisherigen Rechtsprechung lag das Werkstattrisiko grundsätzlich beim Schädiger (BGH v. 29.10.1974 – VI ZR 42/73, MDR 1975, 218). Der Geschädigte, der sein Fahrzeug nach einem Verkehrsunfall einer Werkstatt anvertraut, darf darauf vertrauen, dass die Reparatur ordnungsgemäß erfolgen wird. Dies galt nur dann nicht, wenn den Geschädigten ein Verschulden (v. a. bei der Auswahl oder der Überwachung der Werkstatt) traf oder die Reparaturen dem Unfall gar nicht mehr zuzurechnen waren. Etwaige Ansprüche gegen die Werkstatt muss der Geschädigte im Wege des Vorteilsausgleichs dem Schädiger abtreten (zum Ganzen Zwickel, in: Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl., Köln 2021, Rz. 27.47 m. w. N.).

Bei diesen Grundsätzen bleibt es. Am 16.1.2024 hat der BGH aber in gleich fünf Urteilen seine Rechtsprechung zum sog. Werkstattrisiko deutlich ausgebaut und präzisiert (Pressemitteilung Nr. 7/2024 zu den Urteilen v. 16.1.2024 – VI ZR 38/22, VI ZR 239/22, VI ZR 253/22, VI ZR 266/22 und VI ZR 51/23; Urteile derzeit noch nicht veröffentlicht!).

Präzisierung 1: Schädiger trägt auch das Risiko für Abrechnung gar nicht durchgeführter Arbeiten

Der Schädiger trägt nach der Entscheidung des BGH v. 16.1.2024 – VI ZR 253/22 auch dann das Werkstattrisiko, wenn gar nicht durchgeführte Arbeiten in Rechnung gestellt werden. Auch in diesem Fall erfolgt nämlich, so der BGH, die Reparatur außerhalb der Sphäre des Geschädigten.

Präzisierung 2: Auswahl- und Überwachungsverschulden des Geschädigten – Keine vorherige Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Werkstattauswahl erforderlich

Zudem schärft der BGH den Begriff des Auswahl- und Überwachungsverschuldens nach. Auch dann, wenn der Geschädigte die Reparatur und die Auswahl des Sachverständigen vollständig der Werkstatt überlässt, liegt kein Auswahl- und Überwachungsverschulden vor. Er ist nämlich nicht verpflichtet, ein Sachverständigengutachten zur Auswahl der Reparaturwerkstatt einzuholen (Urt. v. 16.1.2024 – VI ZR 51/23).

Präzisierung 3: Werkstattrisiko bei noch nicht beglichener Reparaturrechnung

Die Rechtsprechung zu den Sachverständigenkosten, deren Erforderlichkeit nur durch eine bezahlte Rechnung bewiesen werden kann, überträgt der BGH gerade nicht auf die Reparaturkosten. Vielmehr gelten die Grundsätze zum Werkstattrisiko auch im Falle einer nicht oder nur teilweise beglichenen Reparaturrechnung. Wer aber das Werkstattrisiko letztlich trägt, richtet sich dann nach dem Klageantrag:

  • Hat der Geschädigte die Werkstattrechnung noch nicht oder noch nicht vollständig beglichen und verlangt er Zahlung an sich selbst, trägt er das Werkstattrisiko. Eine Abtretung der Ansprüche gegen die Werkstatt geht nämlich ins Leere, wenn der Geschädigte nach Erhalt der Schadensersatzzahlung vom Schädiger nicht an die Werkstatt zahlt.
  • Vermeiden kann der Geschädigte das Werkstattrisiko, indem er nicht Zahlung an sich selbst, sondern an die Werkstatt verlangt. Er kann seinen Klageantrag auf Zahlung an die Werkstatt Zug um Zug gegen Abtretung der Ansprüche gegen die Werkstatt umstellen und fortan nicht mehr Zahlung an sich selbst verlangen (Urt. v. VI ZR 253/22, VI ZR 51/23). Er verlagert so das Werkstattrisiko auf die Reparaturwerkstatt, die sich darauf nie berufen kann.
  • Verlangt der Geschädigte Befreiung von der Verbindlichkeit gegenüber der Werkstatt, trägt er im Ergebnis das Werkstattrisiko, weil es darauf ankommt, welcher Betrag nach Werkvertragsrecht geschuldet ist.

