KG: Kompetenzkonflikt zwischen Zivilkammern

Die Einführung der Zivilkammern mit Sonderzuständigkeit nach § 72a GVG hat zu zahlreichen Folgeproblemen geführt. Eines davon ist – wie zu erwarten war – der Zuständigkeitskonflikt.

In einem Verfahren vor dem KG (Beschl. v. 25.2.2021 – 2 AR 7/21) ging es um folgenden Sachverhalt: Aufgrund verschiedener Forderungen, die letztlich aus Bauverträgen stammten, hatte die Beklagte gegenüber der Klägerin ein abstraktes Schuldanerkenntnis abgegeben. Aus diesem Anerkenntnis nahm die Klägerin die Beklagte nunmehr im Urkundenprozess in Anspruch. Die allgemeine Zivilkammer sah die Sache als Bausache an, die „Baukammer“ als allgemeine Zivilsache.

Das KG sah sich als zuständig an, um den Konflikt zu entscheiden. Zwar spricht § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO von verschiedenen Gerichten. Die Vorschrift ist aber nach st. Rspr. auch dann anzuwenden, wenn sich verschiedene Spruchkörper eines Gerichts über eine gesetzliche Geschäftsverteilung streiten, d.h. eine Frage betroffen ist, die nicht durch das Präsidium des Gerichts entschieden werden darf. Notwendig ist allerdings, dass die jeweiligen, die Zuständigkeit ablehnenden Entscheidungen auch den Verfahrensbeteiligten bekannt gemacht wurden. Dabei reicht es aus, wenn die Entscheidung einer Kammer durch die andere bekannt gemacht wird.

Der Wortlaut des § 72a GVG „Streitigkeiten aus Bau-…verträgen …, soweit sie im Zusammenhang mit Bauleistungen stehen“ legt allerdings nahe, dass es auf das Rechtsverhältnis ankommt, aus dem der Anspruch hergeleitet wird. Dies war hier kein Bauvertrag, sondern ein abstraktes Schuldanerkenntnis. Allerdings wollte der Gesetzgeber alle Streitigkeiten unabhängig von der vertraglichen Qualifikation als Bauvertrag erfassen. Das KG hatte bereits früher entschieden, dass eine Zuständigkeit der Baukammer gegeben ist, wenn sich die Klägerseite auf ein sog. deklaratorisches Anerkenntnis beruft. Bei einem abstrakten Anerkenntnis muss dasselbe gelten, und zwar aus folgenden Gründen: Die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Anerkenntnissen ist oftmals schwierig und stark einzelfallabhängig. Von einem solchen Umstand eine gerichtliche Zuständigkeit abhängig zu machen, wäre sachwidrig. Entscheidend ist aber, dass es gerade bei abstrakten Anerkenntnissen im Laufe des Prozesses in den überwiegenden Fällen doch auf das zugrundeliegende Rechtsverhältnis ankommt. Regelmäßig wird die Unwirksamkeit des Anerkenntnisses nach den §§ 138, 142 BGB geltend gemacht oder es wird wenigstens versucht, das Anerkenntnis nach § 812 Abs. 1 1 Alt. 1 zu kondizieren. Damit sprechen die besseren Argumente dafür, auch derartige Streitigkeiten den Spezialkammern zuzuweisen. Es kommt mithin darauf an, welche Streitigkeit hinter dem jeweiligen Anerkenntnis steht.

Fazit: Die Entscheidung des KG ist sach- und praxisgerecht und sollte Schule machen.

OLG Brandenburg: Besorgnis der Befangenheit bei Untätigkeit?

