Anwaltsblog 38/2024: Anscheinsbeweisfür beratungsgerechtes Verhalten des rechtsschutzversicherten Mandanten bei objektiver Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung

Welche Auswirkungen die Deckungszusage des Rechtsschutzversicherers seines Mandanten auf den Regressanspruch gegen den Rechtsanwalt wegen Führung eines aussichtlosen Prozesses hat, hat der BGH entschieden (BGH, Urteil vom 16. Mai 2024 – IX ZR 38/23):

 

Die Klägerin, ein Rechtsschutzversicherer, nimmt den beklagten Rechtsanwalt aus übergegangenem Recht von neun ihrer Versicherungsnehmer auf Ersatz eines Kostenschadens in Anspruch. Der Schaden soll dadurch verursacht worden sein, dass der Beklagte für die Versicherungsnehmer von vornherein aussichtslose Rechtsstreitigkeiten geführt habe. Diese hatten sich über eine Treuhandkommanditistin, eine Steuerberatungsgesellschaft, an einer Fondsgesellschaft beteiligt und daraus Verluste erlitten. Die Klagen gegen den Berufshaftpflichtversicherer der Steuerberatungsgesellschaft hatten keinen Erfolg. Der Regressprozess gegen den beklagten Rechtsanwalt hatte vor dem OLG Erfolg. Dieser habe die Anleger nicht über die erheblichen Prozessrisiken informiert. Hätte der Rechtsanwalt die Anleger richtig beraten, hätten sie von der Rechtsverfolgung Abstand genommen. Da die Klagen objektiv aussichtslos gewesen seien, spreche ein Anscheinsbeweis dafür, dass sich die Anleger bei korrekter Beratung entsprechend verhalten hätten.

Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Sie führt zur Wiederherstellung des klageabweisenden erstinstanzlichen Urteils. Rechtsfehlerhaft ist die Feststellung des Berufungsgerichts, die Versicherungsnehmer der Klägerin hätten sich im Falle zutreffender Rechtsberatung gegen eine (weitere) Rechtsverfolgung entschieden. Die Frage, wie sich der Mandant bei vertragsgerechter Belehrung durch den rechtlichen Berater verhalten hätte, zählt zur haftungsausfüllenden Kausalität, die der Anspruchsteller nach dem Maßstab des § 287 ZPO zu beweisen hat. Zu Gunsten des Anspruchstellers ist jedoch zu vermuten, der Mandant wäre bei pflichtgemäßer Beratung den Hinweisen des Rechtsanwalts gefolgt, sofern im Falle sachgerechter Aufklärung aus der Sicht eines vernünftig urteilenden Mandanten eindeutig eine bestimmte tatsächliche Reaktion nahegelegen hätte. Eine solche Vermutung kommt hingegen nicht in Betracht, wenn nicht nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit bestanden hätte, sondern nach pflichtgemäßer Beratung verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht gekommen wären. Der Anscheinsbeweis setzt voraus, dass ein Sachverhalt feststeht, auf dessen Grundlage die Schlussfolgerung gerechtfertigt ist, dass der Mandant bei zutreffender Beratung von einer Rechtsverfolgung abgesehen hätte. Ausgangspunkt ist die allgemeine Lebenserfahrung. Dies kann angesichts der Interessen eines rechtsschutzversicherten Mandanten, mit Hilfe seiner Rechtsschutzversicherung von Kostenrisiken befreit zu werden, erst dann bejaht werden, wenn das Ergebnis der rechtlichen Beurteilung in jeder Hinsicht unzweifelhaft ist. Die Annahme der Aussichtslosigkeit unterliegt hohen Anforderungen. Die Rechtsverfolgung muss aus der maßgeblichen Sicht ex ante aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen objektiv aussichtslos gewesen sein. Dies kommt etwa in Betracht, wenn eine streitentscheidende Rechtsfrage höchstrichterlich abschließend geklärt ist. Fehlt es an einer höchstrichterlichen Klärung, muss sich der Sachverhalt zudem derart unter Rechtsvorschriften subsumieren lassen, dass das Ergebnis einer Auslegung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zweifelhaft sein kann.

Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verkannt. Die Voraussetzungen des Anscheinsbeweises bei einwandfrei erteilter Deckungszusage sind nicht aufgrund einer höchstrichterlich geklärten Rechtslage gegeben. Die Frage des Deckungsanspruchs gegen den Vermögensschadenhaftpflichtversicherer der Steuerberatungsgesellschaft war höchstrichterlich nicht abschließend geklärt.

 

Fazit: Der Rechtsanwalt ist zur Beratung des Mandanten über die Erfolgsaussichten einer in Aussicht genommenen Rechtsverfolgung verpflichtet, unabhängig davon, ob der Mandant rechtsschutzversichert ist oder nicht. Die Pflicht des Rechtsanwalts, den Mandanten über die Erfolgsaussichten einer in Aussicht genommenen Rechtsverfolgung aufzuklären, endet nicht mit deren Einleitung; verändert sich die rechtliche oder tatsächliche Ausgangslage im Laufe des Verfahrens, muss der Rechtsanwalt seinen Mandanten über eine damit verbundene Verschlechterung der Erfolgsaussichten aufklären (BGH, Urteil vom 16. September 2021 – MDR 2021, 1357).

 

Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Haftung eines Rechtsanwalts gegenüber dem Rechtsschutzversicherer des Mandanten

Aufklärung über die Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits
Urteil vom 16. September 2021 – IX ZR 165/19

Mit den Aufklärungspflichten des Anwalts gegenüber einem rechtsschutzversicherten Mandanten während eines laufenden Rechtsstreits befasst sich der IX. Zivilsenat.