Präzisierung 4: Bei Abtretung profitiert der Abtretungsempfänger nicht von den Grundsätzen des Werkstattrisikos

Bei Abtretung (etwa an die Reparaturwerkstatt) trägt stets der Abtretungsempfänger (Zessionar), d. h. in vielen Fällen die Reparaturwerkstatt, das Werkstattrisiko, da der Geschädigte „ein besonders schützenswertes Interesse daran hat, dass der Geschädigte sein Gläubiger bleibt“ (Urt. v. VI ZR 38/22, VI ZR 239/22). Damit baut der BGH die im Urteil vom 26. 4.2022 -VI ZR 147/21 lediglich angedeutete Rechtsprechungslinie aus.

Fazit

Auch wenn derzeit die Urteilsgründe noch nicht veröffentlicht sind, überzeugen die Präzisierungen des BGH in ihren Grundlinien.

Der Geschädigte hat keinen Einblick in die Sphäre der Reparaturwerkstätten. Er kann sich daher stets auf das sog. Werkstattrisiko berufen. Der Schädiger bzw. dessen Haftpflichtversicherung kann dann, auf Basis abgetretener Ansprüche aus dem Werkvertrag, gegen die Werkstatt vorgehen. Ob künftig massenhaft Prozesse zwischen Haftpflichtversicherungen und Werkstätten geführt werden, ist offen.

Rückt die Reparaturwerkstatt selbst nah an eine Gläubigerstellung heran (z. B. bei nicht bezahlter Rechnung und Klageantrag auf Zahlung an die Werkstatt) oder wird sie sogar selbst Gläubigerin (z. B. bei Abtretung), greifen Erwägungen, die den Geschädigten schützen sollen, nicht mehr Platz, denn die Reparaturwerkstatt kann sich selbstverständlich nicht auf das Werkstattrisiko berufen.

Hinweis: Eine genaue Einordnung/Analyse der Entscheidungen wird Gegenstand eines Aufsatzes in der MDR sein.  

 

Blog-Update Haftungsrecht: Ersatz der vollen Reparaturkosten auch bei Instandsetzung des Fahrzeugs in der eigenen Werkstatt des Geschädigten (BGH)?

In seinem Urteil vom 26.5.2023 (Az. VI ZR 274/22, MDR 2023, 1044) hat der BGH die Grundsätze der Kosten für die Fahrzeugreparatur infolge von Verkehrsunfällen bei einer Reparatur in der eigenen Reparaturwerkstatt des Geschädigten präzisiert. Vor allem aber hat der BGH diese Grundsätze auch auf die fiktive Schadensabrechnung erstreckt.

Im vom BGH entschiedenen Fall wurde der PKW der Betreiberin einer Kfz-Reparaturwerkstatt (Klägerin) bei einer Kollision mit einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug beschädigt. Die Klägerin rechnete die Reparaturkosten fiktiv auf Gutachtenbasis ab. Die beklagte Haftpflichtversicherung zog von den Reparaturkosten 20 % Unternehmergewinn ab, woraufhin die Beklagte auf Ersatz des verbliebenden Betrages klagte. Die Klage wurde in erster Instanz abgewiesen, die Berufung zurückgewiesen. Auch die Revision zum BGH hatte keinen Erfolg.

Bestätigung der Grundsätze zur Instandsetzung in der eigenen Werkstatt

Üblicherweise kann der Geschädigte frei entscheiden, wie er den für die Reparatur erforderlichen Betrag einsetzen will. Auch ein Geschädigter, der sein Fahrzeug in der Freizeit selbst repariert, erhält daher den im Gutachten ausgewiesenen Betrag, der für die Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt erforderlich ist.

