Anwaltsblog: Wann beginnt bei einer Urteilsberichtigung die Berufungsfrist?

Wann beginnt die Rechtsmittelfrist, wenn die dem Rechtsmittelführer zugestellte Ausfertigung des Urteils einen Mangel aufweist und das Gericht auf entsprechenden Hinweis des Rechtsmittelführers diesem – nach Rückgabe der mangelbehafteten Ausfertigung – eine mit dem Original des Urteils übereinstimmende Ausfertigung zustellt? Diese Frage stellte sich dem X. Zivilsenat:

Dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin wurde am 2. September 2021 eine beglaubigte Abschrift eines Urteils des Patentgerichts zugestellt, in der im Tatbestand die beiden letzten Absätze des Hilfsantrags 1 nach der (aus drei Zeilen bestehenden) Bezugnahme auf weitere Hilfsanträge stehen. Mit Schriftsatz vom Tag darauf teilte der Prozessbevollmächtigte dem Patentgericht mit, die Ausführungen auf der betreffenden Seite erweckten den Anschein, dass etwas fehle, und bat um einen Hinweis, wie die Begründung hier zu lesen sei. Das Patentgericht hat die ursprünglich zugestellten Abschriften zurückgefordert und mit dem Original übereinstimmenden Abschriften zugestellt. Die berichtigte Fassung ist der Klägerin am 27. September 2021 zugestellt worden. Ihre Berufungsschrift ist am 27. Oktober 2021 beim BGH eingegangen, der gem. § 110 PatG Berufungsgericht ist.

Die Berufung ist unzulässig, weil sie nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von einem Monat eingelegt worden ist. Die Berufungsfrist beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Die Frist hat im Streitfall mit der Zustellung vom 2. September 2021 begonnen. Dem steht nicht entgegen, dass die damals zugestellte Abschrift des Urteils auf Seite 9 von der Urschrift abweicht. Die Wirksamkeit einer Zustellung wird nicht dadurch berührt, dass die zugestellte Ausfertigung von der Urschrift abweicht, sofern der Mangel, wäre er bei der Urteilsabfassung selbst unterlaufen, nach § 319 ZPO berichtigt werden könnte. Entscheidend ist, ob die zugestellte Ausfertigung formell und inhaltlich geeignet war, der Partei die Entschließung über die Notwendigkeit der Einlegung eines Rechtsmittels zu ermöglichen, weil sich ein Fehler in der Sphäre des Gerichts nicht als Beeinträchtigung oder Vereitelung der Rechtsmittelmöglichkeit auswirken darf. Im Interesse einer klaren und praktikablen Handhabung ist hierbei auf eine typisierende Betrachtungsweise abzustellen. Als typischerweise wesentlicher Mangel ist vor allem das Fehlen ganzer Seiten anzusehen. Grundsätzlich führt danach schon das Fehlen einer einzigen Seite zur Unwirksamkeit der Zustellung. Eine Berichtigung gemäß § 319 ZPO setzt eine Rechtsmittelfrist nur dann erneut in Gang, wenn das Urteil insgesamt nicht klar genug war, um die Grundlage für die Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels sowie für die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts zu bilden. Dies ist etwa der Fall, wenn erst die berichtigte Entscheidung die Beschwer erkennen lässt oder ergibt, dass die Entscheidung überhaupt einem Rechtsmittel zugänglich ist, oder wenn erst aus dieser Fassung hervorgeht, gegen wen das Rechtsmittel zu richten ist. Im Streitfall hat bereits die Zustellung der fehlerhaften Fassung die Rechtsmittelfrist in Gang gesetzt. Der in der zugestellten Abschrift enthaltene Fehler ist nicht als typischerweise wesentlich anzusehen. Die zugestellte Abschrift enthielt alle Seiten des angefochtenen Urteils. Die am 2. September 2021 in Gang gesetzte Berufungsfrist ist durch die Einlegung der Berufung am 27. Oktober 2021 nicht eingehalten worden.

