Hervorstehendes Gehwegpflaster als Stein des Anstoßes: Das OLG Hamm zu den Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht gegenüber Fußgängern

Unebenes Pflaster als „Stolperfalle“: gar kein seltener Fall

Es ist wohl jedem schon passiert: man geht – oder schlendert – dahin, oft in Gedanken versunken, da stößt man mit den Fuß auf einen (mehr oder minder leicht) hervorstehenden Pflasterstein. Meist geht es ja gut (und man schimpft über sich selbst, weil man nicht besser auf den Weg geachtet hat). Tatsächlich scheint die Stolperfalle Pflaster gar nicht so selten aufgestellt zu sein: Recherchen im Internet ergeben jedenfalls ohne Aufwand pressewirksame Fälle  aus Lohr am Main (2013), Ebrach (2016), Ratingen (2016), Germering (2019) oder Meschede (2019).

OLG Hamm: Urt. v. 16.10.2019 – 11 U 72/19

Auch in einem jüngst vom OLG Hamm entschiedenen Fall wurde ein hervorstehender Pflasterstein einer Passantin zum Verhängnis. Die damals 64jährige Klägerin fiel im August 2017 auf dem Alten Markt in Bochum-Wattenscheid hin und brach sich dabei mehrfach den linken Oberarmknochen.

Sie warf der beklagten Stadt vor, ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt zu haben, weil sie einen 4 bis 5 cm über das Straßenniveau hinausragenden Pflasterstein, der nicht ohne weiteres erkennbar war, nicht beseitigt hat. Die Stadt dagegen berief sich darauf, dass sie die Pflasterung und den Plattenbelag auf dem Alten Markt regelmäßig (einmal pro Woche) durch geschultes Personal überprüfen lasse.

Das LG Bochum hatte die Klage mit Urt. v. 7.6.2019 – 5 O 338/18 abgewiesen und dies im Wesentlichen damit begründet, dass es nicht darauf ankomme, in welcher Höhe der Pflasterstein herausgestanden habe, weil die beklagte Stadt den Markplatz jedenfalls ausreichend kontrolliert habe.

Die Berufung der Klägerin gegen dieses Urteil war nicht erfolgreich. Zwar bestünden – so das OLG Hamm – keine Zweifel daran, dass die Klägerin zur angegebenen Zeit an der angegebenen Stelle über einen hochstehenden Pflasterstein gestolpert sei und sich durch den Sturz eine Fraktur des linken Oberarmknochens zugezogen habe. Auch sei klar, dass dieser Pflasterstein eine Gefahrenstelle dargestellt habe, die zu beseitigen gewesen sei. Dennoch hafte die beklagte Stadt nicht, weil sie ihre Kontrollpflicht nicht verletzt habe. Dabei müsse eine Stadt oder Gemeinde allerdings Straßen und Wege auf ihrem Gebiet überprüfen, um neue Schäden oder Gefahren zu erkennen und die erforderlichen Sicherungsmaßnahmen zu treffen. Hierzu gehöre es, die Straßen und Wege – in Abhängigkeit von ihrer Verkehrsbedeutung – regelmäßig zu beobachten und in angemessenen Zeitabschnitten zu befahren oder zu begehen. Nicht verlangt werden könne aber, dass eine Straße oder ein Weg ständig völlig frei von Mängeln und Gefahren sei, da sich ein solcher Zustand nicht erreichen lasse. Diesen Anforderungen habe die beklagte Stadt genügt, indem sie rund fünf Tage vor dem Unfall die spätere Unfallstelle bei einer ihrer wöchentlichen Kontrollen noch durch einen Straßenbegeher habe überprüfen lassen. Für eine nicht ausreichende Kontrolle der Wegstrecke bestünden keine Anhaltspunkte. Der Pflasterstein könne sich auch kurz vor dem Unfall der Klägerin gelockert haben. Die Ungewissheit bezüglich der Ursache und dem Zeitpunkt der Lockerung gehe zu Lasten der insoweit beweispflichtigen Klägerin.

