Blog powered by Zöller: Die Last-Minute-Änderungen beim VDuG – oder: Wer Gutes will und Böses schafft?

Das VRUG wurde im Oktober verkündet (BGBl. 2023 I Nr. 272). Das darin enthaltene VDuG, mit dem erstmals auf Zahlung lautende (Abhilfe-)Klagen von Verbraucherschutzverbänden gegen Unternehmer eingeführt wurden, trat ohne weitere Vorbereitungszeit (am 13.10.2023) in Kraft. Das Gesetzgebungsverfahren war geprägt von Phasen ohne erkennbare Diskussionen – so zwischen dem im September 2022 bekannt gewordenen Referentenentwurf und dem sehr ähnlichen Regierungsentwurf vom 24.4.2023 (BT-Drucks. 20/6520) und den rasanten Änderungen im Rechtsausschuss des Bundestags am 5.7.2023 (BT-Drucks. 20/7631) mit der umgehenden Verabschiedung des Gesetzes am 7.7.2023 (BR-Drucks. 413/23). Eine erste Befassung mit dem fertigen Produkt zeigt, dass ein systematischer Abgleich mancher Last-Minute-Änderung mit dem Konzept des VDuG versäumt wurde. Dies soll anhand von einigen Beispielen aufgezeigt werden:

An- und Abmeldungen zum Klageregister können bis 3 Wochen nach Schluss der letzten mündlichen Verhandlung, in der der Verkündungstermin für das Urteil (§ 13 Abs. 4 VDuG) anberaumt wurde, erfolgen (§ 46 Abs. 1 Satz 1 VDuG; dazu der neue Zöller/G. Vollkommer, § 46 VDuG Rn. 13). Die Länge des Zeitfensters für Anmeldungen war einer der großen politischen Streitpunkte. Der Rechtsausschuss öffnete dieses Fenster jetzt sehr weit. Was nicht gesehen wurde: Damit wird gleichzeitig der zeitliche Anwendungsbereich für den gerichtlich genehmigten Vergleich nach § 9 Abs. 1 Satz 1 VDuG empfindlich verengt, da ein solcher Vergleich erst nach Ablauf der Anmeldefrist geschlossen werden kann (§ 9 Abs. 1 Satz 2 VDuG). Ein Vergleich in einer frühen Phase des Verbandsprozesses, insbesondere zur Vermeidung einer kostspielen Beweisaufnahme, scheint damit ausgeschlossen zu sein. Die Auslegung kann hier Auswege aufzeigen (dazu näher Zöller/G. Vollkommer, § 9 VDuG Rn. 6), befriedigend ist dies jedoch nicht.

Warum die lange Anmeldefrist des § 46 Abs. 1 Satz 1 VDuG auch an einem Sonn- und Feiertag endet (Zöller/G. Vollkommer, § 46 VDuG Rn. 13), wird nicht erklärt; die dies anordnende Vorschrift des § 46 Abs. 1 Satz 2 VDuG lässt sich wohl nur mit der kurzen alten Anmeldefrist bei der ZPO-Musterfeststellungsklage vor dem ersten Termin (und so auch noch der Referentenentwurf) und einem dazu ergangenen (ungewollten) BGH-Beschluss erklären (BGH v. 31.3.2021 – IV AR(VZ) 6/20, MDR 2021, 701). Die rechtlichen Berater müssen diese fortgeschriebene Ausnahmeregelung jedoch künftig beachten.

Solange sich ein Verbraucher noch nicht nach § 46 VDuG angemeldet hat, kann er parallel zur Abhilfeklage selbst klagen. Erst wenn sich das Anmeldefenster schließt, muss er sich entscheiden, ob er die „Flucht in die Abhilfeklage“ antreten will. Denn im Falle der Anmeldung wird der Individualprozess (in den Tatsacheninstanzen, siehe Zöller/G. Vollkommer, § 11 VDuG Rn. 7) in den Fällen des § 11 Abs. 1 VDuG ausgesetzt; Klagen, die erst nach Bekanntmachung der Abhilfeklage erhoben wurden, werden (egal in welchem Rechtszug sie sich befinden) unzulässig (§ 11 Abs. 2 VDuG; Zöller/G. Vollkommer, § 11 VDuG Rn. 4). Diese Regelung des § 11 VDuG wurde von der Musterfeststellungsklage (§ 610 Abs. 3 ZPO aF, § 613 Abs. 2 ZPO aF) übernommen. Unter der Geltung der ZPO war ein Beitritt zur Verbandsklage zeitlich aber nur bis zum Beginn des Verbandsprozesses möglich (siehe oben) – jetzt ist dies genau umgekehrt: Die individuelle Klage kann ohne Anmeldedruck so lange verfolgt und betrieben werden, bis auch die VDuG-Klage irgendwann einmal entscheidungsreif ist. Die beschlossene lange Anmeldefrist führt mittelbar nicht unbedingt zu einer Entlastung der Gerichte (so die Hoffnung wegen der Verjährungshemmung), sondern könnte im Gegenteil zu einem mehrgleisigen Vorgehen (unter Einschaltung von Legal-Tech-Anbietern) anspornen – individuelle und kollektive Arten der Rechtsverfolgung stehen plötzlich weitgehend ungeregelt neben der Verbandsklage.

