Blog powered by Zöller: Ziviljustiz im übergesetzlichen Notstand

Massenverfahren machen der Ziviljustiz schwer zu schaffen. Wenn zeitgleich Tausende von Klagen eingereicht, manchmal mit dem Lkw herangekarrt werden, bereitet schon die Lagerung auf den Geschäftsstellen große Probleme – von der richterlichen Sachbearbeitung ganz zu schweigen. Die Richterpensen sind auf solche Fluten nicht zugeschnitten, Richterstellen nicht ohne weiteres vermehrbar. Es kommt hinzu, dass sich in diesen Verfahren oft neuartige, schwierige Sach- und Rechtsfragen stellen. Das Gebot einer gleichrangigen Bearbeitung des Geschäftsanfalls ist dann unerfüllbar – und letztlich auch sachwidrig. Denn es ist unökonomisch, wenn sich mehrere Spruchkörper parallel mit denselben Fragen beschäftigen, u.U. divergierend judizieren, bis durch ein Obergericht wieder Rechtseinheit hergestellt werden kann. Es böte sich an, in solchen Sachen ein Musterverfahren zu betreiben und die Parallelverfahren bis zu dessen rechtskräftiger Entscheidung auszusetzen. Doch ein solches Vorgehen lässt § 148 ZPO nur für den Fall zu, dass eine klagebefugte Einrichtung eine Musterfeststellungsklage erhoben hat (s. Zöller/Greger, § 148 ZPO Rn. 5a).

Es wirkt daher wie ein Fall übergesetzlichen Notstands, wenn der BGH es als vertretbare, nicht unangemessene Sachbehandlung bewertet, dass die Terminierung derartiger Parallelprozesse zurückgestellt und zunächst nur ein sog. Pilotverfahren betrieben wird (BGH v. 9.3.2023 – III ZR 80/22, ZIP 2023,  R4). Selbst wenn dadurch Klagen jahrelang „auf Eis“ liegen, soll dies keine Entschädigungsansprüche wegen unangemessener Verzögerung begründen.

So verständlich diese Praxis ist: Im Gesetz findet sie keine Stütze, und eine echte Lösung stellt sie auch nicht dar, denn irgendwann müssen die eingefrorenen Verfahren doch aufgetaut und weiter betrieben werden. Wie sollte auch die Verständigung auf ein Pilotverfahren zwischen verschiedenen Gerichten zustande kommen?  Abhilfe könnte nur durch völlig neue Formen der Verfahrensbündelung geschaffen werden; von dem sich abzeichnenden Gesetz über die Verbandsklage (BR-Drucksache 145/23) ist insoweit jedoch nichts zu erwarten.

Blog powered by Zöller: Urkundenvorlage und Datenschutz

Wenn das Gericht gem. § 142 ZPO die Vorlage einer Urkunde anordnet, kann dies nicht nur Geheimhaltungsinteressen des Urkundenbesitzers tangieren (s. dazu Zöller/Greger, § 142 ZPO Rn. 9). Enthält die Urkunde auch personenbezogene Daten Dritter, stellt sich des Weiteren die Frage, ob nicht die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) die Herausgabe der Urkunde verbietet, weil die Daten zu anderen Zwecken als für den betr. Rechtsstreit erhoben wurden. Der EuGH hat diese Frage soeben auf Vorlage eines schwedischen Gerichts entschieden. Da die dortige Regelung mit § 142 ZPO übereinstimmt, ist die Entscheidung auch für die deutsche Prozesspraxis von größter Bedeutung.

Der Entscheidung zufolge ist die DSGVO in derartigen Fällen zwar anwendbar. Sie hindere das Gericht aber nicht, eine Vorlegung der Urkunde anzuordnen, denn der in Art. 47 der EU-Grundrechte-Charta verbürgte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz dürfe nicht beeinträchtigt werden. Zu beachten seien indessen die Grundsätze der Erforderlichkeit, der Verhältnismäßigkeit und der Datenminimierung. So sei zu prüfen, ob die Sachaufklärung auch mit milderen Mitteln, etwa der Vernehmung ausgewählter Zeugen, erreicht werden könnte. Falls die Vorlegung des Dokuments angeordnet wird, seien besondere Datenschutzmaßnahmen in Betracht ziehen, etwa die Anonymisierung der Daten, die Beschränkung des Zugangs der Öffentlichkeit zu den Akten oder eine Anordnung an die Parteien, diese Daten nicht zu verfahrensfremden Zwecken zu verwenden.

Ausführliche Besprechung des EuGH-Urteils v. 2.3.2023 – C-268/21 demnächst im ‚Blickpunkt‘ der MDR und bereits als Kurzbeitrag in ZIP 2023, R4.