Der Kontext der Entscheidung

Wer sein Grundstück der Öffentlichkeit zugänglich macht, muss auch dafür sorgen, dass die Benutzung ohne Gefahren möglich ist – er hat eine Verkehrssicherungspflicht. Ausgangspunkt für die Anerkennung von Verkehrssicherungspflichten ist die Überlegung, dass ein Geschädigter grundsätzlich nur dann Ansprüche hat, wenn seine Rechtsgüter aktiv durch Handlungen eines Anderen verletzt wurden. Nur in Ausnahmefällen kann ein Unterlassen zum Schadensersatz verpflichten, nämlich dann, wenn eine Pflicht zum Handeln bestand. Eine solche (Verkehrssicherungs-)Pflicht ergibt sich daraus, dass der Verfügungsberechtigte seine Gefahrenquelle beherrscht und deshalb auch entsprechende Vorkehrungen für eine (möglichst) gefahrlose Benutzung zu sorgen hat.

Die praktisch völlige Gefahrlosigkeit von Straßen oder Plätzen kann allerdings mit zumutbaren Mitteln nicht erreicht und deshalb vom Verkehrssicherungspflichtigen nicht verlangt werden. Die Verkehrssicherungspflicht geht deshalb auch nicht weiter, als dass der Verpflichtete in geeigneter und zumutbarer Weise diejenigen Gefahren auszuräumen hat oder gegebenenfalls vor ihnen warnen muss, die der „normale“ Verkehrsteilnehmer nicht erkennen kann und auf die er sich auch nicht einstellen muss. Es werden also nur die Vorkehrungen geschuldet, die im Rahmen der berechtigten Sicherheitserwartungen des in Betracht kommenden Verkehrs im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren geeignet sind, Gefahren von den Verkehrsteilnehmern abzuwehren.

Die Rechtsprechung zu „Stolperfallen“

Fußgänger etwa müssen kleinere Mängel des Pflasters in Form von Unebenheiten hinnehmen, weil sie sich durch eine entsprechende Gehweise darauf einrichten können. Sind die Unebenheiten vom Fußgänger nicht mehr zu beherrschen, muß der Verkehrssicherungspflichtige sie beseitigen (OLG Thüringen, Urt. v. 29.7.1997 – 3 U 1464/96, juris). Eine Erhebung von lediglich 1,2 cm hat der BGH nicht als Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht angesehen (BGH, Urt. v. 13.7.1989 – III ZR 122/88, MDR 1989, 1084). Unter Berücksichtigung des Gesamtbilds wurde bei einem Gehweg eine Unebenheit von 2 cm als hinnehmbar angesehen (OLG Hamm v. 2208.1989 – 9 U 318/88, VersR 1991, 1415). Allgemein kann einem Fußgänger, wenn keine besonderen Umstände hinzukommen, eine Unebenheit von 2 cm zugemutet werden (OLG Celle, Urt. v. 23.12.1997 – 9 U 120/97, MDR 1998, 1031). Ein Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht liegt aber vor, wenn ein Pflasterstein auf von Fußgängern benutzten Verkehrsräumen mehr als 4 cm über das sonstige Niveau hinausragt (OLG Karlsruhe, Urt. v. 22.12.1989 – 14 U 159/88,  MDR 1990, 722). Bei scharfkantigen Unebenheiten können bereits Höhenunterschiede von mehr als 2 cm vom Verkehrssicherungspflichtigen die Beseitigung dieses Zustands verlangen (OLG Hamm v. 18.7.1986 – 9 U 328/85, VersR 1988, 467 f.; OLG Hamm v. 7.5.1993 – 9 U 227/921, VersR 1993, 1030; ebenso OLG Köln v. 21.11.1991 – 7 U 52/91, VersR 1992, 355, für eine 2,5 cm hohe Aufkantung). Besteht die Gefahr einer Ablenkung durch Schaufenster kann bereits eine Vertiefung von 1,5 cm für den Fußgänger unzumutbar sein (BGH v. 27.10.1966 – III ZR 132/65, MDR 1967, 387).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Verkehrssicherungspflichtige gehalten ist, Straßen und Wege in einem Zustand zu erhalten, der verhindert, dass durch Schadstellen Verkehrsteilnehmer gefährdet werden. Dieser Pflicht trägt die Gemeinde Rechnung, indem sie Straßen, Wege und Gehwege regelmäßigen Kontrollen unterzieht und Schadstellen ausbessert (zum Ganzen: LG Essen, Urt. v. 12.05.2005 – 4 O 370/04, juris)

Die Haftung des Autofahrers bei einem Verkehrsunfall mit Fußgängerbeteiligung

Fußgänger und Autofahrer kommen sich im Straßenverkehr häufig in die Quere. Dabei geht von beiden Verkehrsteilnehmern ein sehr unterschiedliches Gefahrenpotenzial aus. Kommt es zum Verkehrsunfall, tritt – im Gegensatz zu anderen Unfalltypen – die Frage nach den Unfallursachen zurück. Vielmehr ist entscheidend, ob der Unfall für den Fahrzeugführer vermeidbar war. Die Judikatur ist kasuistisch und kaum mehr zu überschauen (siehe für einen Überblick: Dörr, MDR 2012, 503).

