Die geplante Anhebung der Streitwertgrenze auf 10.000 € (§ 23 Nr. 1 GVG im Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zuständigkeitsstreitwerts der Amtsgerichte, zum Ausbau der Spezialisierung der Justiz in Zivilsachen sowie zur Änderung weiterer prozessualer Regelungen) ist überfällig. Sie trägt der Inflation Rechnung und soll die Landgerichte entlasten. Gleichzeitig werden neue ausschließliche sachliche Zuständigkeiten beim Landgericht geschaffen. Aber wer meint, damit sei die Ziviljustiz schon auf Kurs gebracht, greift zu kurz. Aus der Praxis nur einige Punkte – nicht abschließend:
- Geringfügige Forderungen bis 5.000 €
Die EU hat es vorgemacht: Das europäische Verfahren für geringfügige Forderungen (VO [EU] 861/2007 in der Fassung VO (EU) 2015/2421) gilt inzwischen für Streitwerte bis 5.000 €. Auch national wäre eine solche Grenze folgerichtig und überlegenswert.
Zudem: Nicht alle Heilbehandlungssachen, die künftig streitwertunabhängig beim Landgericht anfallen sollen, sind komplex oder schwierig. Es gibt zweifellos Arzthaftungsprozesse, die beim Landgericht gut aufgehoben sind. Daneben gibt es zahlenmäßig eine ganze Reihe von Klein- und Kleinstforderungen – etwa Laborrechnungen oder Streitigkeiten um den Ansatz einzelner GOÄ-/GOZ-Ziffern. Solche Verfahren betreffen Selbstzahler, die überhöhte oder gar nicht erbrachte Rechnungspositionen entdecken, oder Versicherte, denen die Kosten von den Krankenversicherern nicht erstattet wurden. Die blinde Zuweisung aller dieser Prozesse an das Landgericht (mit Anwaltszwang) bläht den Aufwand für die Parteien auf, ohne dass dies der Spezialisierung nutzen dürfte.
Bei einer allgemeinen Zuweisung von geringfügigen Forderungen („Bagatellgrenze“) an das Amtsgericht, die auch alle „Spezialsachen“ bei diesem belässt, geht es nicht um eine „Massenvermehrung“ kleiner Verfahren, sondern um Gleichlauf mit Europa: Wenn europaweit bis 5.000 € vereinfachte Verfahrensregeln gelten, könnte das auch innerhalb der deutschen Ziviljustiz so sein. Auch für die Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit (RegE), die bei den Amtsgerichten erfolgen soll, erscheint es hilfreich, einen möglichst weiten thematischen Bereich von Zivilsachen abzudecken.
- Kleinstverfahren bis 1.000 €
Nach § 495a ZPO wird das Verfahren bei Streitverfahren bis 600 € nach billigem Ermessen geführt. Der Gedanke einer Inflationsbereinigung legt nahe, diese Grenze auf 1.000 € zu erhöhen, was dann auch für den Berufungsstreitwert gelten sollte. Zu überlegen wäre weiter, ob der Anspruch auf eine mündliche Verhandlung nur noch dann gegeben ist, wenn auch dies sachdienlich ist. Die Amtsgerichte werden dieses Kriterium mit Augenmaß handhaben, wenn Naturalparteien „gehört“ werden wollen und dies einen Erkenntnismehrwert verspricht. Im gleichzeitig unterbreiteten Vorschlag eines künftigen § 1127 ZPO-E (Regierungsentwurf zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit) wird dies für Onlineverfahren schon vorgeschlagen, sollte aber allgemein gelten.
- Spezialisierung nutzen – aber mit Maß
Der Entwurf verlagert sämtliche Heilbehandlungs-, Vergabe- und Veröffentlichungssachen streitwertunabhängig ans Landgericht. Daneben verbleibt es bei den überkommenen ausschließlichen Zuständigkeiten in § 72 GVG. Gleichzeitig entzieht der Entwurf den Landgerichten die in § 72a GVG streitwertabhängigen Spezialsachen, indem die Streitwertgrenze mit 10.000 € deutlich erhöht wird (z.B. bei Insolvenzsachen, Bausachen). Das passt nicht zusammen.
