Medianden erleben es oftmals als erleichternd, wenn sie auf die Frage „Was führt Sie zu mir?“ in der zweiten Phase der Mediation so reden können, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Dabei tut es ihnen gut, wenn sie von ihrem Streitpartner nicht unterbrochen werden. Es geht ihnen darum, dem/r Mediator*in ihre Version der Geschichte vorurteilsfrei darstellen zu können, so wie sie es erlebt haben, ohne einen Zweifel an der Richtigkeit der jeweiligen Aussagen.
Bei einigen Mediand*innen hat sich über die Zeit des Konflikts ein wahrer Gefühlsstau entwickelt; für sie fühlt sich die Frage nach dem Erlebten an, als würde ein Stöpsel ihres inneren Dampfdruckkessels gezogen und die angestaute Energie und der Druck können mit einem Mal entweichen. Sie erzählen aufgebracht, sprechen mit einer hohen Emotionalität und lassen sich in ihrer Erzählung kaum unterbrechen. Andere wiederum berichten ruhig und sachlich, wirken überlegen durch ihre geordnete Vortragsweise und die Präzision ihrer Aussagen. In der Art und Weise, wie Menschen um ihre subjektive Wahrheit ringen und wie sie sich für die eigenen Interessen und Bedürfnisse einsetzen (können), unterscheiden sich Menschen (Parteien wie Mediator*innen) teilweise deutlich voneinander.
Für wen können Sie sich als Mediator*in eher öffnen? Mit welchem Verhalten können Sie leichter umgehen, was halten Sie weniger gut aus? Wie (re-)agieren Sie selbst, wenn sie mitten in einem Konflikt stecken und gesehen und gehört werden wollen? Die Vorlieben wie auch die Schattenseiten im individuellen Verhaltensrepertoire von Mediator*innen beeinflussen die Gesprächsgestaltung in dieser Phase der Mediation mit, lassen sie ruhig und geduldig zuhören oder sich vom Druck der Mediand*innen anstecken.
In jedem Fall ergibt sich für eine*n Mediator*in durch konkretisierende Nachfragen und strukturierende Zusammenfassungen langsam und allmählich ein Bild von den Geschehnissen zwischen den Beteiligten.
Hören sie den Mediand*innen nacheinander zu, werden ihnen allerdings in der Regel zwei vollkommen unterschiedliche Versionen des gleichen Konflikts geschildert. Wie kann es dazu kommen? Hat eine Person die „richtige“ Version geschildert und die andere weicht davon ab? Wie gehen Sie damit um, wenn die Konfliktgeschichten scheinbar unvereinbar nebeneinanderstehen? Würden Sie ausgleichen wollen und beruhigen? Fassen Sie die Konfliktlinien zusammen und heben dadurch den Unterschied noch stärker hervor? Wie viel Unterschiedlichkeit können Sie selbst aushalten?
Dass sich Erlebtes voneinander unterscheidet, ist vollkommen normal und muss uns als Mediator*innen nicht beunruhigen. Eine Ursache liegt in der unterschiedlichen Wahrnehmung und Bewertung von Situationen. Unterliegen Sie also nicht der Verlockung, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, wenn sich die Unterschiedlichkeit gerade so deutlich offenbart. Folgen Sie weiter den Unterschieden: Was ist überhaupt vorgefallen? Welches Verhalten wird von wem in welcher Weise als einschränkend erlebt? Woran stören sich die Beteiligten konkret? Und worüber müssen die Parteien dann sprechen?
In dieser zweiten Phase der Konfliktklärung bewegt sich ein*e Mediator*in immer auf dem schmalen Grad, einerseits Informationen zu benötigen, um den Sachverhalt sowie die Problemkonstellation zu verstehen und andererseits bereits vertiefte Hintergründe und Motive zu erfahren, die eigentlich zu einem späteren Zeitpunkt in der Konflikterhellung gut aufgehoben sind. Die Kunst der Gesprächsführung in dieser Phase der Mediation besteht darin, sich die verschiedenen Konfliktgeschichten anzuhören und lediglich relevante Themen herauszufiltern. Die Trennschärfe zwischen den Mediand*innen ist dabei die Orientierungshilfe. In der aktuellen Ausgabe der ZKM (5/2019) habe ich im Rahmen der Lehrmodulreihe Blickwechsel anhand eines Beispiels demonstriert, wie sich diese Phase strukturieren und aus den Konfliktversionen Themen – in Abgrenzung zu Positionen, Interessen oder Lösungsvorschlägen – ableiten lassen (vgl. Bielecke, ZKM 2019, 169 ff.).
Als Mediator*in müssen Sie dennoch zu jedem Zeitpunkt der Mediation ausstrahlen, dass sich Gegensätze überwinden lassen und die Mediation auch und gerade angesichts der vielen Unterschiede in den Sichtweisen, Einstellungen und Grundwerten, erfolgreich sein kann. Parteien dürfen verschieden sein, ihre Erlebnisse dürfen sich voneinander unterscheiden – es gilt, den Konflikt auszuhalten, wie er Ihnen als Mediator*in angeboten wird.
Die Phase 2 „Schilderung des Sachverhalts und Sammlung / Priorisierung von Themen“ enthält zahlreiche Verlockungen, ausgleichend und harmonisierend einwirken zu wollen. Es lohnt sich als Mediator*in, die eigene Fähigkeit zur Trennschärfe für sich selbst unter die Lupe zu nehmen. Je gelassener Sie mit der Unterschiedlichkeit von Menschen umgehen können, umso leichter wird Ihnen die Begleitung von Konfliktbeteiligten in diesem Schritt der Konfliktklärung fallen. Ausführlich hierzu in meinem Beitrag „Konfliktfähigkeit – Kann man ‚richtig streiten‘ lernen?“ (Bielecke, ZKM 2017, 177 ff.).