Unfälle „beim Überqueren der Fahrbahn“ und im „Längsverkehr“

Bei Unfällen mit Fußgängern ist zwischen den beiden großen Gruppen „Unfälle beim Überqueren der Fahrbahn“ und „Unfälle im Längsverkehr“ (Fußgänger auf Gehwegen oder am Fahrbahnrand) zu unterscheiden. Überquert ein Fußgänger die Fahrbahn außerhalb der dafür vorgesehenen Stellen (z. B. Fußgängerüberwege) und kommt es zum Unfall, hat der Fußgänger für seinen Schaden grundsätzlich allein einzustehen, wenn seinem groben Eigenverschulden nur die – nicht erhöhte – Betriebsgefahr des Kfz gegenübersteht (KG, Beschl. v. 18.9.2010 – 12 W 24/10 – juris). Bei „Unfällen im Längsverkehr“ ist es von großer Bedeutung, ob ein Gehweg vorhanden ist und ob der Fußgänger ihn benutzt hat. Läuft der Fußgänger trotz vorhandenen Gehwegs auf der Fahrbahn, trifft ihn i.d.R. eine Mitschuld. Fehlt ein Gehweg, ist die Nutzung der Fahrbahn durch den Fußgänger erlaubt. Der Kraftfahrer kann hier kein „Vorrecht“ in Anspruch nehmen.

Anhaltspunkte für Unfallhergang und Schadensbeiträge

Für die Frage, auf welche Weise sich ein Unfall zwischen Pkw und Fußgänger abgespielt hat, können die Art der Fahrzeugschäden (z. B. sog. Abwicklungslänge sowie Beulenversatz) wichtige Anhaltspunkte für die Kollisionsgeschwindigkeit des Kfz und Richtung sowie Geschwindigkeit des Fußgängers liefern. Die aus den Fahrzeugschäden und den sonstigen Unfallspuren gewonnenen Erkenntnisse haben einen hohen Beweiswert (OLG Hamm, OLGR Hamm 1999, 256). Für die Feststellung, ob und auf welche Weise der Kraftfahrer unfallverhütend hätte reagieren können, kommt es zunächst darauf an, welche Strecke der Fußgänger von der Stelle, an welcher ihn der Kraftfahrer erstmalig als Verkehrshindernis wahrnehmen konnte, bis zum späteren Unfallort zurückgelegt hat und mit welcher Geschwindigkeit er gelaufen ist. Daraus kann errechnet werden, welche Zeit der Fußgänger für diese Strecke benötigt hat. Diese Zeit ist wiederum in Relation zu der Ausgangsgeschwindigkeit des Kraftfahrzeugs zu setzen, woraus sich die Feststellung ergibt, welcher Zeitraum und welche Fahrstrecke dem Kraftfahrer für seine unfallabwendende Reaktion zur Verfügung standen (KG, Urt. v. 13.12.1993 – 12 U 2536/91 – juris).