Eine Ausnahme gilt aber, wie der BGH 1970 und 1983 für Verkehrsbetriebe mit eigener Werkstatt (BGH v. 26.5.1970 – VI ZR 168/68, BGHZ 54, 82 = MDR 1970, 751; BGH v. 31.5.1983 – VI ZR 241/79, MDR 1984, 39) und 2013 für Kfz-Reparaturwerkstätten entschieden hat (BGH v. 19.11.2013 – VI ZR 363/12, MDR 2014, 213), wenn der Geschädigte Kraftfahrzeuge gewerbsmäßig repariert. Unter Umständen kann man dann nämlich von ihm erwarten, dass er zunächst die Kapazitäten seiner Werkstatt nutzt. Für die Reparatur in einer eigenen Werkstatt des Geschädigten gelten folgende Grundsätze (sh. dazu Zwickel, in: Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl., 2021, Rz. 27.49):

  • Handelt es sich, anders als im nun entschiedenen Fall, um eine Werkstatt, die ausschließlich eigene Fahrzeuge des Geschädigten repariert (z. B. Verkehrsbetriebe), sind nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB grundsätzlich nur die Materialkosten und anteilige Gemeinkosten für die Unterhaltung der Werkstatt als erforderlich anzusehen (BGH v. 26.5.1970 – VI ZR 168/68, BGHZ 54, 82 = MDR 1970, 751; BGH v. 31.5.1983 – VI ZR 241/79, MDR 1984, 39). Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Werkstatt bis an die Kapazitätsgrenze ausgelastet war. Dann sind die Kosten ersatzfähig, die bei einer Fremdreparatur entstanden wären. In diesem Fall, in dem es um die Erforderlichkeit nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB geht, hat der Geschädigte darzulegen und zu beweisen, dass eine Auslastungssituation seiner Werkstatt vorlag.
  • Für eine gewerbliche Kfz-Reparaturwerkstatt, die auch Fremdaufträge annimmt, kommt der BGH, wenn auch mit anderer Begründung, zum gleichen Ergebnis: War der Betrieb nicht durch Fremdaufträge ausgelastet, ist der Unternehmergewinn nicht ersatzfähig. Es können dann nur Materialkosten und anteilige Gemeinkosten für die Unterhaltung der Werkstatt beansprucht werden. War die Werkstatt ausgelastet, sind die Kosten für eine Fremdreparatur ersatzfähig. Im aktuellen Urteil vom 26.5.2023 (Az. VI ZR 274/22, MDR 2023, 1044) ordnet der BGH den letztgenannten Fall ausdrücklich der Schadensminderungspflicht des Geschädigten nach § 254 Abs. 2 S. 1 BGB zu. Der Schädiger trägt die Darlegungs- und Beweislast für die ihm günstige Tatsache, dass der Geschädigte nicht durch Fremdaufträge ausgelastet war und diese Kapazität für die Reparatur hätte einsetzen können. Im Rahmen der sekundären Darlegungslast muss aber der Geschädigte seine betriebliche Situation und Umstände, die die Reparatur im eigenen Betrieb unzumutbar machen, konkret darstellen.

Bezug der Grundsätze auf die fiktive Abrechnung

Zu Recht bezieht der BGH diese Grundsätze auch auf den Fall der fiktiven Abrechnung. Die fiktive Abrechnung ist nur ein anderer Weg der Schadenswiedergutmachung. Es wäre daher nicht einzusehen, wenn der Geschädigte bei fiktiver Abrechnung dadurch privilegiert wäre, dass die Auslastung der Werkstatt bei fiktiver Abrechnung keine Rolle spielt. Auch bei der fiktiven Abrechnung kommt es also darauf an, ob die Werkstatt ausgelastet gewesen ist oder nicht.

Problem: Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bestimmung der Auslastungssituation

Damit ist die Folgefrage schon angedeutet: Welcher Zeitraum ist für die Bestimmung der Auslastungssituation der Fremdaufträge ausführenden Werkstatt bei der fiktiven Abrechnung maßgeblich? Bei der konkreten Schadensabrechnung ist für die Prüfung der Auslastung eines Betriebs zunächst auf den Reparaturzeitraum abzustellen. Darüber hinaus muss man aber auch fragen, ob sich zwischen Unfall und Reparaturbeginn eine Nichtauslastung der Werkstatt mit der Folge des Einsetzens der Schadensminderungspflicht ergeben hat (so auch Heßeler, NJW 2023, 2421, 2422). Noch schwieriger ist es bei der fiktiven Abrechnung. Das Berufungsgericht hatte angenommen, der maßgebliche Zeitraum habe mit der Weiterveräußerung des beschädigten Fahrzeugs geendet. Würde man dem folgen, könnten geschädigte Werkstätten Fahrzeuge stets zeitnah weiterveräußern und dadurch die Schadensminderungspflicht umgehen. Der fiktiv abrechnende Geschädigte wäre dann im Vorteil. Viel spricht deshalb dafür, auch bei der fiktiven Abrechnung auf den Zeitraum der konkreten Auslastung bis zu einer üblichen, gedachten Reparatur zu schauen. Die Beurteilung, wie lange dieser Zeitraum üblicherweise ist, muss der Rechtsprechung der Instanzgerichte überlassen bleiben.