Das OLG Brandenburg (Beschl. v. 21.9.2020 – 1 W 25/20) hat sich mit der Frage beschäftigt, ob die bloße Untätigkeit eines Richters eine Besorgnis der Befangenheit begründen könne. Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Sachverhalt: Der anwaltlich vertretene Antragsteller beantragte im Juni 2018 bei dem Amtsgericht einen Erbschein. Im November 2018 wies die Richterin darauf hin, dass der Antragsteller nach ihrer Auffassung durch ein Negativtestament als Erbe ausgeschlossen sei. Deswegen käme die beantragte Erteilung des Erbscheins nicht in Betracht. Der Antragsteller hielt an seiner abweichenden Rechtsauffassung fest. Er bat um eine Entscheidung. Diese Bitten wiederholte der Antragsteller im Februar, Mai und Juni 2019 und schließlich im Januar 2020. Im Juni 2020 lehnte der Antragsteller dann die Richterin wegen Besorgnis der Befangenheit ab und erhob darüber hinaus eine Verzögerungsrüge. In ihrer dienstlichen Erklärung führt die Richterin aus, sie habe die Sache vor sich hergeschoben, um sich zu einem späteren Zeitpunkt die nötige Zeit für die Bearbeitung der Sache zu nehmen. Das AG wies den Antrag zurück, das OLG beschied die sofortige Beschwerde gleichfalls negativ.

Die Entscheidung des Gerichts: Das OLG weist darauf hin, dass die schlichte Untätigkeit eines Richters ohne Hinzutreten weiterer Umstände eine Besorgnis der Befangenheit noch nicht begründen kann. Eine Untätigkeit kann eine Besorgnis der Befangenheit bestenfalls dann rechtfertigen, wenn die mitgeteilten Gründe unhaltbar sind oder wenn Gründe nicht einmal mitgeteilt werden und daraus der Schluss auf eine rechtsschutzfeindliche Gesinnung gegenüber der Partei gerechtfertigt ist. Dabei ist es nicht möglich, eine derartige Gesinnung einfach zu unterstellen. Somit kann hier eine Besorgnis der Befangenheit nicht unterstellt werden.

Fazit: Eine andere Entscheidung ist aus praktischen Erwägungen heraus kaum vorstellbar! Ansonsten hätte – wenigstens theoretisch – jeder Richter die Möglichkeit, sich einer für ihn unangenehmen Sache dadurch zu entledigen, dass er sie einfach nicht bearbeitet. Natürlich ist nicht zu verkennen, dass jahrelange Verzögerungen für die Rechtssuchenden im Einzelfall zu unerträglichen Situationen führen können. Dieser Konflikt ist letztlich kaum oder gar nicht lösbar. Im Zweifelsfall bleibt wahrscheinlich nur übrig, die Justizverwaltung in Gestalt des Justizministeriums mit der Androhung von Amtshaftungsansprüchen unter Druck zu setzen. Dann kann man nur hoffen, dass die Amtshaftungsklage tatsächlich in angemessener Dauer bearbeitet wird und nicht auch mit Verzögerungsrügen und Befangenheitsanträgen endet.

 

LG Frankfurt a.M.: Befugnis des Vorsitzenden, das Tragen einer besonderen Maske anzuordnen

In einem Beschluss hatte ein Richter am Amtsgericht für die durchzuführende mündliche Verhandlung u. a. folgendes angeordnet: „Anwesende Personen müssen durchgängig einen geeigneten Mund-Nase-Schutz tragen (OP-Maske oder höhere Schutzklasse, notfalls dichtes Baumwolltuch).“ Dagegen legte der Beklagte eine Beschwerde ein und führte aus: Er wolle sich nicht gegen das Tragen einer Maske an sich, sondern nur dagegen beschweren, eine Maske mit höherer Schutzklasse tragen zu müssen. Diese stelle eine nicht gerechtfertigte Einschränkung der Wahrnehmung rechtlicher Interessen und einen unverhältnismäßigen Eingriff in seine Berufsfreiheit dar.