Anforderungen an das Verhalten eines „Idealfahrers“

Hat sich der Kraftfahrer an alle Verkehrsregeln gehalten, aber dennoch nicht mögliche typische Fehler eines Fußgängers vorausgesehen, sich also nicht wie ein „Idealfahrer“ (BGH v. 23.9.1986 – VI ZR 136/85, MDR 1987, 132) verhalten, kann immer noch die Haftung aus der (dann nicht erhöhten) Betriebsgefahr des Fahrzeugs bleiben. Nach § 7 Abs. 2 StVG a. F. war eine Haftung nur bei Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses ausgeschlossen. Ein unabwendbares Ereignis ist insbesondere dann zu bejahen, wenn der Unfall auf das Verhalten des Verletzten zurückzuführen ist und sowohl der Halter als auch der Führer des Fahrzeugs jede nach den Umständen gebotene Sorgfalt beobachtet haben (BGH v. 21.02.1985 – III ZR 205/83, MDR 1986, 34). Nach der Rechtsprechung des BGH (BGH v. 23.4.2002 – VI ZR 180/01, MDR 2002, 942) kommt es bei der Frage der Vermeidbarkeit eines Zusammenstoßes mit einem Fußgänger, der die Fahrbahn überquert, nicht allein darauf an, ob das Fahrzeug vor der späteren Unfallstelle noch hätte zum Stehen kommen können („räumliche Vermeidbarkeit“). Ein Unfall kann in solchen Fällen auch dann verhindert werden, wenn Zeit bleibt, das Fahrzeug so weit abzubremsen, dass es den Punkt, an dem der Fußgänger die Fahrspur kreuzt, erst erreicht, nachdem dieser ihn schon wieder verlassen hat („zeitliche Vermeidbarkeit“). Der Möglichkeit der Vermeidbarkeit in diesem Sinne muss vor allem dann nachgegangen werden, wenn Sekundenbruchteile genügen könnten, um den Fußgänger aus der Gefahrenzone zu bringen. Dabei muss auch erörtert werden, ob und inwieweit eine rechtzeitige Ausweichlenkung zur Vermeidung des Zusammenstoßes hätte beitragen können.

Hier geht es also um die (richtige) Reaktion ab dem Zeitpunkt, in dem der Kraftfahrer erkennen kann, dass ein Fußgänger über die Straße gehen möchte. Es geht also um die Frage, wer anhält: ob der Fußgänger stehen bleibt oder ausweicht, wenn er das Fahrzeug sieht oder ob das Auto schon bremst, weil der Fahrer meint, der Fußgänger könnte trotzdem weitergehen. Als „Idealfahrer“ muss der Kraftfahrer „für den anderen mitdenken“.

Die bloße Tatsache, dass ein zu schnell fahrender Kraftfahrer wegen des Geschwindigkeitsverstoßes früher an die Unfallstelle gelangt ist, als dies bei Beachtung der Verkehrsregeln geschehen wäre, genügt nicht für die Annahme eines rechtlichen Ursachenzusammenhanges mit dem nachfolgenden Unfall. Ein zurechenbarer Zusammenhang kann vielmehr nur dann bejaht werden, wenn bei dem Unfall eine der Gefahren mitgewirkt hat, um derentwillen die Fahrgeschwindigkeit begrenzt war. Von Bedeutung ist somit nur, wie von der Erkennbarkeit der Gefahr an, der konkreten kritischen Verkehrslage, bei richtiger Fahrweise die Vorgänge, die zum Unfall geführt haben, abgelaufen wären (BGH v. 21.02.1985 – III ZR 205/83, MDR 1986, 34).

Geltendmachung eines Schmerzensgeldanspruchs durch den verunglückten Fußgänger

Wollte der verunglückte Fußgänger vor dem 1.8.2002 – auch –Schmerzensgeld bekommen, musste er nachweisen, dass den Fahrzeugführer am Unfall zumindest eine Teil-Schuld traf. Der Anspruch richtet sich nach § 253 BGB a.F. i.V.m. § 847 BGB a.F. Erst mit Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften kann nunmehr auch im Rahmen der Gefährdungshaftung ein Schmerzensgeldanspruch geltend gemacht werden. Hierzu erfolgten ausdrückliche klarstellende Regelungen u.a. in § 11 Satz 2 StVG und § 6 Satz 2 HaftPflG dahingehend, dass der Anspruchsberechtigte wegen eines Schadens, der kein Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung verlangen kann.

Nach der Richtgeschwindigkeit muss man sich nicht (immer) richten

Der Fahrer eines Seat befand sich auf der linken Fahrspur einer Autobahn und wollte gerade einen Dacia überholen, als dieser plötzlich und ohne zu blinken nach links zog. Der Fahrer des Seat konnte bei einem Tempo von 150 km/h nicht mehr rechtzeitig bremsen und fuhr auf den Dacia auf. Der Fahrer des Dacia verklagte den Halter des auffahrenden Pkw; er meinte, wer sich nicht an die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h halte, müsse jedenfalls anteilig für den Unfallschaden haften. Das OLG Hamm war anderer Meinung: Auch wenn der Auffahrende maßvoll die empfohlene Richtgeschwindigkeit überschreitet, verwirklicht sich die mit der Überschreitung der Richtgeschwindigkeit verbundene Gefahr des Ver- und Unterschätzens der Annäherungsgeschwindigkeit des rückwärtigen Verkehrs nicht, wenn der die Fahrstreifen wechselnde den rückwärtigen Verkehr gar nicht beachtet“ (Beschl. v. 8.2.2018 – 7 U 39/17).

