Sprichwörtlich in letzter Sekunde, tatsächlich jedenfalls bei letzter Gelegenheit hat der 19. Deutsche Bundestag am 7.9.2021 die Regelungen zur virtuellen Hauptversammlung ein zweites Mal verlängert. Damit wird es nach den Jahren 2020 und 2021 „angesichts der ungewissen Fortentwicklung der Pandemie-Situation und daraus resultierender Versammlungsbeschränkungen“ (BT-Drucks. 19/32275, 30) auch im Jahr 2022 die Möglichkeit geben, Hauptversammlungen ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten als virtuelle Hauptversammlung abzuhalten.
In der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 19/32275, 30) mahnt der Gesetzgeber, dass von dem „Instrument“ der Online-Hauptversammlung „im Einzelfall nur dann Gebrauch gemacht werden [sollte], wenn dies unter Berücksichtigung des konkreten Pandemiegeschehens und im Hinblick auf die Teilnehmerzahl der jeweiligen Versammlung erforderlich erscheint.“ Die Prognoseentscheidung (!) nach § 1 Abs. 2 COVMG muss ermessensfehlerfrei erfolgen. Es gelten die Grundsätze für eine unternehmerische Entscheidung auf Grundlage des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG (Business Judgement Rule), wobei gem. § 1 Abs. 7 COVMG, der ebenfalls bis 31.8.2022 verlängert wurde, allein vorsätzlicher Missbrauch schadet. Daher sind an die Ermessensentscheidung keine allzu hohen Anforderungen zu stellen.
Eindeutig lässt sich vor diesem Hintergrund wohl nur folgende Situation beurteilen: Nach einem sog. Freedom Day (zuletzt Dänemark) kann rechtssicher keine virtuelle Hauptversammlung mehr geplant werden. Eine bereits einberufene Online-Hauptversammlung müsste aber nicht wieder abberufen und als physische Versammlung neu einberufen werden. Vielmehr könnte dann auch nach der Aufhebung sämtlicher Pandemiebeschränkungen eine virtuelle Versammlung abgehalten werden. Auch dürfte eine Hauptversammlung vollständig virtuell durchgeführt werden, wenn die Vorbereitungen zum Zeitpunkt eines möglichen Freedom Days bereits so weit fortgeschritten sind, dass die kurzfristige Organisation einer physischen Versammlung bis zum 31.8.2022 faktisch unmöglich wäre. Im Übrigen dürfte für die Beurteilung, ob die Entscheidung zur Einberufung und Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung ermessensfehlerfrei war, nicht der Zeitpunkt der Einberufung, sondern (ex ante!) ein Zeitpunkt sein, der mitunter weit vor dem Tag der Einberufung liegt. Sollte sich ein Emittent mit Blick auf den Gesundheitsschutz der Aktionäre, Organmitglieder, Dienstleister, Presse- und Medienvertreter aus Vorsichtsgründen für eine Online-Hauptversammlung entscheiden, dürfte es aus heutiger Sicht schon im Ansatz schwerfallen, Ermessensfehler zu konstruieren.
Im Ergebnis ist daher auch für die Hauptversammlungssaison 2022 davon auszugehen, dass diese weitestgehend, wenn nicht gar nahezu vollständig, virtuell stattfinden wird.
Mehr zur virtuellen Hauptversammlung 2022 in der AG 2021, R283.