Fazit

Der Entscheidung des BGH ist vollumfänglich zuzustimmen. Insbesondere überzeugt die Annahme, dass eine Reparaturwerkstatt, die Fremdreparaturen mit Gewinnerzielungsabsicht ausführt – soweit die Schadensminderungspflicht des § 254 Abs. 2 S. 1 BGB nichts anderes gebietet – den Unternehmergewinn verlangen kann, während das für eine Werkstatt, die nur eigene Fahrzeuge repariert, nur ausnahmsweise der Fall ist. Geradezu zwingend erscheint die vom BGH vorgenommene Übertragung der für die konkrete Abrechnung erarbeiteten Grundsätze auf die fiktive Abrechnung.

 

 

Von der Indizwirkung der Rechnung zur Indizwirkung der Honorarvereinbarung: Die neue Linie des BGH zur Ersatzfähigkeit von Sachverständigenkosten

Bislang hat der BGH für die Ersatzfähigkeit der Sachverständigenkosten im Rahmen von Straßenverkehrsunfällen der tatsächlichen Begleichung der Rechnung entscheidende Bedeutung beigemessen (BGH v. 17.12.2019 – VI ZR 315/18, MDR 2020, 345 = NJW 2020, 1001; BGH v. 26.4.2016 – VI ZR 50/15, MDR 2016, 1137 = NJW 2016, 3092, 3094).

Das Begleichen der Rechnung bildete ein wesentliches Indiz für die Schadensschätzung nach § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO mit den beiden folgenden Konsequenzen:

  • Darlegung und Beweis des Geschädigten für die Erforderlichkeit der Sachverständigenkosten werden erleichtert.
  • Auf Seite des Schädigers reicht in diesem Fall einfaches Bestreiten der Höhe der Forderung durch den Beklagten nicht mehr aus. Vielmehr muss er qualifiziert zur Erforderlichkeit der Sachverständigenkosten vortragen (BGH v. 19.7.2016 – VI ZR 491/15, MDR 2016, 1378 = NJW 2016, 3363).

In mehreren Entscheidungen aus den Jahren 2022 und 2023 stellt der BGH für die Indizwirkung statt der Begleichung der Rechnung nun maßgeblich auf das Vorliegen einer Honorarvereinbarung ab soweit die Schadenersatzansprüche nicht an Erfüllungs statt abgetreten wurden. Darüber hinaus signalisiert der BGH in den folgenden Entscheidungen, dass das aus dem Werkvertrag mit dem Sachverständigen Geschuldete zu ersetzen ist soweit die fehlende objektive Erforderlichkeit dem Geschädigten im Rahmen der Plausibilitätskontrolle nicht erkennbar war:

  • BGH v. 7.2.2023 – VI ZR 137/22, MDR 2023, 626 = NJW 2023, 1718: Die Preis- oder Honorarvereinbarung mit dem Sachverständigen bildet, wenn nicht zugleich eine Abtretung des Schadenersatzsanspruchs an Erfüllungs statt erfolgt ist, ein Indiz für die Schadensschätzung nach § 287 ZPO.
  • BGH v. 7.2.2023 – VI ZR 138/22, BeckRS 2023, 2753: Es obliegt der unternehmerischen Entscheidung des Sachverständigen, ob er die Kosten für die Inanspruchnahme einer Restwertbörse in sein Grundhonorar einpreist oder extra ausweist.
  • BGH v. 12.12.2022 – VI ZR 324/21, MDR 2023, 361 = NJW 2023, 1057: Die schadensrechtliche Erstattungsfähigkeit einer Corona-Desinfektionskostenpauschale des Sachverständigen richtet sich nach der werkvertraglichen Beziehung zwischen Geschädigtem und Sachverständigem. Ob die Desinfektionskostenpauschale gesondert berechnet wurde oder in das Grundhonorar des Sachverständigen eingepreist wurde, spielt keine Rolle.