So richtig überraschen mag diese Entscheidung nicht. Denn auch wenn die Autobahn-Richtgeschwindigkeit in einer Verordnung , nämlich der „Verordnung über eine allgemeine Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen und ähnlichen Straßen (Autobahn-Richtgeschwindigkeits-V)“ „geregelt“ ist, kann der Bestimmung schon vom Wortlaut her keine Verbindlichkeit zukommen. Sie stellt eine reine Empfehlung dar, die als solche auch nicht sanktioniert ist. Es handelt sich um nicht mehr als um einen psychologischen Appell. (AG Halle, Urt. v. 1.12.2011 – 98 C 1863/11, NZV 2013, 82.) Die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit begründet auch kein Verschulden (OLG Nürnberg, Urt. v. 9.9.2010 – 13 U 712/10, MDR 2011, 26). Die rechtlich einzuhaltende Geschwindigkeit ergibt sich allein aus den Regelungen des § 3 StVO. Rechtlich völlig bedeutungslos ist die Richtgeschwindigkeit jedoch nicht. Denn die Einhaltung der Richtgeschwindigkeit kann nach der Wertung und den Erkenntnissen des Verordnungsgebers unfallverhütend wirken; ihre (Nicht-)Einhaltung kann damit jedenfalls zivilrechtliche Folgen haben.

Einen Schnellfahrer zur (Mit-)Haftung heranzuziehen, ist durchaus auch die gerichtliche Praxis. So nimmt das OLG Oldenburg (Urt. v. 21.3.2012 – 3 U 69/11) eine deutliche Überschreitung bei 200 km/h, das AG Halle schon bei 180 km/h an (Urt. v. 1.12.2011 – 98 C 1863/11, NZV 2013, 82) und das OLG Hamm (Urt. v. 25.11.2010 – 6 U/10, I-6 U 71/10 – NZV 2011, 248), „wenn sich die erhöhte Geschwindigkeit nachweislich betriebsgefahrerhöhend ausgewirkt hat“ an. Bei der Abwägung gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG sei zwar auf beiden Seiten lediglich die Betriebsgefahr zu berücksichtigen. Diese sei aber hier ungleich hoch. Erhöht sei die Betriebsgefahr, wenn die Gefahren, die regelmäßig und notwendigerweise mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs verbunden sind, durch das Hinzutreten besonderer Umstände unfallursächlich vergrößert werden. Das sei hinsichtlich eines schnell fahrenden Fahrzeugs der Fall, wenn die Richtgeschwindigkeit in ganz erheblichem Maße überschritten worden sei und positiv feststehe, dass der Unfall bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit vermieden worden wäre. Auch 160 km/h (OLG Hamm, Urt. v. 25.11.2010 – 6 U/10, I-6 U 71/10) genügen hier schon. Eine „deutliche Überschreitung“ der Richtgeschwindigkeit liegt aber auch nach dem OLG München (Urt. v. 2.2.2007 – 10 U 4976/06) noch nicht bei einem Tempo von 150 km/h vor.

Die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit begründet in aller Regel keinen Verschuldensvorwurf, sondern erhöht allenfalls die in die Abwägung einzustellende Betriebsgefahr (OLG Schleswig, Teilurt. v. 30.7.2009 – 7 U 12/09). Derjenige, der die Richtgeschwindigkeit überschreitet, kann sich nicht auf die Unabwendbarkeit des Unfalls berufen: Dazu müsste er die Richtgeschwindigkeit einhalten. (Seine) Betriebsgefahr ist aber auch nur dann erhöht, wenn er die Richtgeschwindigkeit maßgeblich überschritten hat. Das ist bei 180 bis 200 km/h der Fall, bei 150 km/h aber noch nicht.

Der Staat zahlt jetzt auch für Schmerzen

In einer Grundsatzentscheidung (Urt. v. 7.9.2017 – III ZR 71/17) hat der BGH festgestellt, dass der Anspruch auf Entschädigung für rechtmäßige hoheitliche Eingriffe in Leben, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit (Aufopferungsanspruch) auch ein Schmerzensgeld umfasst.