 

Blog powered by Zöller: Tücken der elektronischen Signatur

„Doppelt genäht hält besser“, sagt der Volksmund. Für den elektronischen Rechtsverkehr gilt dies aber nicht unbedingt. Wenn ein Anwalt nämlich einen über sein beA versandten Schriftsatz – unnötigerweise – mit qualifizierter elektronischer Signatur (qeS) versehen hat, ist die Einreichung gleichwohl unwirksam, sofern der Schriftsatz die einfache Signatur (d.h. die Namensangabe) eines anderen Rechtsanwalts trägt. So haben es jedenfalls ein Strafsenat des BGH (3 StR 262/22) und das BayObLG (207 StRR 2/23) unter Verweis darauf entschieden, dass die den Schriftsatz verantwortende und die versendende Person identisch sein müssen. Dies kann man allerdings auch anders sehen.  So hat das BAG entschieden, dass der versendende beA-Inhaber durch die Anbringung seiner qeS, die ja die frühere handschriftliche Unterschrift ersetzt, die Verantwortung für den Inhalt des Dokuments übernimmt, also „verantwortende Person“ i.S.d. § 130a Abs. 3 ZPO (BAG v. 24.10.2019 – 8 AZN 589/19, MDR 2020, 240) wird. Ob sich diese Auffassung durchsetzen wird, ist freilich ungewiss. Vorsorglich sollten daher die sicheren Wege beschritten werden, d.h. das Schriftstück entweder mit der qeS des Verfassers oder mit der einfachen Signatur des beA-Versenders, ggf. mit Vertretungszusatz; versehen werden (s. Zöller/Greger, § 130a  ZPO Rn. 11). Ob die Doppelnaht alleine hält, ist ungewiss.

Was aber beim elektronischen Rechtsverkehr sicher nicht geht, ist das Zusammennähen mehrerer Dokumente. Dies musste ein Anwalt leidvoll erfahren, der beim Versand einer Berufungsschrift versehentlich nicht den Schriftsatz, sondern die beizufügende Urteilsabschrift mit seiner qeS versehen hat. Seinem Argument, dass man die Sendung doch als Einheit sehen müsse und nach früherem Recht die fehlende Unterschrift durch die Unterzeichnung einer Anlage ersetzt werden konnte (s. Zöller/Greger, § 130 ZPO Rn. 19), hielt der BGH entgegen, dass § 4 Abs. 2 ERVV eine gemeinsame Signatur mehrerer Dokumente ausschließt; die (unnötige) Signatur der Anlage lasse nicht erkennen, dass der Versender des Schriftsatzes die Verantwortung für diesen übernehmen wollte (BGH, Beschl. v. 19.1.2023 – V ZB 28/22).

Wie immer: Die wichtigste aktuelle Rechtsprechung finden Sie im Zöller s. § 130a ZPO Rn. 8, 9 und 11.

Blog powered by Zöller: § 130d ZPO – Wohltat oder Fallgrube?

Dass es beim elektronischen Rechtsverkehr technische Probleme geben kann und dass diese bei fristgebundenen Schriftsätzen zu fatalen Folgen führen können, hat der Gesetzgeber bedacht. Deshalb hat er in § 130d ZPO zugelassen, dass ein Schriftsatz in einem solchen Fall auf herkömmlichem Wege (z.B. schriftlich oder per Telefax) übermittelt wird. Doch diese im Kleide der Wohltäterin daherkommende Vorschrift ist tückisch. Sie bewirkt nämlich, dass der von der Technik im Stich gelassene Anwalt sich nicht mit dem Gedanken an eine Wiedereinsetzung beruhigen oder seinen von der Elektronik verweigerten Schriftsatz einfach aufs Faxgerät legen darf. Eine Wiedereinsetzung scheidet vielmehr aus, wenn er die Frist noch mittels einer solchen Ersatzeinreichung wahren könnte – und wenn er von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, darf er nicht versäumen, die technische Störung gleichzeitig mit dieser glaubhaft zu machen. Dies folgt aus Satz 3 der Vorschrift, wonach die Störung „bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach“ glaubhaft zu machen ist.