Verlagert man streitwertunabhängig Verfahren ans Landgericht, steigen für diese Aufwand und Kosten: Kein § 495a, Anwaltszwang nach § 78 ZPO, regelmäßige mündliche Verhandlung vor der Kammer. Für Parteien bedeutet das: häufig zahlen, auch wenn sie im Recht sind – weil für Kleinstbeträge kaum ein Anwalt zu finden ist und das Kostenrisiko abschreckt. Bürgernähe sieht anders aus.
Die Lösung: Die bestehenden ausschließlichen Zuständigkeiten des Landgerichts nach § 72 Abs. 2 ZPO sollten überprüft und nach Möglichkeit in die Bestimmung des § 72a GVG überführt werden; neue ausschließliche sachliche Zuständigkeiten beim Landgericht sind zu unterlassen. Für die Verfahren, die in eine Spezialzuständigkeit nach § 72a GVG fallen, sollte es bei geringfügigen Streitigkeiten (also bis 5.000 €) bei der Zuständigkeit des Amtsgerichts verbleiben. Kleine Heilbehandlungs-, Bau- und Insolvenzsachen (usw.) verbleiben damit beim Amtsgericht sowie alle sonstigen Verfahren bis 10.000 €, für die keine Spezialzuständigkeit nach § 72a GVG vorgesehen ist. Die Landgerichte behalten „ihre“ Verfahren im Anwendungsbereich ihrer Spezialisierung (was ein stetiges Fallaufkommen auch bei kleineren Landgerichten sicherstellt), gleichzeitig werden sie von allgemeinen Eingängen merklich entlastet. Daneben bedarf es keines Pflasters in Form der ausschließlichen Zuständigkeit des Amtsgerichts für nachbarrechtliche Ansprüche. Für diese gilt schlicht der Wert der Sache.
- Naturalparteien und die richterliche Fürsorgepflicht
Mit der Anhebung der Streitwertgrenze auf 10.000 € dürfte die Zahl der Naturalparteien steigen. Das klingt bürgerfreundlich – bedeutet in der Praxis aber mehr Aufgaben für das Gericht.
Denn nach § 139 ZPO trifft den Richter eine Hinweis- und Fürsorgepflicht: Sachvortrag ordnen, rechtliche Lücken aufzeigen, auf sachdienliche Anträge hinwirken. Wo Anwälte diese Filter- und Strukturarbeit nicht mehr übernehmen, muss am Amtsgericht der Richter diese Tätigkeit wohl vermehrt leisten, will man die rechtsschutzsuchenden Bürger nicht vor den Kopf stoßen.
Gerade deshalb braucht es Puffer: Entweder durch vereinfachte Verfahren mit geringeren Regeln (§ 495a ZPO reloaded) oder – als Alternative – durch einen Anwaltszwang ab 5.000 € auch vor dem Amtsgericht (was aber sehr gut überlegt sein sollte).
- Digitalisierung hilft – ersetzt aber nichts
Die eAkte ist vielerorts Realität, der elektronische Rechtsverkehr etabliert. Digitalisierung beschleunigt und erleichtert manche Abläufe – aber sie ersetzt nicht die Unmittelbarkeit der mündlichen Verhandlung.
Im Saal zeigt sich regelmäßig ein anderes Bild als in der Akte: Naturalparteien, die Struktur brauchen; Anwälte, die im Rechtsgespräch überzeugen, das Schaffen einer befriedigenden Lösung, die erst im persönlichen Austausch gelingt. Eine Videoverhandlung nach § 128a ZPO entfaltet nicht zuverlässig denselben Effekt, sie steht bei Lichte betrachtet dem schriftlichen Verfahren näher als der mündlichen Verhandlung. Die Vorstellung, die Digitalisierung würde den Zivilprozess retten, erscheint naiv.
Fazit:
Die 10.000-€-Grenze ist ein Schritt – aber kein großer Wurf. Ohne eine Bagatellgrenze (5.000 €), ohne Korrektur bei echten Kleinstverfahren (1.000 €) und ohne ehrliche Nutzung einer Spezialisierung wird die anstehende Reform mehr Lasten schaffen als sie beseitigt.
Bürgernähe heißt: einfach, wo es geht; spezialisiert, wo es nötig ist; unmittelbar, wo es zählt.