Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Abgrenzung zwischen hoheitlicher und privater Tätigkeit eines Durchgangsarztes.

Erstversorgung durch den Durchgangsarzt
BGH, Urteil vom 30. Juli 2024 – VI ZR 115/22

Der VI. Zivilsenat befasst sich mit der Abgrenzung zwischen Erstversorgung und weiterer Heilbehandlung.

Die damals achtjährige Klägerin wurde am 20.6.2012 nach einem Sturz auf dem Schulhof am späten Nachmittag in die Klinik der Beklagten eingewiesen. Nach einer Röntgenuntersuchung wurde eine Fraktur des rechten Unterarms mit Fehlstellung diagnostiziert. Gegen 17 Uhr fand ein Aufklärungsgespräch mit der Klägerin und deren Mutter statt. Um 20 Uhr wurde die Narkose eingeleitet. Bei der anschließenden Operation wurde ein die Wachstumsfuge kreuzender Draht (ein Kirschner-Draht) zur Fixierung und Stabilisierung eingebracht. Um 22:45 Uhr wurde die Klägerin auf die Normalstation verlegt.

Die Klägerin begehrt Ersatz materieller und immaterieller Schäden wegen einer dauerhaften Beeinträchtigung im Bereich des rechten Handgelenks. Sie stützt ihre Ansprüche auf fehlende medizinische Indikation, unvollständige Aufklärung und Fehler bei der Durchführung des Eingriffs. Das LG hat die Klage abgewiesen, weil eine wirksame Einwilligung vorliege und ein Behandlungsfehler nicht bewiesen sei. Das OLG wies die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO wegen fehlender Passivlegitimation zurück.

Der BGH verweist die Sache an das OLG zurück.

Im Ansatz zutreffend ist das OLG davon ausgegangen, dass ein Durchgangsarzt – zu dessen Aufgaben die Erstversorgung und die Entscheidung über die Art der Heilbehandlung gehören – in Ausübung eines öffentlichen Amts handelt. Für Fehler, die ihm dabei unterlaufen, haftet allein der Unfallversicherungsträger, für den er tätig ist.

Ebenfalls zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass zu den hoheitlichen Tätigkeiten auch die Untersuchungen und die Diagnosestellung zum Zwecke der Entscheidung über die Art der Heilbehandlung gehören. Dasselbe gilt für die Erstversorgung durch den Durchgangsarzt.

Entgegen der Auffassung des OLG gehört die im Streitfall durchgeführte Operation jedoch nicht zur Erstversorgung.

Nach § 9 des auf der Grundlage von § 34 Abs. 3 SGB VII geschlossenen Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger umfasst die Erstversorgung die ärztlichen Leistungen, die den Rahmen des sofort Notwendigen nicht überschreiten. Dazu gehören etwa Wundversorgung, Verbände und Injektionen. Solche Maßnahmen finden regelmäßig vor der Entscheidung über die Art der Heilbehandlung statt.

Nach diesen Kriterien gehört die im Streitfall durchgeführte Operation bereits zur besonderen (unfallmedizinischen) Heilbehandlung im Sinne von § 11 des Vertrags. Sie wird im Durchgangsarztbericht zwar als Notoperation bezeichnet. Der zeitliche Verlauf nach Einweisung der Klägerin belegt aber, dass sie nicht sofort erforderlich war und dass insbesondere keine Notwendigkeit bestand, sie noch vor der Entscheidung über die weitere Heilbehandlung durchzuführen.

Dass die Operation im Bericht unter der Rubrik „Erstversorgung“ aufgeführt ist, vermag nicht zu einer abweichenden Beurteilung führen. Dem Durchgangsarztbericht kann bei der Abgrenzung der einzelnen Phasen zwar Bedeutung zukommen. Die Zuordnung von Maßnahmen zu den einzelnen Kategorien liegt aber nicht im Belieben des Durchgangsarztes. Im Streitfall ist die im Bericht vorgenommene Einordnung aufgrund der objektiven Umstände nicht vertretbar.

Das OLG wird deshalb nach der Zurückverweisung prüfen müssen, ob das LG einen haftungsbegründenden Tatbestand zu Recht verneint hat.

Praxistipp: Wenn unklar ist, ob eine hoheitliche oder eine private Tätigkeit vorliegt, sollte dem als Schuldner in Betracht kommenden Unfallversicherungsträger vorsorglich der Streit verkündet werden, um eine Verjährung zu vermeiden.

Montagsblog: Neues vom BGH

Der BGH stellt seinen Richtern wöchentlich eine Sammlung aller Leitzsatzentscheidungen zur Verfügung, die in der vorangegangenen Woche veröffentlicht worden sind. In Anknüpfung an diese sog. Montagspost berichtet der Montagsblog wöchentlich über – ausgewählte – aktuelle Entscheidungen des BGH.

Werkvertrag zwischen Bauherr und Prüfingenieur
Urteil vom 31. März 2016 – III ZR 70/15

Mit der Abgrenzung zwischen hoheitlichem Handeln und der Erbringung von Leistungen auf vertraglicher Grundlage hatte sich der III. Zivilsenat zu befassen.

Die Kläger hatten den beklagten Prüfingenieur mit der Prüfung der Standsicherheit und der Bauüberwachung bei der Errichtung eines Einfamilienhauses betraut. Nach den einschlägigen baurechtlichen Vorschriften genehmigte die Baubehörde das Vorhaben mit der Auflage, die Standsicherheit und die ordnungsgemäße Bauüberwachung durch Bescheinigungen eines Prüfsachverständigen nachzuweisen. Nach Errichtung des Gebäudes erwies sich eine Kellerwand aufgrund fehlerhafter statischer Berechnungen als nicht tragfähig. Das OLG wies die gegen den Prüfingenieur gerichtete Klage auf Ersatz der hieraus resultierenden Schäden mit der Begründung ab, der Beklagte sei hoheitlich tätig geworden und könne deshalb gemäß § 839 Abs. 1 BGB und Art. 34 Abs.1 GG nicht persönlich in Anspruch genommen werden.