Zwar klingt das so, als stünde es ihm frei, ob er die Glaubhaftmachung sogleich beifügt oder – ohne schuldhafte Verzögerung – nachreicht. So ist es aber nicht zu verstehen, hat der BGH vor kurzem entschieden (Beschl. v. 17.11.2022 – IX ZB 17/22). Die Möglichkeit der unverzüglichen Nachreichung wollte der Gesetzgeber nämlich, wie sich aus den Materialien ergibt, nur für den Fall einräumen, dass die Glaubhaftmachung zum Zeitpunkt der Einreichung des Schriftsatzes noch nicht möglich war. In dem vom BGH zu entscheidenden Fall war die Störung aber schon lange vor Fristablauf bekannt, sodass der Anwalt dem Schriftsatz einen Beleg hierfür, etwa durch eidesstattliche Versicherung, hätte beifügen können. Die nachgereichte Glaubhaftmachung konnte das Rechtsmittel nicht mehr retten. So kann die Wohltat des § 130d ZPO zur Fallgrube werden.

Pluspunkt im Online-Auftritt des Zöller: Diesen Hinweis finden Sie jetzt schon bei § 130d ZPO Rn. 2. – ebenso wie andere Hinweise zu aktueller Rechtsprechung an vielen anderen einschlägigen Zöller-Stellen.

Blog powered by Zöller: Augen auf beim beA-Versand

Es kommt immer wieder vor, dass ein fristgebundener Schriftsatz versehentlich an ein anderes als das zuständige Gericht gesandt wird, z.B. an das Ausgangs- statt an das Rechtsmittelgericht. Wenn das nicht noch rechtzeitig bemerkt und korrigiert wird, ist die Frist versäumt – in der Regel unrettbar, denn eine Wiedereinsetzung scheitert oft am Vorwurf mangelhafter Ausgangskontrolle. Einen Rettungsring hat die Rechtsprechung aber geschaffen: Wenn der Schriftsatz so frühzeitig bei dem unzuständigen Gericht einging, dass mit seiner Weiterleitung an das zuständige im üblichen Geschäftsgang gerechnet werden konnte, verneinte sie die Kausalität des Verschuldens und gewährte die Wiedereinsetzung (s. Zöller/Greger, § 233 ZPO Rn. 21).

Da Anwälte ihre Schriftsätze jetzt auf elektronischem Weg, in der Regel übers beA, übermitteln müssen, stellt sich die Frage nach Rettungsring oder Ertrinkungstod in neuem Gewand. Unverändert bleibt es zwar dabei, dass der Schriftsatz nur bei dem Gericht eingeht, an dessen elektronisches Postfach er gesandt wurde. Da hilft es auch nichts, so hat der BGH gerade entschieden, dass die Postfächer vom selben Dienstleister betrieben werden, denn es ist durch separate Posteingangsschnittstellen sichergestellt, dass die Elektronik jedes Gerichts nur auf die an dieses adressierten Nachrichten zugreifen kann (BGH, Beschl. v. 30.11.2022 – IV ZB 17/22; Kurzbeitrag ZIP 2022, R4).

Aber wie sieht es jetzt mit der Weiterleitung ans zuständige Gericht aus? Einen „üblichen Geschäftsgang“ gibt es derzeit nicht. Bei einem voll auf E-Akte umgestellten Gericht mag man an eine rasche Weiterleitung auf elektronischem Weg denken können, jedenfalls bei Dokumenten mit qualifizierter Signatur. Wo die elektronischen Schriftsätze erst noch ausgedruckt werden müssen, geht dagegen nicht nur Zeit verloren, sondern es ist auch fraglich, ob der Schriftsatz dann in Papierform oder als Fax oder dann doch wieder als PDF ans zuständige, möglicherweise voll elektronische Gericht weiterzuleiten ist. Bacher hält die Papierform für möglich, bezweifelt aber selbst, ob die Rechtsprechung dem folgen wird (Bacher, MDR 2022, 1441, 1443); das OLG Bamberg hat schon anders entschieden (MDR 2022, 1048).  Der BGH brauchte sich dazu im vorgenannten Beschluss nicht zu äußern, denn der Schriftsatz war erst einen Tag vor Fristablauf eingereicht worden – und das erschien ihm selbst im elektronischen Zeitalter zu kurz.

Nun bietet der elektronische Rechtsverkehr allerdings noch eine Chance, versehentliche Falschadressierungen unschädlich zu machen. Nach § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO erhält der Einsender nämlich eine automatische Eingangsbestätigung. Aus dieser ist auch zu ersehen, welches Gericht den Eingang bestätigt. Daraus hat der BGH im besagten Beschluss abgeleitet, dass der versendende Rechtsanwalt überprüfen (lassen) muss, ob der Schriftsatz bei dem Gericht eingegangen ist, bei dem er eingehen sollte (sonst kann er ihn nochmals richtig versenden).

Möglicherweise hat sich die aus den Urzeiten der Papierkommunikation stammende Weiterleitungsrechtsprechung damit ohnehin erledigt. Beim Versand übers beA hilft dann nur noch eins: Augen auf!