(BGH, Urteil vom 17. Oktober 2023 – X ZR 96/21)

 

Fazit: Die Berichtigung eines Urteils gemäß § 319 ZPO wegen offenbarer Unrichtigkeit hat grundsätzlich keinen Einfluss auf Beginn und Lauf der Rechtsmittelfrist. Gegen das berichtigte Urteil findet nur das gegen das ursprüngliche Urteil zulässige Rechtsmittel statt, und die Frist zu seiner Einlegung läuft (schon) von der Zustellung der unberichtigten Urteilsfassung an. Den Parteien wird zugemutet, im Rahmen ihrer Entscheidung über die Einlegung eines Rechtsmittels eine offenbare Unrichtigkeit des Urteils zu berücksichtigen, schon bevor dieses gemäß § 319 ZPO berichtigt wird (BGH, Beschluss vom 9. November 2016 – XII ZB 275/15 –, MDR 2017, 228).

Versäumung der Berufungsfrist wegen plötzlicher Erkrankung des Anwalts

Über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist infolge plötzlicher Erkrankung des Anwalts hat der BGH entschieden (Beschl. v. 18.1.2018 – V ZB 114/17, MDR 2018, 548):

Eine Berufungsfrist wurde versäumt und hierzu folgendes vorgetragen: Am Abend des letzten Tages der Frist habe Rechtsanwalt P. geplant, zunächst eine Klageschrift in einer anderen Sache zu verfassen und erst alsdann die Berufungsschrift. Gegen 21.30 Uhr sei er dann aber von einer starken, völlig unvermittelten Übelkeit mit heftigem Erbrechen sowie Durchfall erfasst worden. Einen klaren Gedanken habe er nicht mehr fassen können. Er sei dann mit dem PKW 2,5 km nach Hause gefahren und habe schließlich nach mehreren Erkrankungsschüben in der Nacht am nächsten Morgen einen Arzt gerufen.

Das LG wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück. Es hielt die Angaben des P. zwar grundsätzlich für glaubhaft. Es sei jedoch nicht nachvollziehbar, wieso P. zunächst die Klageschrift und nicht zuerst die Berufung bearbeitet habe und wieso er nach Hause gefahren sei. Wäre er in der Lage gewesen, nach Hause zu fahren, hätte er auch ohne weiteres die eigentlich nur aus einem Satz bestehende Berufungsschrift fertigen können. Die Fahrt nach Hause sei deutlich schwieriger und komplexer gewesen als das Verfassen und Faxen der Berufungsschrift.

Zunächst ist dazu anzumerken, dass jede Frist nach ständiger Rechtsprechung bis zum Ende ausgenutzt werden darf. Von daher ist es völlig unerheblich, dass P. zunächst die Klageschrift bearbeitet hatte und sich erst danach der Berufungsschrift widmen wollte.

Im Übrigen gilt: Ein maßgeblicher Verstoß gegen Denkgesetze kann dann vorliegen, wenn ein Gericht von einem Erfahrungssatz des täglichen Lebens ausgeht, den es so nicht gibt. Hier war das LG offenbar von einem Erfahrungssatz ausgegangen, der in etwa lautet: Wer mit dem Auto 2,5 km nach Hause fahren kann, kann auch eine Berufungsschrift fertigen und faxen. Dies ist aber so nicht haltbar. Vielmehr ist es ohne weiteres denkbar, dass P. die Heimfahrt nur deswegen unfallfrei geschafft hat, weil ihm die Wegstrecke gut bekannt war. Weiterhin ist es vorliegend mehr als wahrscheinlich, dass P. nur noch das Ziel hatte, irgendwie nach Hause zu kommen, wofür auch spricht, dass er nicht einmal die Beleuchtung in der Kanzlei ausgeschaltet und auch nicht die Computer heruntergefahren hatte.

Fazit: Man muss also bei einer gerichtlichen Beweiswürdigung immer prüfen, ob ihr nicht ein Erfahrungssatz zu Grunde liegt, der bei näherer Betrachtung gar nicht haltbar ist. Wenn die Entscheidung darauf gestützt worden ist, kann sie der Aufhebung unterliegen.