Der BGH hebt das Berufungsurteil auf. Nach seiner Auffassung erbrachte der Beklagte seine Tätigkeit auf der Grundlage eines mit dem Bauherrn geschlossenen Werkvertrags. Der BGH stützt sich hierbei auf etablierte Rechtsprechung, wonach für die Frage, ob ein Sachverständiger hoheitlich tätig wird, die Aufgabe maßgeblich ist, deren Wahrnehmung seine Tätigkeit im konkreten Fall dient. Eine hoheitliche Tätigkeit liegt danach vor, wenn die vom Sachverständigen vorzunehmende Prüfung einen Bestandteil der von der Behörde ausgeübten hoheitlichen Tätigkeit bildet. Daran fehlte es im Streitfall, weil dem Prüfingenieur nach den einschlägigen baurechtlichen Vorbereitungen nicht die Aufgabe zukam, die behördliche Entscheidung über die Baugenehmigung vorzubereiten. Die von ihm erstellten Bescheinigungen dienten vielmehr dazu, eine behördliche Überprüfung der darin behandelten Fragen überflüssig zu machen. Deshalb erbrachte der Sachverständige seine Leistungen auf der Grundlage eines Werkvertrags mit dem Bauherrn. Der vom Berufungsgericht angestellten Hilfserwägung, dieser Werkvertrag habe nur eine Überprüfung im öffentlichen Interesse zum Gegenstand gehabt, erteilte der BGH ebenfalls eine Absage. Aus der Interessenlage der Beteiligten ergab sich nach seiner Beurteilung vielmehr, dass die Tätigkeit des Beklagten auch dazu diente, den Bauherrn vor dem Eintritt von Schäden durch eine mangelhafte Baustatik zu bewahren.

Praxistipp: Bei der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen einen auf behördliche Anordnung mit Prüfaufgaben betrauten Sachverständigen ist frühzeitig zu klären, auf welchen Vorschriften die Tätigkeit des Sachverständige beruhte und welcher Aufgabe sie diente.

Reaktion auf einen Hinweis gemäß § 522 Abs. 2 ZPO
Beschluss vom 10. März 2016 – VII ZR 47/13
Beschluss vom 17. März 2016 – IX ZR 211/14

Mit zwei Aspekten der viel kritisierten Möglichkeit, eine Berufung nach vorherigem Hinweis durch Beschluss als unbegründet zurückzuweisen, befassen sich der VII. und der IX. Zivilsenat.

Im ersten Fall hatte das Berufungsgericht in seinem nach § 522 Abs. 2 ZPO erteilten Hinweis unter anderem ausgeführt, der geltend gemachte Feststellungsantrag – der auf eine Anregung des Landgerichts hin gestellt, von diesem aber als unbegründet angesehen worden war—sei unzulässig. Der Kläger reagierte auf diesen Hinweis mit einem hilfsweise gestellten Zahlungsantrag. Das Berufungsgericht lehnte es ab, über den Hilfsantrag mündlich zu verhandeln, und wies die Berufung durch Beschluss zurück.

Im zweiten Fall hatte das Berufungsgericht in seinem Hinweisbeschluss unter anderem ausgeführt, eine von zwei Steuerberatern erteilte Auskunft, auf die der Kläger sein Begehren stützte, sei lediglich als unverbindliche Prognose anzusehen. Der Kläger hatte hierauf nicht reagiert. Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde gegen den daraufhin ergangenen Zurückweisungsbeschluss machte er geltend, das Berufungsgericht habe seinen unter Beweis gestellten Vortrag übergangen, wonach die Steuerberater eine verbindliche Zusicherung gegeben hätten.

Im ersten Fall hebt der BGH den angefochtenen Beschluss auf; im zweiten weist er die Nichtzulassungsbeschwerde zurück. Beide Senate stützen sich dabei auf den Grundsatz, dass das Berufungsgericht dem Berufungskläger Gelegenheit geben muss, auf den nach § 522 Abs. 2 ZPO zu erteilenden Hinweis zu reagieren. Im ersten Fall beurteilte der BGH den vom Kläger gestellten Hilfsantrag als angemessene Reaktion auf den erteilten Hinweis, weil das Berufungsgericht erstmals Zweifel an der Zulässigkeit des Feststellungsantrags geäußert hatte, während die Vorinstanz diesen Antrag sogar angeregt hatte. Das Berufungsgericht hätte deshalb über den Hilfsantrag mündlich verhandeln müssen. Im zweiten Fall war für den Kläger schon aus dem Hinweisbeschluss ersichtlich, dass das Berufungsgericht die Äußerungen der Steuerberater anders bewertete als der Kläger. Deshalb hätte der Kläger schon innerhalb der ihm eingeräumten Frist zur Stellungnahme auf seinen abweichenden Vortrag und die Beweisangebote hierzu aufmerksam machen müssen. Wenn er diese Gelegenheit nicht wahrnimmt, ist es ihm verwehrt, die Nichtberücksichtigung dieses Vortrags mit der Nichtzulassungsbeschwerde als Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG zu rügen.

Praxistipp: Wenn das Berufungsgericht die Zurückweisung der Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO ankündigt, muss der Berufungskläger die erteilten Hinweise sorgfältig auswerten und innerhalb der gesetzten Frist umfassend darauf reagieren.