Blog powered by Zöller: Fußangeln beim beA

Sieht man von gelegentlichen technischen Pannen ab, hat sich die Übermittlung von Anwaltsschriftsätzen an die Gerichte über das besondere elektronische Anwaltspostfach gut eingespielt. Der Nutzer muss aber auch umsichtig mitspielen, so z.B. beim Signieren des Schriftstücks.

Nach § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO genügt bei der Nutzung des beA die einfache Signatur, d.h. die Namensangabe der verantwortenden Person. Diese ist aber auch erforderlich. Es genügt nicht, den Schriftsatz – wie zu früheren Zeiten – mit der Angabe „Rechtsanwalt“ und einer unleserlichen (eingescannten) Unterschrift zu versehen. Selbst wenn sich aus dem Briefkopf Rückschlüsse auf den Unterzeichner ziehen lassen (z.B. weil dort nur ein Rechtsanwalt oder nur eine Rechtsanwältin aufgeführt ist), liegt keine wirksame Einreichung des Schriftsatzes vor (so BGH v. 7.9.2022 – XII ZB 215/22, MDR 2022, 1362). Das BAG hat zwar kurz zuvor entschieden, dass bei einem Rechtsanwalt, der im Briefkopf als Einzelanwalt ausgewiesen wird, regelmäßig der maschinenschriftliche Abschluss des Schriftsatzes mit „Rechtsanwalt“ für die einfache Signierung ausreicht (BAG v. 25.8.2022 – 2 AZN 234/22, NJW 2022, 3028). Ob sich diese Auffassung durchsetzt, ist aber ungewiss. Man sollte nicht darauf vertrauen und vorsichtshalber den Namen angeben oder eine Unterschrift einscannen. Aber auch dabei ist Vorsicht geboten: Die Unterschrift muss leserlich sein, d.h. auch ohne Sonderwissen den Namen des Urhebers erkennen lassen (BSG v. 16.2.2022 – B 5 R 198/21 B, NJW 2022, 1334).

Vorsicht ist ferner am Platze, wenn man sich des für eine Berufsausübungsgesellschaft eingerichteten beA bedient (was seit August dieses Jahres möglich ist; s. Zöller § 130a ZPO Rn. 11a). Die BRAK hat mitgeteilt, dass es aufgrund von technischen Gegebenheiten in der Justiz derzeit nicht möglich ist, die Identität der Person zu übermitteln, die im Zeitpunkt des Versands der Nachricht am Gesellschafts-beA angemeldet war. Das Gericht kann daher nicht feststellen, ob die den Schriftsatz verantwortende Person mit der ihn versendenden Person identisch ist.

Zur Vermeidung möglicher Nachteile empfehlen BRAK und Deutscher Anwaltverein, Schriftsätze, die aus dem beA der Berufsausübungsgesellschaft eingereicht werden sollen, qualifiziert elektronisch zu signieren oder zumindest darauf zu achten, dass der verantwortende Rechtsanwalt sich selbst am Kanzlei-beA anmeldet und das Dokument persönlich versendet. Zur Sicherheit sollte sodann ein Auszug aus dem Nachrichtenjournal, welches erkennen lässt, welche Nutzerin oder welcher Nutzer am Kanzlei-beA angemeldet war, zur Akte genommen werden. Damit lasse sich auch später nachweisen, welche Rechtsanwältin oder welcher Rechtsanwalt die Nachricht versandt hat.

 


Der Zöller ist das Standardwerk zur ZPO und ein Muss für jeden Prozessualisten. Die Autoren des Zöller informieren im „Blog powered by Zöller“ regelmäßig über einschlägige Gesetzesentwicklungen und aktuelle Rechtsprechung.


 

Blog powered by Zöller: Video erobert die Justiz

„Hören Sie mich?“ Diese für Videokonferenzen typische Frage wird bald auch in Gerichtsverhandlungen häufiger zu vernehmen sein. Der Grund: Einem soeben veröffentlichten Referentenentwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten des Bundesjustizministeriums zufolge soll künftig wesentlich häufiger per „Bild- und Tonübertragung“ (§ 128a ZPO) verhandelt werden.

  • Bisher konnte das Gericht den Beteiligten nur gestatten, sich per Video zu einer im Gerichtssaal stattfindenden Verhandlung zuzuschalten; künftig soll der Vorsitzende anordnen können, dass die ganze Verhandlung virtuell stattfindet.
  • Bisher konnte ein Beteiligter trotz der Gestattung persönlich zur Verhandlung seiner Sache erscheinen; künftig bedarf er hierfür einer Ausnahmebewilligung.