Indiz für die Schätzung der Sachverständigenkosten ist damit neuerdings die Honorarvereinbarung soweit nicht Schadenersatzansprüche an Erfüllungs statt an den Sachverständigen abgetreten wurden.

Für die Ersatzfähigkeit von Sachverständigenkosten ergab sich, auf Basis der ständigen Rechtsprechung ein Schema (Zwickel, in: Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rz. 29.7), das nun wie folgt zu ergänzen ist (rot):

  1. Grundsatz: Geschädigter ist nicht zur Marktforschung verpflichtet.
  2. Ausnahme: Erkennbarkeit des deutlichen Überschreitens der branchenüblichen Sätze aus ex-ante-Sicht bzw. Fehlen jeglicher Erkennbarkeit des Honorars
  3. Vorliegen einer Honorarvereinbarung (ohne Abtretung der Forderung an Erfüllungs statt) oder beglichene Rechnung als Indiz für die Erforderlichkeit der Sachverständigenkosten
  4. Ausnahme von der Indizwirkung bei Abtretung der Forderung erfüllungshalber an den Sachverständigen oder eine Verrechnungsstelle

Der BGH betont neuerdings, nach Zeiten einer eher restriktiven, sehr fein ausdifferenzierten Dogmatik zur Erstattung von Sachverständigenkosten, auffällig deutlich die indizielle Bedeutung der Honorarvereinbarung für die Schadensschätzung nach § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO. Diese neue Rechtsprechungslinie findet unschwer Anschluss an die aktuelle Rechtsprechung zum Werkstattrisiko bei konkreter Abrechnung von Reparaturkosten, wo ebenfalls die werkvertragliche Vereinbarung zwischen Geschädigtem und Leistungserbringer (Werkstatt) maßgebliche Grundlage der Schadensschätzung ist (BGH v. 26.4.2022 – VI ZR 147/21, MDR 2022, 1089 = NJW 2022, 2840).

 

Blog Update Haftungsrecht: BGH zum Schockschaden – Besondere Schwere des Schocks ist nicht mehr erforderlich!

Mit seinem Urteil vom 6. Dezember 2022 (BGH v. 6.12.2022 – VI ZR 168/21, MDR 2023, 362) ändert der BGH seine bisherige Linie zum Ersatz von sogenannten Schockschäden. Diese neue Rechtsprechung hat auch Auswirkungen auf den Schockschadenersatz bei Haftung im Straßenverkehr.

Bisherige Rechtsprechung

Nicht jede durch einen Unfall ausgelöste seelische Betroffenheit kann zu einer haftungsbegründenden Gesundheitsverletzung führen. Vielmehr ist eine Abgrenzung zum allgemeinen Lebensrisiko vorzunehmen. Nach bisheriger Rechtsprechung kam daher ein Ersatz für Schockschäden, etwa bei durch Überbringen der Nachricht vom Tod eines nahen Angehörigen erlittenen psychischen Gesundheitsschäden, nur unter folgenden engen Voraussetzungen in Betracht (sh. dazu ausführlich Zwickel, NZV 2015, 214 und Greger in Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rz. 3.43 ff.):

  • Naher Angehöriger: Nach ständiger Rechtsprechung muss zum Verunglückten eine “enge personale Verbundenheit” bestehen.
  • Pathologische Fassbarkeit der Beeinträchtigung: Anders als beim Hinterbliebenengeld (§ 844 Abs. 3 BGB) ist für den Ersatz von Schockschäden eine eigene Gesundheitsverletzung beim Betroffenen erforderlich.
  • Besondere Schwere des Schocks: Der allgemein übliche Trauerschmerz genügte nicht. Vielmehr verlangte der BGH bisher stets, dass die Beeinträchtigungen über die erfahrungsgemäß in solchen Fällen eintretenden nachteiligen gesundheitlichen Folgen hinausgehen.
  • Tod oder schwere Verletzung: Ein Anspruch auf Ersatz von Schockschäden bestand grundsätzlich nur bei Unfalltod oder schwerer Verletzung.