Die Vorinstanzen waren noch anderer Ansicht und hatten sich dazu auf eine Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1956 (BGHZ 20, 61) berufen. Der Kläger wollte das so nicht hinnehmen: Bei der Jagd nach einem flüchtigen Verdächtigen, der einen Schuss aus einen fahrenden Pkw abgegeben hatte, hatten Polizeibeamte ihn für den Täter gehalten. Sie hatten ihn im Rahmen der Feststellung der Identität zur Eigensicherung zu Boden gebracht und mit Handschellen fixiert. Der Kläger war dabei an der Schulter verletzt worden. Für die erlittenen Schmerzen sprach der BGH ihm ein Schmerzensgeld zu. Die polizeilichen Maßnahmen seinen zwar rechtmäßig gewesen, Vermögensschäden wären deshalb nach dem allgemeinen Aufopferungsanspruch auszugleichen; aufgrund der Entscheidung des Gesetzgebers, die durch die Streichung des § 847 BGB a. F. und durch die Neufassung des § 253 BGB im 2. Gesetz zur Änderung schadenersatzrechtlicher Vorschriften aus dem Jahr 2002 ihren Ausdruck gefunden hat, müsste aber nun auch der allgemeine Aufopferungsanspruch auf Nicht-Vermögensschäden erweitert werden.

Diese Entscheidung des BGH ist konsequent. § 253 Abs. 2 BGB sieht nun generell vor, dass bei einer Körperverletzung auch für Nicht-Vermögensschäden Ersatz zu leisten ist. Auch § 11 S. 2 StVG sieht für Verkehrsunfälle eine parallele Regelung vor.

Dem kann sich auch der allgemeine Aufopferungsanspruch nicht entziehen. Dieser Anspruch stellt einen der Säulen staatlicher Ersatzleistungen dar und greift speziell bei Eingriffen in nicht-vermögenswerte Rechte – also Leben, Gesundheit, Freiheit – durch staatliche Instanzen. Der Aufopferungsanspruch fand ursprünglich im Preußischen Allgemeinen Landrecht (§§ 74, 75 Einl. ALR) seinen Ausdruck, gilt aber als Gewohnheitsrecht – und zwar im Rang von Verfassungsrecht- weiter. Der einfache Gesetzgeber kann ihn zwar damit nicht beseitigen, wohl aber näher ausgestalten (siehe dazu Maurer, Allg. Verwaltungsrecht, 18. Auflage, 2011, § 28 Rn. 1).  Hätte der Bundesgesetzgeber den Aufopferungsanspruch als geschriebenes Recht geregelt, hätte er ihm wohl auch auf den Ausgleich für erlittene Schmerzen erstreckt.

Eine solche (mittelbare) Form der Ausgestaltung und Modernisierung des gewohnheitsrechtlich geregelten Anspruchs erblickt der BGH deshalb zu Recht in der grundsätzlichen – und gesetzesübergreifenden – Entscheidung des Gesetzgebers, dem immateriellen Schaden bei Körperverletzungen entschädigungswerten Stellenwert zukommen zu lassen. Das ist auch Ausdruck einer grundsätzlichen Tendenz, Beeinträchtigungen der allgemeinen Handlungsfreiheit oder persönlicher Rechtsgüter vermögenswerten Stellenwert zukommen zu lassen.

Automatisiertes Fahren: Und wenn’s rummst, dann war’s diesmal wirklich keiner?!

Eine Vision wie aus einem Science-Fiction-Film: Fahrzeuge, die wie von Geisterhand gesteuert auf unsichtbaren Schienen durch die Luft zwischen riesigen Gebäuden gleiten, Fahrgäste und Piloten, die sich inzwischen mit weitaus angenehmeren Dingen als der Fahrzeugführung beschäftigen können… ganz soweit hat es die moderne Verkehrstechnik zwar noch nicht gebracht. Doch mit der computergesteuerten Elektronik des autonomen Fahrens dringt das Automobil in Sphären vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.

So wie – einem Sprichwort nach – in jedem Risiko zugleich eine Chance liegt, liegt in jeder Chance aber auch ein Risiko. Im modernen Rechtsstaat ist es die Aufgabe des Gesetzgebers, durch neue Technologien bedingte Risiken im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren zu minimieren und abzufedern.

