Diese Woche geht es um die Grenzen der Möglichkeit, das für die Rechtsnachfolge von Todes wegen maßgebliche Recht auszuwählen.
Verstoß gegen ordre public durch Ausschluss des Pflichtteilsrechts aufgrund Rechtswahl
Urteil vom 29. Juni 2022 – IV ZR 110/21
Mit dem internationalen Erbrecht befasst sich der IV. Zivilsenat.
Der Kläger macht gegen die Beklagte als Alleinerbin seines im Jahr 2018 verstorbenen Adoptivvaters einen Pflichtteilsanspruch geltend.
Der 1936 geborene Erblasser war britischer Staatsbürger. Seit den 60er Jahren hatte er seinen Wohnsitz in Deutschland. Im Jahr 1975 adoptierte er den Kläger, der deutscher Staatsbürger ist und hier auch seinen Wohnsitz hat. In einem Testament aus dem Jahr 2015 setzte der Erblasser die Beklagte zur Alleinerbin ein und wählte für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das englische Recht.
Die auf Auskunft über Bestand und Wert des Nachlasses gerichtete Klage blieb in erster Instanz erfolglos. Das OLG verurteilte die Beklagte überwiegend antragsgemäß.
Die Revision der Beklagten bleibt ohne Erfolg.
Für die Rechtsnachfolge von Todes wegen ist im Streitfall das englische Recht maßgeblich. Gemäß Art. 21 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 (EuErbVO) wäre zwar grundsätzlich das deutsche Recht anwendbar, weil der Erblasser hier seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Nach Art. 22 Abs. 1 EuErbVO war der Erblasser aber befugt, stattdessen das Recht des Staates zu wählen, dem er angehörte, also das englische Recht als Teilrechtsordnung des Vereinigten Königreichs.
Das englische Recht kennt keinen Pflichtteilsanspruch. Es sieht lediglich einen nach richterlichem Ermessen zuzusprechenden Ausgleichsanspruch für bedürftige Abkömmlinge vor. Dem Kläger steht ein solcher Anspruch schon deshalb nicht zu, weil er seinen Wohnsitz (domicile) nicht in England oder Wales hat.
Der hieraus resultierende Ausschluss des Pflichtteilsrechts verstößt offensichtlich gegen den deutschen ordre public. Das Recht auf eine bedarfsunabhängige Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass ihrer Eltern ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. Deshalb ist das englische Recht gemäß Art. 35 EuErbVO insoweit nicht anwendbar. Dem Kläger steht ein Pflichtteilsanspruch nach Maßgabe des deutschen Rechts zu.
Praxistipp: Nach dem bis 31.12.1976 geltenden Adoptionsrecht (§ 1767 BGB aF) konnte das Erbrecht (und damit auch das Pflichtteilsrecht) eines adoptierten minderjährigen Kindes im Adoptionsvertrag ausgeschlossen werden. Solche Vereinbarungen haben aufgrund der Übergangsregelung in Art. 2 § 2 Abs. 2 des Adoptionsgesetzes am 1.1.1978 ihre Wirksamkeit verloren, wenn das Kind am 1.1.1977 noch minderjährig war und bis zum 31.12.1977 kein Beteiligter der Anwendbarkeit des neuen Rechts widersprochen hat.