Das LG (LG Frankfurt a.M., Beschl. v. 5.11.2020 – 2-03 T 4/20) lässt dahinstehen, ob die Beschwerde zulässig ist, sondern hält diese auf jeden Fall für unbegründet. Bei der getroffenen Maßnahme handelt es sich um eine gemäß § 176 GVG zulässig sitzungspolizeiliche Anordnung. Eine solche umfasst auch Maßnahmen des Infektionsschutzes. Wegen der aktuellen Verbreitung des Corona-Virus darf auch das – ohnehin weit verbreitete – Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (vulgo als Maske bezeichnet) angeordnet werden. Der Vorsitzende darf sich dabei an den Empfehlungen des Robert Koch-Institutes orientieren. Dem Beklagten ist es auch mit Maske ohne weiteres zumutbar, mündlich vorzutragen. Auch die weitere Beschreibung bzw. Konkretisierung der Maske ist nicht zu beanstanden, zumal sie den Anforderungen entspricht, die in der einschlägigen Corona-VO gleichfalls gestellt werden. Weitergehend wäre sogar eine Anordnung zum Tragen von Masken nach den Standards FFP2 oder KN95 auch von dem Ermessen des Vorsitzenden gedeckt gewesen. Derartige Masken sind für geringe Beträge zu erwerben und stellen einen besseren Schutz dar. Da damit die Gefahr einer Infektion reduziert werden kann, liegt auch kein unzulässiger Eingriff in die Berufsfreiheit vor.

Es ist daher festzuhalten: Der Vorsitzende ist gemäß § 176 GVG nach seinem Ermessen dazu berechtigt, Anordnungen zum Infektionsschutz zu treffen, insbesondere zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, auch mit einer höheren Schutzklasse.

 

Corona-Pandemie: Schweigen einer Partei ersetzt nicht die Zustimmung zur Entscheidung im schriftlichen Verfahren

Das OLG Düsseldorf hat  entschieden, dass das Schweigen einer Partei auf die Anordnung des schriftlichen Verfahrens auch unter Berücksichtigung der im März 2020 bestehenden COVID-19-Situation nicht als Zustimmung gedeutet werden kann (Beschl. v. 16.07.2020 – I-12 U 26/20).

Das LG hatte im schriftlichen Verfahren nach § 128 ZPO ein klageabweisendes Urteil verkündet. Die erforderliche eindeutige Einverständniserklärung des Klägers hierfür lag nicht vor. Der Kläger beantragte nunmehr Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren und rügte u. a. diesen Verfahrensfehler. Das OLG lehnte die beantragte Prozesskostenhilfe gleichwohl ab.

Allerdings lag hier ein Verfahrensfehler vor. Für die Anordnung des schriftlichen Verfahrens gemäß § 128 ZPO ist eine klare und eindeutige Erklärung beider Parteien erforderlich. Die Corona-Virus-Pandemie und der Umstand, dass die Gerichte teilweise nur im „Notbetrieb“ gelaufen sind, ändert daran nichts. Zwar hatte der Kläger nach der Anordnung des schriftlichen Verfahrens dazu geschwiegen, aber auch dieses Schweigen ersetzt keine Zustimmung. Dieser Verfahrensfehler nötigt jedoch nicht zur Aufhebung und Zurückverweisung, die der Kläger hier erreichen wollte. Dabei kann dahinstehen, ob ein Verstoß gegen den Grundsatz der Mündlichkeit überhaupt als wesentlicher Verfahrensmangel gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO angesehen werden kann. Denn im konkreten Fall drohte keine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme, wie sie für eine Aufhebung und Zurückverweisung Voraussetzung ist. Vielmehr hätten die erforderlichen Feststellungen, wenn es auf sie ankäme, unproblematisch von dem OLG selbst getroffen werden können. Das OLG Düsseldorf betont in diesem Zusammenhang erneut, dass es für eine Aufhebung und Zurückverweisung gerade nicht ausreichend ist, wenn den Parteien noch Gelegenheit zu weiterem Vortrag zu geben wäre und alsdann möglichweise eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme erforderlich werden sollte (vgl. BGH, Urt. v. 2.3.2017 – VII ZR 154/15, MDR 2017, 842; s. a. Frank O. Fischer MDR 2020, 832 ff.).