Einen aktuellen Versuch dazu hat nun Bundesverkehrsminister Dobrindt unternommen: Ein Gesetzentwurf sieht die Zulassung von Fahrzeugen vor, in denen „Kollege Computer“ für eine bestimmte Zeit und in bestimmten Situationen die Kontrolle über das Fahrzeug übernimmt. Damit soll der Sprung von reinen Fahrerassistenzsystemen zum teilautomatisierten Fahren (Der Fahrer muss das System dauerhaft überwachen und jederzeit zur vollständigen Übernahme der Fahraufgabe bereit sein) und dann zum hochautomatisierten Fahren (Der Fahrer muss das System nicht dauerhaft überwachen. Das System warnt den Fahrer aber rechtzeitig, wenn dieser eingreifen muss) geschafft werden. Als nächste Stufen sollen folgen:

  • das vollautomatisierte Fahren: Der Fahrer muss das System nicht überwachen. Das System ist in allen Situationen in der Lage, einen „risikominimalen“ Zustand herzustellen

und zu guter Letzt:

  • das autonome („fahrerloses“) Fahren: Das System übernimmt das Fahrzeug vollständig vom Start bis zum Ziel; alle im Fahrzeug befindlichen Personen sind nur Passagiere.

Das voll-autonome Fahren soll nicht vor 2030 Realität werden. So bleibt vorerst noch der Mensch verantwortlich. Er bestimmt, wann und in welchen Situationen er dem Computer „das Steuer überlässt“. Und er muss auch jederzeit dazu in der Lage sein, in kritischen Situationen die Kontrolle wieder an sich zu reißen. Zwar darf sich der Fahrer während der Fahrt mit anderen Dingen beschäftigen – wie eine traurige Bilanz es allerdings beweist, tun dies viele Handy- und Smartphone-Nutzer ohnehin schon jetzt – im Falle eines Falles muss aber er „sofort und unverzüglich“ das Heft wieder selbst in die Hand nehmen. Daran entzündet sich auch ein Großteil der Kritik: wie abgelenkt darf der Fahrer und wie aufmerksam muss er sein? Und kann er sich auf ein Versagen der Technik berufen? Um eine Abgrenzung zur Produzentenhaftung zu ermöglichen, soll – wie im Flugzeug – eine „Blackbox“ die wesentlichen Daten der Fahrt aufzeichnen. Eine wirkliche Lösung scheint das Gesetz nicht zu bieten; damit bleibt wohl für die Rechtsprechung viel zu tun. Eindeutig sind nur die Fälle, in denen entweder der Mensch oder der Computer die alleinige Verantwortung trägt: sonst wird’s immer der eine auf den anderen schieben.

Don’t drink and drive – Die Leistungskürzung bei Verkehrsunfällen wegen alkoholbedingter Fahruntüchtigkei

Entgegen weit verbreiteter Meinung tragen Kfz-Versicherungen weitgehend ein Fehlverhalten des Versicherungsnehmers mit „Humor“: so zahlen sie z.B. in der Regel auch dann, wenn der Versicherte grob fahrlässig gehandelt hat.

Allerdings verstehen sie keinen Spaß, wenn Alkohol im Spiel war. Hat der Versicherungsnehmer betrunken oder auch „nur“ angetrunken einen Unfall verursacht, hat er mit zum Teil erheblichen Leistungskürzungen zu rechnen. Dass man nicht trinkt und fährt, ist heutzutage so stark im Bewusstsein der Bevölkerung verankert, dass Verstöße in der Regel als grobes Verschulden anzusehen sind. Die Leistungskürzung erfolgt auf einer gleitenden Skala, die von 50% bei relativer Fahruntüchtigkeit (0,3 ‰) bis zu 100% bei absoluter Fahruntüchtigkeit (1,1 ‰) reicht. Damit gilt auch hier: Jeder „Spaß“ hat irgendwann einmal ein Ende, spätestens dann, wenn sich jemand nach Abschluss einer feuchtfröhlichen Feier angetrunken ans Steuer setzt.

Welche rechtlichen Grundlagen für eine Leistungskürzung bei Verkehrsunfällen wegen alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit heranzuziehen sind und wonach sich die Leistungskürzung nach einschlägiger Rechtsprechung bemisst, erfahren Sie in meinem aktuellen Beitrag MDR 2016, 1422.

