Montagsblog: Neues vom BGH

Diese Woche geht es um die Bindungswirkung einer Verweisung zwischen einem Spezialsenat im Sinne von § 119a GVG und einem anderen Senat desselben Gerichts.

Negativer Kompetenzkonflikt mit Spezialsenat
Beschluss vom 26. Juli 2022 – X ARZ 3/22

Mit der entsprechenden Anwendung von § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bei Verweisungen innerhalb desselben Gerichts befasst sich der X. Zivilsenat.

Der Kläger begehrt die Rückabwicklung eines Vertrags über den Erwerb von Bäumen in Brasilien. Die Beklagte hatte den Abschluss als attraktive Kapitalanlage angeboten. Nach dem Ende des Anlagezeitraums leistete sie keine Zahlungen. Die Klage auf Rückzahlung des Anlagebetrags von rund 10.000 Euro Zug um Zug gegen Rückübertragung des Eigentums an den Bäumen hatte in erster Instanz Erfolg.

Die Berufung der Beklagten wurde zunächst einem für allgemeine Zivilsachen zuständigen Senat des OLG zugeteilt. Dieser erklärte sich für unzuständig und gab die Sache an den für Bank- und Finanzgeschäfte im Sinne von § 119a Abs. 1 Nr. 1 GVG zuständigen Spezialsenat ab. Dieser erklärte sich ebenfalls für unzuständig und legte die Sache dem für Gerichtsstandbestimmungen zuständigen Zivilsenat vor. Dieser teilte die Rechtsauffassung des Spezialsenats, dass kein Bank- oder Finanzgeschäft vorliege. Er sah sich an einer Zuweisung zu dem ursprünglich mit der Sache befassten Senat aber durch eine Entscheidung eines anderen OLG gehindert, das die Leistung der Beklagten als Finanzdienstleistung im Sinne von § 312b Abs. 1 Satz 2 BGB angesehen hatte. Deshalb legte er die Sache gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 ZPO dem BGH vor.

Der BGH erklärte den Spezialsenat für zuständig. Er ließ offen, ob es sich um eine Streitigkeit aus einem Bank- oder Finanzgeschäft im Sinne von § 119a Abs. 1 Nr. 1 GVG handelt. Die Zuständigkeit ergibt sich im Streitfall schon daraus, dass die Abgabeentscheidung des zunächst mit der Sache befassten Senats entsprechend § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bindend ist. Entgegen der bislang überwiegenden Auffassung in Literatur und Instanzrechtsprechung liegt eine planwidrige Gesetzeslücke vor.

Für vergleichbare Fälle eines Konflikts über eine sich schon aus dem Gesetz ergebende Zuständigkeitsverteilung innerhalb eines Gerichts sieht das Gesetz eine Bindungswirkung vor. Im Verhältnis zwischen Zivilkammern und Kammern für Handelssachen ergibt sich diese Wirkung aus § 102 Satz 2 GVG, im Verhältnis zwischen Spruchkörpern für Zivilsachen, Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit aus § 17a Abs. 6 GVG. Dass eine entsprechende Regelung für das Verhältnis zwischen Spezialkammern im Sinne von § 72a GVG bzw. Spezialsenaten im Sinne von § 119a GVG und anderen Spruchkörpern desselben Gerichts fehlt, beruht nicht auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers. Die hierdurch entstandene Lücke ist durch entsprechende Anwendung von § 281 Abs. 2 Satz 2 und 4 ZPO zu schließen.

Praxistipp: Um Verzögerungen zu vermeiden, sollten beide Parteien das Gericht sowohl in erster als auch in zweiter Instanz möglichst frühzeitig auf eine mögliche Spezialzuständigkeit nach § 72a bzw. § 119a GVG aufmerksam machen.

Neue Gesetzgebungsvorschläge zum Zivilprozessrecht

Das BMJV hat einen Referentenentwurf zur dauerhaften Regelung der Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde in Zivilsachen vorgelegt. Ergänzend ist darin unter anderem vorgesehen, den Katalog von Materien, für die jedes LG und jedes OLG eine spezialisierte Kammer bzw. einen spezialisierten Senat einrichten muss, deutlich zu erweitern. An dieser Regelung könnten sich künftig langwierige Kompetenzkonflikte entzünden, die dem angestrebten Ziel der Effizienzsteigerung zuwiderlaufen. Deshalb bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber flankierende Maßnahmen vorsieht, um diese Gefahr zu minimieren.