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat weiterhin deshalb keinen Erfolg, weil es – gerade in der Berufungsinstanz – immer auf die Erfolgsaussicht in der Sache ankommt. Dies bedeutet: Wenn es trotz eines Verfahrensfehlers der ersten Instanz letztlich bei der getroffenen Entscheidung bleiben wird, ist keine Prozesskostenhilfe zu bewilligen. So aber lagen die Dinge im konkreten Fall.

Fazit: Eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 128 ZPO setzt – auch angesichts der gegenwärtigen Corona-Virus-Pandemie – voraus, dass beide Parteien ausdrücklich und vorbehaltlos ihr Einverständnis mit dem schriftlichen Verfahren erklärt haben. Prozesskostenhilfe für die Berufungsinstanz kann nicht bewilligt werden, wenn es letztlich bei der angefochtenen Entscheidung bleiben wird, obwohl der ersten Instanz ein Verfahrensfehler unterlaufen ist. Etwas leichter ist es allerdings bei dem Amtsgericht im Verfahren nach § 495a ZPO: Dort kann von Amts wegen im schriftlichen Verfahren entschieden werden. Davon sollte die Praxis derzeit großzügig Gebrauch machen.

OLG Düsseldorf: Versehentliche Doppelanlage einer Akte

In einem Verfahren vor dem OLG Düsseldorf (Beschl. v. 18.7.2019 – I-10 W 75/19) reichte ein Rechtsanwalt bei einem LG eine Klageschrift ein. Vorsichtshalber war diese Klage zuvor gefaxt worden. Das Faxexemplar enthielt den Vermerk „per Fax vorab“, nicht aber das Original. Auf der Geschäftsstelle wurden zwei Akten angelegt. Für beide Vorgänge wurden die Verfahrensgebühren nach Nr. 1210 Anlage I GKG in Rechnung gestellt. Gegen die Kostenrechnung wurde Erinnerung eingelegt, der das LG nicht abhalf. Die Beschwerde nach § 66 Abs. 2 Satz 1 GKG war bei dem OLG Düsseldorf erfolgreich. Den Klägervertreter hat hier der Vermerk „per Fax vorab“ gerettet. Bei derartigen Vorgängen ist nämlich auf den Empfängerhorizont abzustellen. Aus diesem ergibt sich, dass der Rechtsschutz hier nur einmal begehrt wurde. Die Schriftstücke waren erkennbar miteinander verknüpft und gingen im kurzen Abstand ein. Unschädlich ist dabei sogar, dass das Original der Klageschrift nicht mehr den Vermerk „per Fax vorab“ erhielt.

Fehlt allerdings ein solcher Vermerk, handelt es sich um eine fahrlässig verursachte versehentliche Klageeinreichung. In einem solchen Fall fällt die Gebühr zwei Mal an (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 4.5.1999 – 10 W 45/99, MDR 1999, 1156). Natürlich können die Gebühren durch eine Rücknahme reduziert werden (Nr. 1211 Anlage 1 GKG). Man muss also genau darauf achten, dass man diesen Vermerk anbringt, am besten natürlich sowohl auf dem „Fax-vorab“ als auch auf dem Original.

Es ist verständlich, dass viele Rechtsanwälte ihre Schriftsätze vorsorglich vorab faxen, wenngleich dies für die Geschäftsstellen sehr aufwändig ist und die Akten unnötig dick werden lässt. Es kommt allerdings vor, dass Schriftsätze nicht nur „per Fax vorab“, sondern darüber hinaus noch mit dem beA und auch im Original versandt werden. Davon sollte wirklich Abstand genommen werden. An sich reicht das beA alleine! Es ist allerdings nicht zu verkennen, dass es in manchen Gerichten durchaus länger dauern kann, bis ein solcher Schriftsatz tatsächlich dem Richter bzw. dem Spruchkörper mit der richtigen Akte vorgelegt wird. In besonderen eiligen Fällen kann es daher ausnahmsweise tatsächlich Sinn ergeben, auch – trotz beA-Versendung – vorab zu faxen. Im Zweifel kann auch einmal ein Anruf bei der Geschäftsstelle helfen.