Wer (zuerst) steht, gewinnt

Mit zwei jüngeren Entscheidungen hat der BGH für ziemlichen Wirbel im Bereich der Haftung für Parkplatzunfälle gesorgt. So stellte der BGH mit Urteil vom 15.12.2015 – Az.: VI ZR 6/15, MDR 2016, 636 (Laumen) fest, dass „die für die Anwendung eines Anscheinsbeweises gegen einen Rückwärtsfahrenden erforderliche Typizität des Geschehensablaufs …regelmäßig nicht vor[liegt], wenn beim rückwärtigen Ausparken von zwei Fahrzeugen aus Parkbuchten eines Parkplatzes zwar feststeht, dass vor der Kollision ein Fahrzeugführer rückwärts gefahren ist, aber nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt bereits stand, als der andere – rückwärtsfahrende – Unfallbeteiligte mit seinem Fahrzeug in das Fahrzeug hineingefahren ist.“ Die Entscheidung ist im Zusammenhang mit einem Urteil vom 26.1.2016 – VI ZR 179/15, MDR 2016, 267 zu sehen, in welchem der BGH klarstellt, dass dies aber nur dann gilt, wenn wirklich einer der beiden Kontrahenten stand. Bis dahin war die überwiegende Meinung: Nur wer schon „längere Zeit“ vor der Kollision stand, konnte daraus einen Vorteil ziehen.

Die erste Entscheidung des BGH hat einige Kritik in der Literatur erfahren. Neben praktischen Beweisproblemen werden hierfür auch Gründe der materiellen Gerechtigkeit angeführt: Es sei Zufall, wer von den Unfallbeteiligten zuerst zum Stillstand gekommen sei. Der Sorgfaltsverstoß liege nicht im Rückwärtsfahren an sich, sondern darin, dass jemand – ohne auf den anderen zu achten – begonnen habe, rückwärts aus der Parkbucht zu fahren.

Dem kann aber nicht gefolgt werden: auch „längeres Stehen“ kann nicht unbedingt klar definiert werden. Und was soll denn jemand noch tun, der ausparken will und daher fahren muss, als aufmerksam nach hinten zu schauen und dann stehen zu bleiben, wenn es „kritisch“ zu werden droht? Würde das nämlich der andere genauso so tun, würde es ja nicht „krachen“.

Hinweis: Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den beiden BGH-Entscheidungen und ihren Konsequenzen für die Praxis siehe ReblerMDR 2016, 1125.

Das Gefühl von Freiheit und Abenteuer – aber immer gut geschützt ?!

Alle Jahre wieder … beginnt nach Ostern die Motorradsaison. Motorradfahren macht Spaß. Doch es ist nicht ungefährlich. Aber im Rausch von „Freiheit und Abenteuer“ denkt keiner an einen Unfall und die möglichen Folgen. Den Wind um die Nasen wehen lassen kann man sich am besten noch ohne Helm – jedenfalls aber nicht mit dicker Jacke, Motorradhosen mit Protektoren und Motorradstiefeln. Aber welches Maß an Selbstschutz rechtlich notwendig ist, ist auch umstritten:

Das OLG Saarbrücken (Beschl. v. 12.03.2015 – 4 U 187/13, MDR 2015, 647) hat im Falle einer verunglückten Motorradfahrerin entschieden, dass es keine Auswirkungen auf einen Schadensersatzanspruch hat, wenn ein Geschädigter nur einen Schutzhelm trägt. Da nur dieser gesetzlich vorgeschrieben sei (§ 21a Abs. 2 StVO), sei (weitere) Schutzkleidung unnötig. Das ist jedoch nicht unbestritten. Ein großer Teil der Rechtsprechung geht davon aus, dass Führer von “großen“ Motorrädern Schutzkleidung (Helm, Motorradhose, Motorradjacke) tragen müssen. Hier wird z. T. eine Verkehrssitte bejaht. Umstritten ist die Lage bei Motorradstiefeln. Für Kleinkrafträder und Leichtkrafträder wird überwiegend eine in der Bevölkerung verbreitete Übung, Schutzkleidung zu tragen, nicht gesehen. (Übersicht bei Rebler, MDR 2014, 1187). Unabhängig von der rechtlichen Situation sollte sich aber jeder selbst gut überlegen, welches Maß an Schutz die eigene Gesundheit wert ist.