Neue Rechtsprechungslinie nach dem Urteil vom 6. Dezember 2022

Nach dem Urteil des BGH vom 6. Dezember 2022 kommt es auf die beiden letztgenannten Merkmale (Besondere Schwere des Schocks und Tod oder schwere Verletzung des Opfers) nicht mehr an.

Bereits in seinem Urteil vom 27. Januar 2015 (BGH v. 27.1.2015 – VI ZR 548/12, MDR 2015, 391) hat der BGH dem Umstand, ob der Geschädigte den Unfall miterlebt hat oder nicht maßgebliche Bedeutung für die Beurteilung der besonderen Schwere des Schocks beigemessen, ohne mit der ständigen Rechtsprechung zu brechen.

In seinem Urteil vom 6. Dezember 2022 hat der BGH nun genau das getan und das Merkmal besondere Schwere des Schocks ausdrücklich aufgegeben:

„Ist die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar, hat sie also Krankheitswert, ist für die Bejahung einer Gesundheitsverletzung nicht erforderlich, dass die Störung über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind. Der Senat hält diese Änderung im Sinne einer konsequenten Gleichstellung von physischen und psychischen Beeinträchtigungen im Rahmen des § 823 I BGB für geboten.“ (BGH v. 6.12.2022 – VI ZR 168/21, MDR 2023, 362) 

Nunmehr gilt: Ist gesichert, dass das Geschehen bei der nahestehenden Person eine pathologisch fassbare psychische Störung verursacht hat, liegt nun eine Gesundheitsverletzung unabhängig von der Schwere des Schocks vor.

Die Ersatzfähigkeit von Schockschäden ist laut BGH auch nicht von vornherein auf Fälle beschränkt, in denen das nahestehende Opfer getötet oder schwer verletzt worden ist. Im entschiedenen Fall waren die psychischen Gesundheitsschäden durch die Information über den sexuellen Missbrauch der eigenen Tochter ausgelöst worden. Feststellungen zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei der Tochter selbst gab es nicht. Der BGH lässt aber offen, ob eine Einschränkung für Fälle vorzunehmen ist, in denen „der Geschädigte auf Ereignisse besonders empfindlich und „schockartig“ reagiert, die das objektiv nicht rechtfertigen und die im Allgemeinen ohne nachhaltige und tiefe seelische Erschütterungen toleriert zu werden pflegen“ (BGH v. 6.12.2022 – VI ZR 168/21, MDR 2023, 362).

Einordnung des Urteils vom 6. Dezember 2022 und Abgrenzung 

Der BGH weitet durch sein Urteil vom 6. Dezember 2022 die Rechtsprechung zum Schockschaden aus. Eine besondere Schwere des Schocks ist nun, wie von der Literatur seit langem gefordert (Bischoff, MDR 2004, 557, 558; Ch. Huber, NZV 2012, 5, 8; Zwickel, NZV 2015, 214, 215) nicht mehr erforderlich. Zudem kommt ein Schockschadenersatz nicht nur bei Tod bzw. schwerer Verletzung in Frage.

Weitere einengende Elemente des Schockschadenersatzes bleiben aber erhalten. Es fehlt weiterhin am Schutzzweckzusammenhang, wenn der Geschädigte kein naher Angehöriger des Opfers ist. Auch völlig fremde Personen können aber eine psychische Gesundheitsverletzung durch ein Unfallerlebnis erleiden. Dieses Merkmal bleibt damit zweifelhaft (so auch Greger in Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rz. 3.47).

Ein Schockschadenersatz setzt zudem stets eine pathologisch fassbare Gesundheitsbeeinträchtigung voraus. Damit bleibt auch die Frage nach der Abgrenzung von Schockschadenersatz und Hinterbliebenengeld (§ 844 Abs. 3 BGB) relevant, wo eine eigene Gesundheitsverletzung des Anspruchstellers gerade nicht erforderlich ist. Das Hinterbliebenengeld wird aber künftig in (etwas) größerem Umfang durch den Schockschadenersatz verdrängt (sh. dazu Zwickel in Greger/Zwickel, Haftung im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2021, Rz. 31.202 ff.).