 

 

 

BVerfG: Rechtliches Gehör bei unterbliebener Parteianhörung zu „gerichtskundiger“ Tatsache im Zivilprozess

Das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG ist in der oberstgerichtlichen Praxis eine beständige Aufhebungsgrundlage. Im konkreten Fall hat das BVerfG mit Beschl. v. 17.9.2020 – 2 BvR 1605/16, MDR 2020, 1524 eine Entscheidung eines Amtsgerichts wegen mehrfachem Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs aufgehoben. Wichtig für die alltägliche Praxis erscheinen hinsichtlich dieses Beschluss folgende Aspekte:

Nachdem Art. 103 Abs. 1 GG das Recht gibt, sich sowohl zum Sachverhalt als auch zur Rechtslage zu äußern, sind für beide Aspekte dieselben Grundsätze maßgeblich. Dabei muss sich das Gericht nicht mit jedem Vorbringen einer Partei ausdrücklich befassen. Der wesentliche Kern des Tatsachenvortrages, der von zentraler Bedeutung ist, muss allerdings beschieden werden. Wenn dazu in der angefochtenen Entscheidung nichts geschrieben wurde, muss von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs ausgegangen werden.

Die Gerichtskundigkeit einer relevanten Tatsache ist ein Unterfall der Offenkundigkeit nach § 291 ZPO. Wenn das Gericht eine Tatsache als gerichtskundig ansehen möchte, muss es diese jedoch zuvor in den Prozess einführen und darf der betroffenen Partei nicht dadurch den Gegenbeweis abschneiden, dass es erst in der Entscheidung die Gerichtskundigkeit behauptet.

Im konkreten Fall hatte das AG übereinstimmenden Vortrag der Parteien zum Vorliegen von AGB übergangen und war demgegenüber von einer Individualvereinbarungen ausgegangen. Darüber hinaus war das AG von der Angemessenheit einer Forderung der Höhe nach ausgegangen, ohne vorher darauf hinzuweisen, dass die einschlägigen Preise bekannt seien. So hatte die betroffene Partei keine Möglichkeit mehr, diese Erwägungen in Frage zu stellen bzw. einen Gegenbeweis anzutreten.

Fazit: Die Anforderungen an die Wahrung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs werden immer höher. Als Richter muss man sich bei fast jedem Satz, den man schreibt, die Frage stellen, ob damit nicht schon eine Verletzung des rechtlichen Gehörs verbunden ist.

BGH: Sorgfaltsanforderungen bei der Rechtsmittelbegründung per Telefax

Der BGH hat sich erneut mit Beschl. v. 15.9.2020 – VI ZB 60/19 mit der Fristwahrung per Telefax befasst. Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Rechtsanwalt begann am Tage des Fristablaufes um 23.40 Uhr, eine Berufungsbegründung an die Außenstelle eines OLG zu übermitteln. Um 23.47 Uhr erhielt er eine Fehlermeldung, es wurden einige Seiten übermittelt, allerdings nicht diejenige mit der Unterschrift. Anschließend wurde eine erneute Übermittlung versucht, die wiederum scheiterte, was um 23.53 Uhr feststand. Ein letzter Versuch scheiterte gleichfalls, was um 00.01 Uhr feststand. Kurze Zeit später gelang es, die Berufungsbegründung in einer Zeit von knapp zwei Minuten an die Hauptstelle des OLG zu übermitteln. Das Faxgerät des Rechtsanwalts war so eingestellt, dass es im Rahmen einer Anwahl jeweils vier Übermittlungsversuche hintereinander unternahm. So wurde die Frist versäumt.

Der Wiedereinsetzungsantrag blieb erfolglos! Denn es bleibt – was ausreichend ist (!) – zumindest die Möglichkeit offen, dass die Fristversäumnis auf einem Verschulden des Rechtsanwalts beruht. Dieses muss sich die Partei gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen.

