Anwaltsblog 3/2024: Noch einmal – Wann muss das Berufungsgericht Zeugen erneut vernehmen?

Ob das Berufungsgericht eine erstinstanzliche durchgeführte Beweisaufnahme wiederholen muss, wenn mit der Berufungsbegründung die Bewertung der Beweisaufnahme durch das erstinstanzliche Gericht angegriffen wird, hatte der VIII. Zivilsenat zu entscheiden:

Die Klägerin hatte an die Beklagten ein Haupt- und ein Nebenhaus an einem oberbayerischen See mit einer Gesamtwohnfläche von 410 m² vermietet. Sie beabsichtigte zunächst, das Grundstück zu verkaufen. Eine Besichtigung des Objekts durch den Makler wurde von den Beklagten, denen die Klägerin ebenfalls ein Verkaufsangebot unterbreitet hatte, verwehrt. Kurz darauf kündigte die Klägerin das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs. Sie wolle nunmehr das Haus selbst mit einem ihrer Söhne und dessen Familie bewohnen und ihr anderer Sohn wolle einen Bereich des Hauses als Zweitwohnsitz nutzen.

Das Amtsgericht hat der auf Räumungsklage nach zeugenschaftlicher Vernehmung der beiden Söhne zum Vorliegen des behaupteten Eigenbedarfs stattgegeben. Das Landgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Das Berufungsgericht sei grundsätzlich an die erstinstanzliche Beweiswürdigung gebunden, wenn keine konkreten Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit vorgetragen würden. Solche Anhaltspunkte seien ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche. Bloße subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügten nicht. Die Berufungsbegründung könne derartige konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht aufzeigen. Insgesamt setzten die Beklagten lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des Amtsgerichts.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Dem Berufungsgericht ist eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten. Das Berufungsgericht hat den Prüfungsmaßstab der Vorschrift des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und seine daraus folgende Prüfungskompetenz und -pflicht grundlegend verkannt und deshalb die nach dem Gesetz erforderliche eigene Beweiswürdigung unter Einbeziehung der von den Beklagten in der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen unterlassen. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht zwar grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszugs gebunden. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinne sind alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung ist dabei nicht – wie die revisionsrechtliche Prüfung – auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt. Das Berufungsgericht als zweite Tatsacheninstanz hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr sind auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen für das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig sind. Dabei können sich Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben, insbesondere daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz. Besteht aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, ist es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet.

(BGH, Beschluss vom 8. August 2023 – VIII ZR 20/23, MDR 2023, 1331)

 

Fazit: Das Berufungsgericht hat die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Vielmehr können sich Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Bewertungen der erstinstanzlichen Beweisaufnahme ergeben. Allerdings reicht für eine zweitinstanzliche Wiederholung einer Beweisaufnahme nicht jegliches Infragestellen der Beweiswürdigung durch das erstinstanzliche Gericht aus. Bloß subjektive Zweifel sowie abstrakte Erwägungen oder Vermutungen genügen aber nicht (kritisch dazu: Elzer MDR 2023, 1501 und Schwenker, jurisPR-BGHZivilR 1/2024 Anm. 6.

Anwaltsblog 2/2024: Wann muss das Berufungsgericht Zeugen erneut vernehmen?

Nicht nur auf die Einholung von Sachverständigengutachten (Anwaltsblog 1/2024), sondern auch auf die gebotene Vernehmung bereits erstinstanzlich gehörter Zeugen verzichten Berufungsgerichte häufig verfahrensrechtswidrig, wie der BGH dem OLG Naumburg attestieren musste:

Die Beklagten verkauften der Klägerin mehrere Grundstücke, auf denen sie seit rund 20 Jahren ein Hotel betrieben hatten, das die Klägerin fortführte. In § 5 des notariellen Vertrages heißt es: „3. Der Käufer übernimmt keine Verbindlichkeiten des Verkäufers, die bis zum 31. Dezember 2018 bzw. bis zum tatsächlichen Übergang entstanden sind bzw. begründet wurden. Hierfür haftet ausschließlich der Verkäufer. Der Verkäufer wird den Käufer auf erstes Anfordern von sämtlichen Ansprüchen Dritter, welche aufgrund einer Haftung für Verbindlichkeiten des Verkäufers gegen den Käufer geltend gemacht werden, freistellen. 4. …Vom Verkäufer bereits vereinnahmte Anzahlungen von Gästen für Events, Übernachtungen, Feiern o.ä., die erst nach dem Übergabetag stattfinden, sind vom Verkäufer an den Käufer zu erstatten. Gleiches gilt für die Vergütungen für bereits verkaufte Gutscheine.

