Anwaltsblog 20/2025: Nach Richterwechsel (erneute) mündliche Verhandlung notwendig!

309 ZPO bestimmt, dass das Urteil nur von denjenigen Richtern gefällt werden kann, die der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung beigewohnt haben. Wie bei einem Wechsel des Einzelrichters nach mündlicher Verhandlung und vor Verkündung eines Urteils zu verfahren ist, hatte der BGH zu entscheiden (BGH, Beschluss vom 16. April 2025 – VII ZR 126/23):

Die Klägerin verlangt Kostenvorschuss wegen mangelhafter Ausführungen einer Tiefgaragenabdichtung. Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung erhoben. Das Landgericht hat am 16. September 2021 mündlich verhandelt. Als Richterin amtierte Richterin W. als Einzelrichterin, die sodann Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 2. Dezember 2021 bestimmt hat. Richterin W. hat zum 1. Oktober 2021 das Landgericht verlassen. Die nunmehr zuständige Richterin B. hat am 2. Dezember 2021 ein klageabweisendes Urteil verkündet. Dieses ist ausweislich des Urteils durch die Richterin B. aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 16. September 2021 ergangen. Richterin B. hat das Urteil auch unterzeichnet. Die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Zwar sei das angefochtene Urteil unter Verstoß gegen § 309 ZPO ergangen. Dies führe aber nicht zur Begründetheit der Berufung. Insbesondere gebiete dieser Verstoß auch nicht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Eine Entscheidung im Beschlusswege komme in Betracht, wenn sich aus der Berufungsbegründung keine Gesichtspunkte ergäben, die eine Abänderung des Ersturteils aus rechtlichen oder tatsächlichen Erwägungen rechtfertigten. Insbesondere sei nichts dafür ersichtlich, dass die vorzunehmende rechtliche Würdigung angemessen mit der Berufungsführerin nicht im schriftlichen Verfahren erörtert werden könne. Zu Recht habe das Landgericht angenommen, etwaige Ansprüche der Klägerin seien verjährt.

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an einen anderen Senat des Berufungsgerichts. In dem vom Berufungsgericht zutreffend als solchen erkannten Verstoß des Landgerichts gegen § 309 ZPO lag zugleich eine Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das erkennende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das ist nur durch die Mitwirkung an der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung möglich, weil nach § 309 ZPO nur Richter das Urteil fällen können, die dieser Verhandlung beigewohnt haben. Diese Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist in der Berufungsinstanz nicht geheilt worden, da das Berufungsgericht ohne mündliche Verhandlung über die Berufung der Klägerin entschieden hat. Dadurch hatte die Klägerin weder vor dem Landgericht noch dem Berufungsgericht die Möglichkeit, ihre Argumente in einer mündlichen Verhandlung darzulegen.

Damit hat – auch – das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Zwar folgt aus Art. 103 Abs. 1 GG nicht unmittelbar ein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung; vielmehr ist es Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, in welcher Weise rechtliches Gehör gewährt werden soll. Hat eine mündliche Verhandlung aber von Gesetzes wegen stattzufinden, begründet der Anspruch auf rechtliches Gehör ein Recht auf Äußerung in der mündlichen Verhandlung und zugleich auf deren Durchführung durch das Gericht. So liegt der Fall hier. Das Berufungsgericht durfte die Berufung nicht durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückweisen. Es durfte nicht annehmen, eine mündliche Verhandlung sei nicht geboten (§ 522 Abs. 2 Nr. 4 ZPO). In Fällen, in denen das mit der Berufung angefochtene Urteil durch einen Richter gefällt worden ist, der entgegen § 309 ZPO der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung nicht beigewohnt hat, ist eine mündliche Verhandlung in jedem Fall geboten.  Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben und der Rechtsstreit ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

 

Fazit: In Fällen, in denen das mit der Berufung angefochtene Urteil durch einen Richter gefällt worden ist, der entgegen § 309 ZPO der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung nicht beigewohnt hat, ist eine mündliche Verhandlung im Sinne von § 522 Abs. 2 Nr. 4 ZPO geboten.

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Eine aktuelle Entscheidung des BFH macht deutlich, dass bei der Durchführung von mündlichen Verhandlungen per Video-Übertragung hohe Anforderungen an die „Bildregie“ zu stellen sind. Es muss sichergestellt sein, dass zugeschaltete Teilnehmer alle an der Verhandlung Beteiligten jederzeit sehen können. Dies gilt insbesondere für die Richterbank. Es genügt nicht, dass – wie im vorliegenden Fall – nur der Vorsitzende oder der gerade sprechende Richter zu sehen ist. Die Richterbank sei dann nicht ordnungsgemäß besetzt, denn der Zugeschaltete könne nicht überprüfen, ob ein Richter z.B. eingeschlafen oder vorübergehend abwesend ist. Damit liege ein absoluter Revisionsgrund vor; dass der Mangel während der Verhandlung nicht gerügt wurde, sei unerheblich. Das aufgrund dieser Verhandlung ergangene Urteil wurde daher aufgehoben. Die Sache wird vor der Kammer – entweder in Präsenz oder mit ordnungsgemäßem Kamerasystem – erneut zu verhandeln sein (BFH, Beschl. v. 30.6.2023 – V B 13/22).

Diese Entscheidung ist als Warnruf, auch an die anderen Gerichtsbarkeiten, zu verstehen. In der Corona-Zeit wurde – notgedrungen – eine gewisse Großzügigkeit beim Einsatz von Video-Technik an den Tag gelegt; viele Prozesse wären sonst überhaupt nicht zu erledigen gewesen. Inzwischen ist es anders: Die Videoverhandlung wird als entlastende und beschleunigende Alternative zur Präsenzverhandlung geschätzt und soll nach einem aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung noch gefördert werden. Deshalb rücken nun wieder die Anforderungen an eine rechtsstaatliche Gestaltung der Gerichtsverhandlung in den Vordergrund, die sich gerade in der geordneten, nicht durch Sicht- oder Gehörsbeeinträchtigungen gestörten Interaktion zwischen den Prozessbeteiligten manifestiert. Auch nach der Begründung des genannten Gesetzentwurfs ist sicherzustellen, dass die im Gericht befindlichen Personen von den per Video zugeschalteten visuell und akustisch während der gesamten Verhandlung gut wahrnehmbar sind (BR-Drucksache 228/23, S. 49). Das wird in der Regel nur möglich sein, wenn mehrere Kameras zum Einsatz kommen, die jeden Beteiligten – auch gut erkennbar – erfassen. Systeme, die jeweils nur den Sprechenden zeigen, sind damit nicht zu vereinbaren; Raumkameras, die alle Anwesenden zusammen abbilden, hält der Entwurf nur bei einfach gelagerten Terminen ohne Beweisaufnahme und mit wenigen Verfahrensbeteiligten für ausreichend.

Verfügt das Gericht nicht über eine entsprechende Ausstattung, muss von einer Videoverhandlung abgesehen werden. Nach der jüngst ergangenen Entscheidung drohen sonst massenhafte Urteilsaufhebungen.

Davon unberührt und daher vorzuziehen ist der Einsatz der Videokommunikation bei informellen Erörterungsterminen außerhalb der mündlichen Verhandlung (durch die eine solche samt ihres technischen und organisatorischen Aufwands oft erspart werden kann; s. dazu Zöller/Greger, § 128 ZPO Rn 1a, auch Greger, MDR 2020, 957 Rn. 29 ff. und MDR 2023, 810 Rn. 22 ff.).

Mehr dazu im neuen Zöller, 35. Auflage.