Zunächst fasst der BGH informativ die Grundsätze der Sorgfalt in derartigen Fällen zusammen: Grundsätzlich darf eine Frist bis zu ihrer Grenze ausgenutzt werden. Risiken, die aus technischen Gegebenheiten resultieren, dürfen nicht auf den Benutzer abgewälzt werden. Normalerweise reicht es, die richtige Nummer zu wählen und so rechtzeitig mit der Übermittlung zu beginnen, so dass mit ihrer Beendigung vor Fristablauf unter normalen Umständen gerechnet werden kann. Allerdings müssen auch Verzögerungen einkalkuliert werden, mit denen gleichfalls unter normalen Umständen zu rechnen ist (z.B. unterschiedliche Übertragungsgeschwindigkeiten und Belegung des Empfangsgerätes durch andere Sendungen). Demgemäß ist ein Sicherheitszuschlag von ungefähr 20 Minuten einzuplanen. Scheitert jedoch eine Übermittlung, so sind alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Fristwahrung zu ergreifen. Hierzu gehört u. a., eine weitere Faxnummer des Gerichts zu ermitteln (z.B. über den Internetauftritt des Gerichts) und die Sendung dorthin zu übermitteln bzw. dies wenigstens zu versuchen. Dies ist vor allem dann geboten, wenn das Gericht (z. B., weil es Außenstellen unterhält) über mehrere verschiedene Faxanschlüsse verfügt.

Demgemäß ist dem Rechtsanwalt hier vorzuwerfen, dass er – nach dem Scheitern des zweiten Übermittlungsversuchs – noch einen dritten an die Außenstelle versucht hat anstatt einen ersten Versuch an die Hauptstelle. Dies gilt vor allem angesichts des Umstandes, dass jeder der beiden Versuche mit sogar vier Anwahlversuchen verbunden war.

Fazit: Es ist daher stets riskant, Fristen vollständig auszuschöpfen. Und wenn es einmal gleichwohl passieren sollte, muss man am Ende einen kühlen Kopf bewahren und genau überlegen, was man tun muss. Ansonsten könnte zum einen die Frist versäumt werden und zum anderen auch die anschließende Wiedereinsetzung scheitern. Am besten, man setzt sich eine interne Frist, die mindestens eine Stunde vor der tatsächlichen Frist endet.

BGH: Verletzung des rechtlichen Gehörs mangels Kenntnisnahme eines Schriftsatzes

Der BGH hat mit Beschl. v. 28.5.2020 – I ZR 214/19 eine Verletzung des rechtlichen Gehörs  auch für den Fall angenommen, dass ein frist­ge­recht ein­ge­reich­ter Schrift­satz aufgrund gerichtsinterner organisatorischer Probleme ver­se­hent­lich un­be­rück­sich­tigt bleibt.

Das LG hatte eine Klage im Wesentlichen abgewiesen. Die Beklagte legte Berufung ein. Das OLG kündigte im Rahmen eines Hinweisbeschlusses an, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Die Stellungnahmefrist für die Beklagte zu diesem Beschluss wurde mehrfach verlängert. Nach Fristablauf wies das OLG die Berufung zurück und nahm auf den Hinweisbeschluss Bezug. Am letzten Tag der Frist war jedoch eine Stellungnahme eingegangen, und zwar im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs. Diese wurde dem zuständigen Senat aber erst nach Erlass des Beschlusses vorgelegt. Dies lag daran, dass der Drucker in der Wachtmeisterei des Hauptgebäudes ausgefallen war und deswegen der Schriftsatz in einem Nebengebäude ausgedruckt wurde. Infolge des verlängerten Transportweges kam es zu der verspäteten Vorlage.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hatte Erfolg. Das OLG hat das rechtliche Gehör verletzt. Ein Verschulden des Spruchkörpers ist dafür nicht erforderlich. Gerichtsinterne organisatorische Probleme dürfen sich nicht zu Lasten der Rechtssuchenden auswirken. Eine versehentliche Nichtberücksichtigung eines Schriftsatzes reicht daher für eine Verletzung des rechtlichen Gehörs aus. Allerdings muss bei einer Verletzung des rechtlichen Gehörs die Entscheidung auch auf der Nichtberücksichtigung beruhen. Wenn die Beklagte in dem nicht berücksichtigten Schriftsatz nur auf ihr bisheriges Vorbringen Bezug genommen hätte, könnte ausgeschlossen werden, dass das OLG bei Kenntnis des Schriftsatzes abweichend entschieden hätte. Im hier zu beurteilenden Fall hatte sich der Schriftsatz jedoch mit dem Hinweisbeschluss argumentativ auseinandergesetzt, darüber hinaus war noch ein neuer Vortrag erfolgt. Zudem wurde noch ein Antrag auf Aussetzung des Verfahrens gestellt.