Die beklagten Anwälte hatten sich an mehrere tausend Anleger eines Immobilienfonds gewandt, dessen Wertentwicklung nicht den Vorhersagen und Erwartungen entsprach. Im Namen zahlreicher Anleger, von denen einige bei der Klägerin rechtsschutzversichert waren, reichten sie kurz vor Ablauf der Verjährungsfrist bei einer staatlich anerkannten Gütestelle rund 12 000 Güteanträge gegen den Anlagevermittler, den Fondsinitiator und eine Treuhandkommanditistin ein. Später erhoben sie rund 1 750 Klagen gegen die Rechtsnachfolgerin des Anlagevermittlers. Die Klägerin erteilte eine Deckungszusage für die erste Instanz. Das LG wies die Klage wegen Verjährung ab. Die Klägerin erteilte auch für die zweite Instanz eine Deckungszusage. Sechs Tage nach Einlegung der Berufung verkündete der BGH ein Urteil zu den Anforderungen an einen die Verjährung hemmenden Güteantrag. Diesen Anforderungen genügte der von den Beklagten verwendete Musterantrag nicht. Im Laufe des Berufungsverfahrens bestätigte der BGH seine Rechtsprechung mehrfach. Einige dieser Entscheidungen betrafen den Musterantrag der Beklagten. Im Berufungsverfahren der bei der Klägerin versicherten Mandanten erließ das OLG daraufhin einen Hinweis gemäß § 522 Abs. 2 ZPO. Die Beklagten rieten den Mandanten nicht zur Rücknahme des Rechtsmittels. Nach Zurückweisung der Berufung erteilte die Klägerin eine Deckungszusage für die dritte Instanz. Die Nichtzulassungsbeschwerde blieb ebenfalls erfolglos.

Die Klägerin nimmt die Beklagten nunmehr auf Ersatz aller Kosten in Anspruch, die ihren Mandanten im Ausgangsrechtsstreit entstanden sind. Die Klage hatte in erster Instanz weitgehend Erfolg. Das OLG wies sie insgesamt ab.

Die Revision der Klägerin hat hinsichtlich eines Teils der zweitinstanzlichen Kosten und hinsichtlich der Kosten aus dritter Instanz Erfolg und führt insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das OLG.

Ansprüche der Mandanten auf Ersatz entstandener Kosten sind gemäß § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG auf die Klägerin übergegangen, soweit sie diese Kosten ersetzt hat. Die Geltendmachung dieser Ansprüche ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Klägerin für jede Instanz des Ausgangsrechtsstreits eine Deckungszusage erteilt hat. Ein Rechtsschutzversicherer ist schon gegenüber dem Versicherten nur berechtigt, nicht aber verpflichtet, die Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung zu prüfen. Gegenüber dem Anwalt des Versicherten treffen ihn insoweit erst recht keine Pflichten.

Ein Rechtsanwalt muss seinen Mandanten über die Risiken eines in Erwägung gezogenen Rechtsstreits aufklären. Hierbei muss er das ungefähre Ausmaß der Risiken abschätzen und dem Mandanten das Ergebnis mitteilen. Ist eine Klage praktisch aussichtslos, muss er dies klar herausstellen; unter bestimmten Umständen kann er sogar gehalten sein, von der Rechtsverfolgung ausdrücklich abzuraten.

Nach der Einleitung des Rechtsstreits muss der Rechtsanwalt seinen Mandanten gegebenenfalls auf eine eingetretene Änderung der Erfolgsaussichten aufklären. In diesem Stadium kann der Anwalt unter bestimmten Umständen verpflichtet sein, von einer Fortführung des Rechtsstreits abzuraten. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn der BGH eine zuvor noch ungeklärte Rechtsfrage in einem Parallelverfahren entscheidet und danach keine Aussicht auf Erfolg mehr besteht.

Diese Aufklärungspflichten bestehen auch dann, wenn der Mandant rechtsschutzversichert ist. Bei der Beurteilung der Frage, ob der Mandant sich beratungsgerecht verhalten, also von einer Einleitung bzw. Fortführung des Rechtsstreits abgesehen hätte, darf aber der Deckungsschutz durch eine Rechtsschutzversicherung berücksichtigt werden. Bei geringem oder fehlendem Kostenrisiko besteht in der Regel kein Anscheinsbeweis für beratungsgerechtes Verhalten. Ein Anscheinsbeweis ist hingegen zu bejahen, wenn die Rechtsverfolgung objektiv aussichtslos ist.

Im Streitfall ist die tatrichterliche Würdigung des OLG, dass die Beklagten zur Erhebung der Klage und zur Einlegung der Berufung raten durften, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Zu Unrecht ist das OLG hingegen davon ausgegangen, dass die Mandanten den Rat, die Berufung zurückzunehmen oder von der Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde abzusehen, nicht befolgt hätten. Das OLG hat sich nicht mit der Frage befasst, ob die weitere Rechtsverfolgung nach den Entscheidungen in den Parallelverfahren objektiv aussichtslos war. Nach der Zurückverweisung muss das OLG diese Frage klären.

Praxistipp: Die Haftung für den fehlerhaften Rat, ein Rechtsmittel einzulegen, wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der mit Einlegung und Durchführung dieses Rechtsmittels betraute Anwalt ebenfalls nicht davon abrät.