Eingangszahlen lügen nicht – oder doch? Überlegungen zur Konfliktkultur

Michael Dudek  Michael Dudek
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht und Coach, München

Im April 2023 stellte das BMJ den Bericht „Der Rückgang der Eingangszahlen bei den Zivilgerichten – Ursachenforschung, Analyse und Empfehlungen“ vor. Der Blick war dabei auf die Ziviljustiz fokussiert. Die deutsche Rechtssoziologie beschäftigt sich demgegenüber seit rund 60 Jahren mit dem Zugang zum Recht. Ähnliche Fragestellungen werden im Ausland in Unmet-Legal-Needs-Studien untersucht. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass Fallzahlen und Justizstatistik keinen Aufschluss über die rechtlichen Bedürfnisse der Gesellschaft, das Konfliktverhalten oder Konfliktlösungsansätze in Deutschland geben.

Ungeklärt ist zudem die Bedeutung des Rechts unter den Bedingungen einer Konsumgesellschaft? Hier liegen smarte Methoden der Konfliktvermeidung wie Astroturfing oder Nudging bis hin zu staatlich organisiertem Social Engineering gerade im globalen Trend. Das Recht kann demgegenüber den Konsum hemmen und ist deshalb nicht so beliebt. Das gibt all denjenigen Auftrieb, die persönliche Macht anstelle der staatlichen Anwendung von Recht und Gewalt setzen wollen.

Bezogen auf die Situation der dritten Gewalt, sieht der Bericht eine Hauptursache für die sinkenden Fallzahlen in einem Vertrauensverlust der Anwaltschaft gegenüber den Gerichten. Tatsächlich ist das Thema seit sehr langer Zeit in aller Munde, auch wenn es bislang (fast) kein wissenschaftliches Forum für anwaltliche Kritik an der Justiz gab. Dabei muss es darum gehen, einen ernsthaften Diskurs über das Verhältnis von Richterschaft und Anwaltschaft jenseits persönlicher Befindlichkeiten anzustoßen. Dabei sollten die unterschiedlichen Rollen der an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten, ihr individuelles und kollektives Konfliktschema aber auch die Belastungen, denen sie unterliegen, Berücksichtigung finden.

Noch immer gelten derartige Ansätze für einen Austausch der Professionen als heißes Eisen. Doch Frustbewältigung hinter vorgehaltener Hand oder durch Leugnung des Problems schwächt die Justiz noch weiter. Konfliktvermeidung bei Gericht aber auch gesamtgesellschaftlich spielt außerstaatlichen Konfliktvermeidungsstrategien in die Hände und richtet persönlich wie wirtschaftlich hohe Schäden an. Es gilt, Konflikte sichtbar zu machen und Modelle zu entwickeln, wie den Bedürfnissen der Konfliktbetroffenen besser Rechnung getragen und hierfür auch die Zusammenarbeit zwischen Richterschaft und Anwaltschaft optimiert werden kann.

Hinweis der Redaktion: Ausführlich zum Thema Dudek, Eingangszahlen oder Konflikte?, ZKM0068020.

Ein Kommentar

  1. Avatar Dr. Ulrich Eberhardt
    Veröffentlicht 25. Juni 2024 um 12:22 | Permalink

    Ich stimme in weiten Teilen zu. Die Reformüberlegungen in der Justiz sind zwar notwendig, kurieren aber allenfalls das Symptom, und das m.E. auch noch an der falschen Stelle. Alle Digitalisierungsbemühungen gehen ins Leere, wenn nicht zuvor (!) die Verwaltungsprozesse der Justiz modernisiert werden. Es bedarf wahrscheinlich einer neuen „Digital-ZPO“. Das Kernproblem ist aber nicht die Justiz, sondern der Verlust der „Kundenschnittstelle“ beim staatlichen Konfliktlösungsmonopol, d.h. Auch bei der Anwaltschaft. Wie Sie richtig beschreiben suchen sich die Konfliktparteien immer häufiger einen anderen, schnelleren und einfacheren (digitaleren) Weg, auch unter Inkaufnahme von Teilverlusten ihres Anspruchs.

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