Unter diesen Umständen konnte nicht ausgeschlossen werden, dass das OLG – was ausreichend ist – bei Kenntnisnahme des Schriftsatzes abweichend von der tatsächlichen Entscheidung entschieden hätte. Demgemäß hat der BGH den Beschluss des OLG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.

Fazit: Der Verfahrensablauf ist ärgerlich. Aufgrund eines Druckerausfalls wird der Rechtsstreit möglicherweise deutlich teurer. In derartigen Fällen sollten die Justizverwaltungen sofort reagieren und per Mail alle Gerichtsmitglieder darüber verständigen, dass die Vorlage von Schriftsätzen länger dauern könnte. Weiterhin ist zu erwägen, Gerichtskosten gegebenenfalls niederzuschlagen. Auch müssten unter Umständen seitens der Beteiligten Amtshaftungsansprüche geprüft werden.

OLG Frankfurt: Beschwerde gegen die Festsetzung eines Gebührenstreitwertes

In einem Verfahren vor dem OLG Frankfurt (Beschl. v. 6.5.2020 – 6 W 43/20) hatte das Landgericht  als Vollstreckungsgericht (Prozessgericht des ersten Rechtszuges) aufgrund des Verstoßes gegen eine Unterlassungsverfügung auf Antrag des Antragstellers gegen den Antragsgegner ein Ordnungsgeld festgesetzt (§ 890 ZPO). Gleichzeitig hatte es den Streitwert für das (Ordnungsgeld)Verfahren festgesetzt. Der Antragsgegner legte gegen den Streitwertbeschluss Beschwerde ein (§ 68 GKG). Die Beschwerde erwies sich als begründet und führte zur Aufhebung des Streitwertbeschlusses.

Oftmals wird von den Gerichten am Ende eines Verfahrens routinemäßig ein Streitwert festgesetzt. Dieser Streitwert gilt dann für die Gerichtsgebühren. Dabei wird oft übersehen, dass die Wertfestsetzung nur dann erfolgen darf (§ 63 GKG), wenn sich die Gebühren überhaupt nach dem Wert richten. Im hier maßgeblichen Ordnungsgeldverfahren fällt jedoch eine Festgebühr nach Nr. 2111 Anlage 1 GKG an. Damit bedurfte es keiner Wertfestsetzung durch das Landgericht!

Es wäre noch zu erwägen, ob es sich unter Umständen um eine Wertfestsetzung für die Anwaltsgebühren nach § 33 RVG gehandelt haben könnte. Eine solche Festsetzung wollte aber das LG hier, was sich aus der Begründung des Beschlusses ergab, nicht treffen. Darüber hinaus ist eine solche Festsetzung nur auf Antrag zulässig. Da es an einem solchen Antrag fehlte, war auch eine Wertfestsetzung für die Anwaltsgebühren durch das Beschwerdegericht nicht zulässig.

Der Wertfestsetzungsbeschluss des Landgerichts war daher letztlich ebenso unnötig wie unbeachtlich. Gleichwohl ist er auf ein zulässiges Rechtsmittel hin aufzuheben. Dies ergibt sich daraus, dass durch den Beschluss ein Rechtsschein entstanden ist, der den Antragsgegner belastet und so zu der notwendigen Beschwer führt.