Eine Prozessfinanzierung wird in § 4 Abs. 2 VDuG unter engen Voraussetzungen erlaubt. Einem Dritten darf (nach der Beschlussfassung des Rechtsausschusses) auch ein wirtschaftlicher Anteil an der vom verklagten Unternehmer zu erbringenden Leistung von nicht mehr als 10 % versprochen werden. Es ist aber unklar, woher dieser Anteil bei einer Abhilfeklage für unbekannte Verbraucher (Abhilfe-Gruppenklage, siehe Zöller/G. Vollkommer, § 1 VDuG Rn. 16) kommen soll (Zöller/G. Vollkommer, § 4 VDuG Rn. 5, 6). Der kollektive Gesamtbetrag (§ 18 Abs. 2 VDuG) steht ausschließlich den angemeldeten Verbrauchern zu (BT-Drucks. 20/6520, 86 und BT-Drucks. 20/7631, 110); diese müssten sich also nachträglich bereit erklären, auf einen Teil ihres Anspruchs zugunsten des Prozessfinanzierers zu verzichten. So viel Edelmut ist kaum zu erwarten.

Große Probleme dürfte schließlich auch noch die mit dem VRUG erlassene hoch komplexe verjährungsrechtliche Übergangsregelung des Art. 229 § 65 EGBGB aufwerfen, die zusätzlich auch noch die nicht fristgerechte Umsetzung der Verbandsklagenrichtlinie zum 25.6.2023 regeln muss.

Ein Baumarkt wirbt mit dem Slogan „Es gibt immer was zu tun.“ – Dies gilt inzwischen immer mehr auch für neue Gesetze.

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Taufrisch ist das VDuG vollumfänglich in der Online-Version des Zöller kommentiert, die nicht nur reinen Datenbanknutzern, sondern auch allen Print-Käufern zur Verfügung steht (Zugangsdaten befinden sich im Print-Werk selbst). Schauen Sie doch mal rein!

Blog powered by Zöller: Ziviljustiz im übergesetzlichen Notstand

Massenverfahren machen der Ziviljustiz schwer zu schaffen. Wenn zeitgleich Tausende von Klagen eingereicht, manchmal mit dem Lkw herangekarrt werden, bereitet schon die Lagerung auf den Geschäftsstellen große Probleme – von der richterlichen Sachbearbeitung ganz zu schweigen. Die Richterpensen sind auf solche Fluten nicht zugeschnitten, Richterstellen nicht ohne weiteres vermehrbar. Es kommt hinzu, dass sich in diesen Verfahren oft neuartige, schwierige Sach- und Rechtsfragen stellen. Das Gebot einer gleichrangigen Bearbeitung des Geschäftsanfalls ist dann unerfüllbar – und letztlich auch sachwidrig. Denn es ist unökonomisch, wenn sich mehrere Spruchkörper parallel mit denselben Fragen beschäftigen, u.U. divergierend judizieren, bis durch ein Obergericht wieder Rechtseinheit hergestellt werden kann. Es böte sich an, in solchen Sachen ein Musterverfahren zu betreiben und die Parallelverfahren bis zu dessen rechtskräftiger Entscheidung auszusetzen. Doch ein solches Vorgehen lässt § 148 ZPO nur für den Fall zu, dass eine klagebefugte Einrichtung eine Musterfeststellungsklage erhoben hat (s. Zöller/Greger, § 148 ZPO Rn. 5a).

Es wirkt daher wie ein Fall übergesetzlichen Notstands, wenn der BGH es als vertretbare, nicht unangemessene Sachbehandlung bewertet, dass die Terminierung derartiger Parallelprozesse zurückgestellt und zunächst nur ein sog. Pilotverfahren betrieben wird (BGH v. 9.3.2023 – III ZR 80/22, ZIP 2023,  R4). Selbst wenn dadurch Klagen jahrelang „auf Eis“ liegen, soll dies keine Entschädigungsansprüche wegen unangemessener Verzögerung begründen.

So verständlich diese Praxis ist: Im Gesetz findet sie keine Stütze, und eine echte Lösung stellt sie auch nicht dar, denn irgendwann müssen die eingefrorenen Verfahren doch aufgetaut und weiter betrieben werden. Wie sollte auch die Verständigung auf ein Pilotverfahren zwischen verschiedenen Gerichten zustande kommen?  Abhilfe könnte nur durch völlig neue Formen der Verfahrensbündelung geschaffen werden; von dem sich abzeichnenden Gesetz über die Verbandsklage (BR-Drucksache 145/23) ist insoweit jedoch nichts zu erwarten.