Und wenn beide Parteien virtuell verhandeln wollen, kann der Vorsitzende dies dem Entwurf zufolge nur mit guten Gründen ablehnen. Weil der Entwurf hiergegen die sofortige Beschwerde zulässt, kann dem Gericht eine virtuelle Verhandlung auch von oben auferlegt werden. Laut Entwurfsbegründung darf die Ablehnung nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht mit der Bedienung der Videokonferenztechnik nicht vertraut ist oder die Technik als störend empfindet. Es wird also unabdingbar sein, die Richterinnen und Richter in der durchaus anspruchsvollen Moderation von Videokonferenzen fortzubilden.


 

 

Die perfekte Basisausstattung zum Zivilprozessrecht. Mit neuen Kommentierungen zu digitalen Themen und topaktuellen Annotationen zu Gesetzesänderungen und wichtiger neuer Rechtsprechung. Hier gratis testen!

 

 

 


Nach dem Entwurf kann der Vorsitzende künftig auch vom Büro oder von Zuhause aus die Verhandlung leiten. Die weiteren Mitglieder des Spruchkörpers bekommen einen gesonderten Zugang, sodass Gerichtsverhandlungen mehr einem Video-Chat ähneln, bei dem Richter, Rechtsanwälte, Parteien, Dolmetscher, ggf. auch Sachverständige und Zeugen nur noch als Kacheln auf dem Monitor erscheinen, eventuell mit einer bunten Vielfalt von virtuellen oder realen Hintergründen und sehr unterschiedlicher Bild- und Tonqualität. Die gesetzlich gebotene Öffentlichkeit dieser Veranstaltung soll dadurch hergestellt werden, dass sie in einen allgemein zugänglichen Raum des Gerichts übertragen wird. Den beim TV-Publikum so beliebten Gerichtsshows wird also ein ganz neues Format hinzugesellt – noch dazu mit realen Fällen. Wie dieses Reality-TV – insbesondere bei größeren Gerichten – organisatorisch bewältigt werden soll, überlässt der Entwurf den Gerichtsverwaltungen. Eine Monitorwand mit Kopfhörern dürfte kaum eine angemessene Lösung sein.

Auch zur Urteilsberatung müssen sich die Richter künftig nicht mehr in nüchternen Diensträumen zusammensetzen. Möglicherweise fällt die Rechtsfindung ja von der heimischen Couch aus leichter –  vorausgesetzt, dass Mitbewohner zur Wahrung des Beratungsgeheimnisses ferngehalten werden (auch das steht sinngemäß in dem Entwurf). Ob die Diskussion mit dem Monitorbild dieselbe Qualität hat wie der Diskurs in Rede und Widerrede, darf freilich bezweifelt werden. Auch könnte das kollegiale Klima darunter leiden, dass die Kammer- oder Senatsmitglieder sich auf die Form der Beratung einigen müssen und hierbei die Abwägung zwischen Bequemlichkeit und Gründlichkeit unterschiedlich ausfallen kann.

Die öffentliche mündliche Verhandlung mag in manchem Standardfall als unnötige Formalität erscheinen – dann sollte auf sie aber, was § 128 Abs. 2 ZPO ja ermöglicht, ganz verzichtet werden. Erscheint mündliches Verhandeln geboten, sollte auf elektronische Medien nur dann zurückgegriffen werden, wenn dies nach richterlichem Ermessen aus Gründen der Verhältnismäßigkeit geboten ist. Kein Prozessbeteiligter sollte zu dieser Form der Kommunikation gezwungen, wo sie sachgerecht ist, ein dem Rechtsprechungsvorgang angemessener Rahmen gewahrt werden. Vermehrt sollte die Videotechnik aber bei der informellen Kommunikation zwischen Gericht und Parteivertretern außerhalb der mündlichen Verhandlung zum Einsatz kommen, etwa um Verfahrensmodalitäten abzusprechen oder rechtliche Hinweise zu geben. Durch solche Verfahrenskonferenzen oder Erörterungstermine (s. dazu Zöller § 273 Rn 15) können echte Verfahrenserleichterungen herbeigeführt werden. Eine zu weitgehende Virtualisierung der Rechtsprechung ginge hingegen zu Lasten ihrer Qualität und ihrer Reputation (dazu Zöller § 128a Rn 1 m.w.N.).

 


Der Zöller ist das Standardwerk zur ZPO und ein Muss für jeden Prozessualisten. Die Autoren des Zöller informieren im „Blog powered by Zöller“ regelmäßig über einschlägige Gesetzesentwicklungen und aktuelle Rechtsprechung.