Der Antragsteller hatte sich gleichzeitig gegen die Höhe des Ordnungsgeldes beschwert. Insoweit hatte das Oberlandesgericht ausgeführt, dass der festgesetzte Betrag in Höhe von 25.000 Euro durchaus angemessen war, zumal es sich um einen wiederholten Verstoß gehandelt hatte und vom Grundsatz her gilt: Eine Titelverletzung durch den Schuldner soll sich nicht lohnen. Deswegen ist grundsätzlich die Festsetzung empfindlich hoher Beträge geboten.

BGH: Beginn der Beschwerdefrist bei einer fehlerhaften Zustellung

In einer Familienstreitsache (BGH, Beschl. v. 22.4.2020 – XII ZB 131/19, MDR 2020, 1081) ging es um Trennungsunterhalt. Das Amtsgericht verkündete am 18.11.2016 eine begründete Entscheidung, wonach der Antragsgegner an die Antragstellerin u. a. 333 Euro monatlich zahlen sollte. Den Beteiligten wurde hingegen eine Ausfertigung ohne Gründe zugestellt, wonach der Antragsgegner u. a. 524 Euro monatlich zahlen musste. Der Antragsgegner zahlte die 524 Euro. Erst bei einem weiteren Termin am 14.9.2018 (mithin fast zwei Jahre später!) fiel dieses Versehen auf. Daraufhin wurde der (richtige) Beschluss vom 18.11.2016 dem Antragsteller am 24.09.2018 zugestellt. Am 23.10.2018 wurde daraufhin Beschwerde eingelegt und später begründet. Gleichwohl wurde die Beschwerde als unzulässig verworfen und auch die dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde blieb erfolglos.

Es ist nahezu unglaublich, was alles in der gerichtlichen Praxis passiert und was davon mitunter von den Beteiligten hingenommen wird, und zwar sogar ohne Rückfragen. Und die Konsequenzen sind mitunter auch wenig befriedigend. Dies zeigt auch der vorliegende Fall. Die entscheidende Frage hier war: Wurde durch die Verkündung die Fünfmonatsfrist des § 63 Abs. 3 Satz 2 FamFG in Lauf gesetzt, obwohl ein falscher Beschluss ohne Gründe zugestellt wurde? Wenn ja, hätte der Antragsgegner sein Glück nämlich nur über eine Wiedereinsetzung versuchen können. Diese war zwar nicht beantragt worden, das Oberlandesgerichts hatte einen entsprechenden konkludenten Antrag jedoch unterstellt.

Die einmonatige Beschwerdefrist beginnt allerdings nach ständiger Rechtsprechung gemäß § 63 Abs. 3 Satz 2 FamFG mit Erlass der Entscheidung auch dann, wenn die Zustellung ganz unterblieben ist oder die zugestellte Fassung vom Original abweicht. Auf die fehlende oder fehlerhafte Zustellung kommt es nicht an. Dies gilt aus Gründen der Rechtssicherheit. Die Verkündung war auch wirksam, insbesondere war die Unterschrift der Richterin ordnungsgemäß. Demgemäß war die Beschwerdefrist sechs Monate nach der Verkündung abgelaufen.

Das Oberlandesgericht war von einem konkludenten Wiedereinsetzungsantrag ausgegangen, hat diesen aber als verspätet angesehen. Dies war richtig. Zwar war die Jahresfrist des § 234 Abs. 3 ZPO trotz deren Ablauf gewahrt, weil der Fehler nur dem Gericht zuzurechnen war. Die Wiedereinsetzungsfrist begann hier aber am 14.9.2018, weil der Antragsgegner an diesem Tag von dem Geschehen erfahren hatte. Die Beschwerde erst am 23.10.2018 war damit verspätet.

Fazit: Der kluge und sorgfältige Anwalt notiert immer die Sechsmonatsfrist, wenn eine Entscheidung nicht bekannt wird oder nicht begründet wurde. Und: Manchmal hilft schon eine Rückfrage bei der zuständigen Geschäftsstelle, um ein derartiges Missverständnis aufzuklären. Zur Not muss in besonderen Fällen Einsicht in die Gerichtsakte genommen werden.