Seit der ZPO-Reform im Jahr 2002 ist eine Revision in Zivilsachen nur noch statthaft, wenn das Berufungsgericht oder – auf Nichtzulassungsbeschwerde der unterlegenen Partei – der Bundesgerichtshof das Rechtsmittel zulässt. Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist nach § 26 Nr. 8 Satz 1 EGZPO nur zulässig, wenn der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer die Grenze von 20.000 Euro übersteigt. Diese Regelung war ursprünglich nur für einen Übergangszeitraum vorgesehen. Ihr Geltungszeitraum wurde aber mehrfach verlängert, zuletzt bis 31.12.2019.

Der Referentenentwurf sieht nunmehr vor, die Wertgrenze dauerhaft in die ZPO zu übernehmen, als neuen Absatz 2 der für die Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde maßgeblichen Regelung in § 544 ZPO. Der BGH hat sich immer wieder für diese Lösung eingesetzt, um eine anderenfalls drohende Überlastung zu vermeiden.

Ergänzend sieht der Entwurf flankierende Maßnahmen vor, denen das Ziel gemeinsam ist, die Effizienz im Zivilprozess weiter zu steigern. Dazu gehört eine Erweiterung der in § 72a und § 119a GVG vorgesehenen Kataloge von Rechtsmaterien, für die jedes LG und jedes OLG zwingend eine Spezialkammer bzw. einen Spezialsenat einzurichten hat. Die vier bereits bestehenden Tatbestände (Bank- und Finanzgeschäfte, Bau-, Architekten- und Ingenieurverträge, Heilbehandlungen, Versicherungsverträge) sollen um vier weitere Tatbestände (Kommunikations- und Informationstechnologie, Veröffentlichungen in Presse, Funk, Fernsehen und Internet, Erbrecht, insolvenzbezogene Streitigkeiten) ergänzt werden. Insbesondere der Tatbestand der Kommunikations- und Informationstechnologie dürfte eine ungeahnte Vielzahl von Streitigkeiten erfassen.

Wenn die Regelungen wie geplant in Kraft treten, könnte sich eine Entwicklung verstärken, die schon unter dem bestehenden Recht eingesetzt hat und dem Ziel der Effizienzsteigerung zuwiderläuft: Angesichts der abstrakten Formulierungen, mit denen die Zuständigkeit der Spezialspruchkörper umschrieben ist, entsteht nicht selten Streit darüber, ob ein Rechtsstreit vor einen Spezialspruchkörper gehört oder ob es bei der Zuständigkeit einer allgemeinen Zivilkammer bzw. eines allgemeinen Zivilsenats verbleibt. Anders als bei Konflikten über die im Geschäftsverteilungsplan festgelegten Zuständigkeiten sehen viele Obergerichte in solchen Fällen eine Gerichtsstandbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO als zulässig an (vgl. etwa KG, B. v. 14.03.2019 – 2 AR 6/19, MDR 2019, 634). Paradoxerweise können solche gerichtsinternen Konflikte sogar schwieriger zu beurteilen sein als Kompetenzkonflikte zwischen unterschiedlichen Gerichten, denn eine Bindungswirkung, wie sie § 281 ZPO für die Verweisung an ein anderes Gericht oder § 102 GVG für das Verhältnis zwischen Zivilkammer und Kammer für Handelssachen anordnen, ist in § 72a und § 119a GVG nicht ausdrücklich vorgesehen. Selbst die ergänzenden Regelungen über die Zuständigkeit durch rügeloses Verhandeln zur Hauptsache (§ 39 ZPO) und über die beschränkte Nachprüfung der erstinstanzlichen Zuständigkeit in den höheren Instanzen (§ 513 Abs. 2 und § 545 Abs. 2 ZPO) sind zumindest ihrem Wortlaut nach in solchen Fällen nicht anwendbar.

Angesichts dessen erscheint es wünschenswert, dass der Gesetzgeber gerichtsinterne Zuständigkeitskonflikte künftig (mindestens) denselben Schranken unterwirft, die für gerichtsübergreifende Konflikte gelten. Ansonsten ist nicht auszuschließen, dass sich in Zukunft viele Prozesse hauptsächlich um die Frage drehen, welche Kammer bzw. welcher Senat über die Klage zu entscheiden hat.