Mit der Klage verlangt die Klägerin Zahlung für ausgegebene Gutscheine in Höhe von 335.725,21 €. Das LG hat der Klage stattgegeben, das OLG sie bis auf einen Betrag von 50.023,20 € abgewiesen. § 5 Nr. 4 des Kaufvertrages sei dahingehend auszulegen, dass die Klägerin Zahlung nur für solche Gutscheine verlangen kann, die eingelöst wurden und für die sie innerhalb der Gültigkeitsdauer entsprechende Bewirtungsleistungen erbracht hat, nicht jedoch – so die Auffassung des LG – für sämtliche von den Beklagten bis zum Übergabetag (15. Februar 2019) ausgestellten Gutscheine. Danach ergebe sich eine Forderung von 50.023,20 €. Der Interessenlage der Parteien entspreche es, die Ausgleichspflicht erst im Falle der Einlösung der Gutscheine anzunehmen. Dieses Auslegungsergebnis werde durch die erstinstanzliche Beweisaufnahme nicht in Frage gestellt. Der als Zeuge vernommene Notar habe zwar versucht, eine eigene Interpretation dafür kundzutun, was die Parteien angeblich „gewollt hätten“ und was dem „Geist des Vertrages“ entspräche. Er habe jedoch keine konkreten Tatsachen oder Umstände bekundet, die seine Interpretation tragen könnten. Dessen ungeachtet lasse seine Vertragsinterpretation eine ganze Reihe von Umständen, insbesondere die Interessenlage der Parteien, außer Betracht, und sie vermöge eine gebotene Auslegung nicht zu ersetzen. Die Argumentation, man habe einen eindeutigen „Cut“ gewollt und es sei beabsichtigt gewesen, alle Gutscheine auszugleichen, ganz gleich, ob diese noch eingelöst würden oder nicht, überzeuge nicht, wenn man die in der Klausel in Bezug genommene Regelung zu Veranstaltungen bedenke. Auch die Angaben des ehemaligem Hotelleiters der Klägerin stützten das Vertragsverständnis des LG nicht, auch wenn dieser Zeuge bekundet habe, alle Gutscheine hätten ohne Ausnahme umfasst sein sollen.

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg. Sie rügt zu Recht, dass das OLG die erstinstanzlich vernommenen Zeugen nicht erneut vernommen hat. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Feststellung geboten. Insbesondere muss das Berufungsgericht die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz. Das OLG hat die Zeugenaussagen anders als das LG gewürdigt. Das LG ist zu dem Ergebnis gekommen, dass nach dem Inhalt des notariellen Vertrages der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung für sämtliche von den Beklagten bis zur Übergabe verkauften Gutscheine zusteht, ohne dass eine irgendwie geartete Einschränkung vereinbart worden sei. Hierbei hat es sich maßgeblich auf die Aussage des als Zeugen vernommenen Notars gestützt. Dieser habe sich erinnert, dass man einen endgültigen „Cut“ gewollt habe. Man habe nicht abwarten wollen, ob ein Gutschein irgendwann noch eingelöst werde, sondern zu einem bestimmten Stichtag eine feste Regelung treffen wollen. Alle Gutscheine hätten auf Risiko des Verkäufers erstattet oder ausgeglichen werden sollen. Das weite Verständnis der Klausel werde auch durch die Aussagen des als Zeugen vernommenen ehemaligen Hotelleiters gestützt. Demgegenüber geht das OLG davon aus, der Notar habe nur eine „eigene Interpretation dafür kundgetan“, was die Parteien „angeblich gewollt“ hätten und was dem „Geist des Vertrages entspräche“. Damit nimmt es eine von dem LG abweichende Würdigung der Bekundungen des Notars vor. Das LG hat die Aussagen des Notars gerade nicht im Sinne einer bloßen Interpretation verstanden, sondern als Wiedergabe des von den Parteien in dem Beurkundungstermin tatsächlich Gewollten. Entsprechendes gilt für die Aussage des anderen Zeugen.

Es ist nicht auszuschließen, dass das OLG hinsichtlich der Frage, für welche Gutscheine die Klägerin von den Beklagten eine Erstattung verlangen kann, zu einer abweichenden Entscheidung gelangt wäre, wenn es die Zeugen erneut vernommen hätte. Wenn es der übereinstimmende Wille der Parteien (§ 133 BGB) war, dass die Klägerin einen Anspruch auf Erstattung für sämtliche bis zur Übergabe ausgegebenen Gutscheine haben soll, käme es auf die von dem Berufungsgericht in den Vordergrund gerückten Überlegungen einer nach beiden Seiten interessengerechten Auslegung des Vertrages nicht an.

(BGH, Beschluss vom 23. November 2023 – V ZR 59/23)

Fazit: Das Berufungsgericht muss die bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es deren Aussagen anders würdigen will als die Vorinstanz.